Im ersten Moment bleibt Reto Stamm die Spucke weg. 14.90 Franken für einen Laufschuh - das darf doch nicht wahr sein! Dann beruhigt sich der Sportversteher wieder. Schnappt sich einen der mausgrauen Treter, winkt eine Verkäuferin heran und kommt verbal knackig aus den Startblöcken: «Was kann dieser Schuh?»
Reto Stamm wandelt auf Neuland. Im neuenburgischen Marin-Epagnier inspiziert der Inhaber des Winterthurer Sportfachgeschäftes Total Sport und Betreiber des Online-Shops Sportliquidation.ch die erste Filiale des französischen Sportfachmarktes Decathlon («Zehnkampf»), die jüngst auf helvetischer Erde eröffnete. Wie macht sich der 10-Milliarden-Euro-Riese en Suisse? Muss der hiesige Sporthandel zittern vor dem französischen Muskelprotz?
Ground-Zero-Preise
Im Falle des Laufschuhs für 14.90 Franken kaum. «Fürs Running eignet sich der Schuh weniger», hört Stamm von der Verkäuferin, «eher fürs Gassigehen mit dem Hund.» Der Winterthurer hakt nach: «Auch im Regen? Goretex drin?» - «Nein, für Regen eher ungeeignet.» Wofür der Sportschuh Kalenji Ekiden One hingegen geeignet ist: Konsumenten nach Luft schnappen zu lassen.
In vielen Sportarten trumpft Decathlon mit einem Produkt zum schier unglaublichen Einsteigerpreis auf. Eine merkantile Massnahme, damit allen, Kunden wie Wettbewerbern, die Luft wegbleibt. Ein Preis wie ein Stromstoss. Ein Preis, der sagt: Das können nur wir, sonst keiner. Solche Artikel der Preisklasse Ground Zero - sie sind als «Premier Prix Technique» ausgezeichnet - finden sich alle paar Meter. Der Rucksack für 3.50 Franken. Der Kinder-Velohelm: 5.90. Das Yoga-T-Shirt: 5.90. Stamm tastet und drückt, prüft und erfühlt. Und befindet: «Die Produkte zum Einsteigerpreis sind liebloser Schrott.» Tand sei das, bestenfalls für Leute geeignet, die eine Sportart auf tiefstmöglichem Nenner ausprobieren wollen.
«Kein Sportsgeist spürbar»
Sport-Veteran Stamm (55), fasst die Ambiance im von Hochregalen dominierten Shop zusammen: «Keine sportliche Emotion in der Ladengestaltung, kein Sportsgeist spürbar, man fühlt sich wie im Baumarkt.» Dann nimmt er sich die Produkte aus der höheren Preisklasse vor. Der Mann aus Winterthur, der in seinem Geschäft sommers auf Running und Bike, im Winter auf Ski und Snowboard spezialisiert ist, probiert den Running-Schuh Kalenji Kiprun SD für 84.90 Franken. Und brummt anerkennend: «Guter Halt, stabile Stütze im Mittelfussbereich, akzeptable Sohle.»
Ein Eindruck, der sich bei anderen Decathlon-Eigenmarken der mittleren Kategorie verfestigt: «Der Schuss aus der zweiten und dritten Preisreihe sitzt - preislich und qualitativ.» Ob das die Kunden merken? Der Unterschied zum Fachgeschäft, sagt Stamm, sei, «dass hier die Mitarbeiter ihren Kunden die Vorteile nicht richtig erklären können».
Ein weiterer Unterschied zu Sport-XX, Ochsner Sport, Intersport und wie die Schweizer Player alle heissen: Decathlon planiert sein Terrain mit Markennamen, die man nie an den Füssen von Sport-Ikonen sieht. Nur selten begegnet Sport-Späher Stamm den drei Adidas-Streifen, dem Nike-Swoosh oder der Puma-Raubkatze. Wenn sie auftauchen, bleibt Stamm gut Luft zum Atmen: «Oft keine 10 Prozent unter regulären Preisen.»
Namen wie Pizzasorten
Gefühlte 90 Prozent aller Artikel sind mit Fantasienamen ausgezeichnet, mit Decathlon-Dachmarken, die an exotische Inseln oder neue Pizzasorten erinnern: Kalenji für Schuhe, Kipsta für Funktionswäsche. Fouganza für Bergsport, Artengo für Tennis, Domyos für Yoga und Gymnastik. Das ist Kalkül: Der grösste Teil der Decathlon-Palette ist unvergleichlich. Und also preislich unvergleichbar.
Stamms Befund: «Das ist kein Sportmarkt. Das ist ein Margen-Tiger.» Seine Rechnung: «Wenn ein Sportschuh in der Produktion 10 Dollar kostet, dann geht der als Markenschuh regulär für 150 Franken über den Tisch.» Daran, so Stamm, verdiene der Sportfachhändler etwa 75 Franken, «die braucht er für sein Fachpersonal und seine allgemeinen Geschäftskosten, er kalkuliert also mit einer Bruttomarge von 100 Prozent.» Bei Decathlon hingegen koste der 10-Dollar-Schuh als Eigenmarke 85 Franken: «Die Franzosen kontrollieren die ganze Lieferkette, arbeiten ohne teure Marke und dürften so mit einer Bruttomarge von 600 bis 800 Prozent ins Ziel kommen.»
Pläne, über den Röstigraben zu setzen?
Kommen die Kunden bei Decathlon ins Ziel, erfolgt eine Abrechnung in Hightech: Der Check-out-Bedienstete wirft die eingekauften Artikel in einen Behälter - sofort erscheint der Totalbetrag auf dem Kassen-Display. Decathlon-Artikel sind mit RFID-Etiketten, winzigen Funk-Chips, versehen, die im Kassenbehälter einen elektronischen Daten-Sprint hinlegen.
Angst müsse man auch davor nicht haben, sagt Stamm: «Wer als Fachhändler für Emotionen sorgt im Laden, Personal ausbildet, seine Kunden kennt und ihnen Beratung, Qualität und Service anbietet, muss nicht zittern vor Decathlon. Eher schon Fachmärkte wie Athleticum.»
Der Winterthurer Store-Checker glaubt, dass Decathlon über den Röstigraben setzen wird. Im besten Fall mit Filialen in Basel und der Region Bodensee: «Denn so könnten Franken-Flüchtlinge vor dem Auslandeinkauf abgefangen werden. Im schlechtesten Fall fährt Decathlon die Preise an guten Innenstadtlagen in den Boden.» Oder in die gefährliche Mitte.