René C. Jäggi läuft derzeit jeden Morgen. Bis zu zehn Kilometer, wenn es die Zeit zulässt. «Ich will diesen Schmerz. Ich muss mich kasteien, damit ich mich wieder spüre», sagt der 55-Jährige. Essen, Erfolge und Bewunderung hätten ihn zuletzt träge gemacht: «Ich bin faul geworden und habe begonnen, Selbstmitleid und Frustration zu entwickeln.» Jäggi hält sich nicht mehr aus.
In Kaiserslautern in der Pfalz, zweieinhalb Autostunden von Basel entfernt, trägt man ihn seit dem letzten, denkwürdigen Jahr auf Händen. René C. Jäggi hat innerhalb von zehn Monaten ein marodes, zerstrittenes Fussballunternehmen saniert. Im letzten Jahr hat der Basler den Bundesligisten 1. FC Kaiserslautern gerettet, der oben auf dem Betzenberg in einem Stadion logiert, das alle Kirchen der 99 000-Seelen-Stadt überragt. Das 100-Personen-Unternehmen steht derart im Schaufenster der Medien wie sonst nur ein internationaler Multi. Der FCK wird Woche für Woche vor, während und nach Spieltagen durchleuchtet, analysiert, gefeiert oder abgestraft.
Kein Wunder, kennen ihn in der Pfalz alle. Jäggi ist ein Volksheld. Wildfremde Menschen umarmen ihn. Ein Anhänger des Fussballvereins Kaiserslautern bringt ihm nächtens vor dem Hotel Fan-Lieder dar.
Doch nun will «der René» gehen. Ende Juni läuft sein Vertrag als vollamtlicher Vorstandsvorsitzender des Vereins aus. Der umschmeichelte «Herr Jäggi» wird nicht verlängern. Das kann kein Pfälzer verstehen.
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Das Spielfeld
Das haben vor ihnen auch die Basler kaum begriffen. Im Juli 2002, exakt als sich der Schweizer Fussballmeister und Cupsieger FC Basel daranmacht, den europäischen Wettbewerb Champions League zu erobern, verlässt René Jäggi seine Heimatstadt. Nach einigen Telefonaten zieht ihn eine Mischung aus Abenteuerlust und Langeweile aus einem gemachten Nest nach Kaiserslautern. Jäggi sei nie daran interessiert, Erfolge zu bestätigen, sagt ein Freund. Er suche stets das Neue.
René Jäggi macht sich im Juli 2002 auf Schwierigkeiten gefasst. Er weiss, dass die Fussballbranche in einer Krise steckt. In Deutschland ist das Medienimperium Leo Kirchs zusammengebrochen. Deshalb sinken die an die Klubs weitergereichten TV-Gelder dramatisch. Parallel dazu kommt der Transfermarkt für Spieler zum Erliegen. Für die Klubs versiegt damit ein weiterer Ertragsstrom. Ein Desaster, denn die Fixkosten für Spielersaläre bleiben hoch.
In Kaiserslautern ist dies nur die Spitze des Eisbergs. «Der René hat gar nicht gewusst, was in Kaiserslautern alles auf ihn zukommen wird», sagt einer seiner engsten Geschäftspartner rückblickend. Er bezeichnet Jäggi als vernetzten Manager und Turnaround-Spezialisten. Jäggi ist bei Investoren in der Schweiz, Deutschland, Grossbritannien und den USA als Frontmann bekannt – sie kaufen ein marodes Unternehmen, er verrichtet den schwierigsten Teil der Turnaround-Arbeit. Der Dealmaker kommt und geht, Jäggi bleibt. Jahrelang. Im Fussballjargon ausgedrückt: Jäggi ist kein offensiver Schönspieler, eher ein Dauerläufer und defensiver Malocher. Die Fans des Traditionsklubs FCK lieben diesen Typus Spieler.
Eine Inschrift in der drunten in der Stadt versteckten Stiftskirche Kaiserslautern mahnt: «Seid fleissig, zu halten die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens.» Davon ist weiter oben auf dem Betzenberg beim FCK im Sommer 2002 nichts zu spüren. Der Verein hat erbittert geführte Grabenkämpfe zu ertragen. Allen voran Aufsichtsratspräsident Robert Wieschemann sowie der Vorstandsvorsitzende, Jürgen Friedrich, sehen sich einer Oppositionsbewegung und gleichzeitig einem wachsenden Schuldenberg gegenüber. Die Pfalz ist mit ihren knapp 110 000 Einwohnern klein. Jeder kennt hier jeden. Bankkredite sind zum Teil nur mit einzelnen bürgenden Personen verbunden. Sicherheiten fehlen.
Hier kann Sanierer und Fussballspezialist René C. Jäggi seine Stärken ausspielen. Er ist unabhängig – und trotzdem kennt man ihn. Jäggi ist in Deutschland von seiner Zeit bei Adidas her ein Begriff. Ausserdem hat er 1994 im nahen Trier die Schuhproduktionsfirma Romika gekauft und in die schwarzen Zahlen geführt. Das hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Kurt Beck, sagt über Jäggi: «Bei Romika hat Herr Jäggi eine beachtliche Managerleistung vollbracht.» Das eingeschriebene FCK-Mitglied Beck ist es, der mit anderen und hinter den Kulissen Jäggi forciert. Er hat einen guten Grund: Sein Land hat Kredite im maroden Klub stecken.
Spielbeginn
Am Abend des 24. August 2002 entlässt der Aufsichtsrat des FCK den bisherigen Trainer, Andy Brehme. Dessen Mannschaft ist Tabellenletzte der Deutschen Bundesliga. Die fussballerischen Darbietungen auf dem Betzenberg sind jämmerlich. Der bisherige Vorstandsvorsitzende, Jürgen («Atze») Friedrich, geht ebenfalls. Jäggi, zunächst als Berater aktiv, wird «Notvorstandsvorsitzender».
Als Jäggi Ende August nur widerstrebend das Vollamt antritt, ist der Verein überschuldet. 4,8 Millionen Euro Eigenkapital steht ein veranschlagter Verlust von mehr als 9 Millionen Euro gegenüber. Die Insolvenz droht.
Der Vorstandsvorsitzende Jäggi drückt aufs Gaspedal. Er pendelt zwischen Basel, wo seine Familie lebt, und Kaiserslautern hin und her und telefoniert immerzu.
Als Erstes nimmt er Ministerpräsident Kurt Beck und das Land Rheinland-Pfalz in die Pflicht. Bei einem Treffen in Mainz entwickeln Jäggi und Beck die Lösung. Jäggi verpfändet den künftigen Transfererlös am FCK-Nationalspieler Miroslav Klose bis Sommer 2005 bei der staatlich kontrollierten Lotto Rheinland-Pfalz GmbH. Für das Pfand erhält Jäggi ein Darlehen von fünf Millionen Euro. Ausserdem erwirkt Jäggi Landesgarantien für einen Bankkredit über 21 Millionen Euro, mit dem er eine neue Osttribüne fertig stellen kann.
Ministerpräsident Kurt Beck sagt heute: «Herr Jäggi hat die Anlagen, die für den Erfolg wichtig sind. Er hat einen ausgeprägten Sachverstand in wirtschaftlichen und finanziellen Dingen. Ausserdem ist er eine Persönlichkeit, die eine intensive Kraft ausstrahlt.» Nur so ist zu erklären, dass Jäggi seine Profifussballer überzeugen kann, auf total 1,5 Millionen Euro Lohngelder bis Sommer 2003 zu verzichten.
In diesem Moment erscheint der FCK wirtschaftlich ausbalanciert. Jäggi meint nach zwei Monaten Hotelzimmerleben in Kaiserslautern, dass er seine Schuldigkeit getan habe. Geschickt lässt er dies in den Medien anklingen. Am 9. Oktober 2002 schreibt «Sport-Bild»: «Neuer Millionen-Kredit! Aber Jäggi spricht schon wieder von Abschied.» Dabei ist dies erst der Anfang.
Teamsitzung
In den folgenden Nächten studiert René Jäggi die Anstellungsverträge des Profikaders. Ein Beispiel aus einem der Kontrakte: Der FCK sichert seinem Professional Youri Djorkaeff einen Jahreslohn von 600 000 Mark zu; für Spieler der Klasse Djorkaeffs im internationalen Vergleich bescheiden. Die Abgeltung für die Vermarktung lässt sich der Kicker jedoch während dreier Jahre mit 11,8 Millionen Mark vergüten und auf ein Schweizer Bankkonto überweisen. Das riecht nach verdeckten Lohnzahlungen. Die Vertragsunterschriften sind meist jene der bisher starken Männer des FCK: Friedrich, Wieschemann, Gerhard Herzog und die einiger anderer.
René Jäggi beschliesst, Hilfe anzufordern. Damit setzt er neben eigener Tempofestigkeit, Erfahrung und Unabhängigkeit auf einen weiteren Faktor, der zum Erfolg der Sanierung führen wird: Jäggi bildet sein Team.
Der Basler hat eine seltene Gabe – er ist ein kooperativer Tyrann. Er vereint die Gegensätze eines machtbewussten Einzelgängers und eines einfühlsamen Teamplayers in sich. «Ich will die Besten», sagt er zum neuen Aufsichtsratsvorsitzenden, Walter Ruda, Professor für Rechnungswesen in Saarbrücken, der den inzwischen definitiv abgetretenen Wieschemann ersetzt.
Jäggi präsentiert die seltsamen Verträge dem führenden Anwalt für Wirtschaftsrecht im Fussballwesen, Christoph Schickhardt aus Ludwigsburg. Schickhardt sagt kryptisch: «Die Verträge, die mir Herr Jäggi vorlegte, schienen mir nicht unproblematisch zu sein.»
Schickhardt führt Jäggi mit Professor Egon Müller in Saarbrücken zusammen, einem der führenden deutschen Experten für Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht. Müller prüft die Unterlagen. Heute sagt er: «Nach 15 Minuten war mir klar, dass ich tätig werden musste. Die Verträge rochen. Ich riet Herrn Jäggi, mit dem Finanzamt Kontakt aufzunehmen. Seither führe ich Herrn Jäggi die Hand.»
Zusammen mit dem Ende November hinzugezogenen Vertreter der Beratungsfirma PricewaterhouseCoopers aus Saarbrücken ist das Kaiserslauterer Sanierungsteam im Herbst 2002 komplett: Aufsichtsratsvorsitzender und Bilanzexperte Ruda, Fussballanwalt Schickhardt, Strafrechtler Müller, Vorstandsvorsitzender Jäggi und für die sportlichen Belange der von Jäggi bestellte belgische Trainer Eric Gerets sind an Bord.
Im November schaltet Jäggi das Finanzamt Kaiserslautern ein. Es stellt sich heraus, dass der FCK seit bald einem Jahr auf einer Zeitbombe sitzt. Steuernachforderungen erscheinen unausweichlich. Die inzwischen verbal scharf auf Jäggi feuernden Friedrich und Wieschemann behaupten das Gegenteil. Indes: Selbst wenn Jäggi und die Spieler im November 2002 nicht Selbstanzeige erstatten würden, müsste das Finanzamt intervenieren.
Damit droht ein zweistelliges Millionenloch in der Bilanz. Jäggi zweifelt zum ersten Mal am Erfolg seiner Mission. Doch er lässt sich nichts anmerken. Nur mit seiner in Basel gebliebenen Ehefrau Rita spricht er offen.
Im Herbst 2002 ist die Lage des FCK trostlos. Jäggi hat das Finanzamt im Nacken, sieht die drohende Überschuldung, liest in den Medien ausgebreitete Klubintimitäten und wird von ausgebooteten Kaderleuten angefeindet. Der FCK erlebt eine sportlich katastrophale Periode mit elf Spielen ohne Sieg. Jäggi will den Trainer partout nicht entlassen. Die Medien und die Fans drängen ihn. Nachfolger stehen bereit. Aber Jäggi hält aus.
Er sagt zwar: «Der Druck der Medien macht mir nichts aus.» Doch ein ehemaliger Sportlehrer berichtet, dass Jäggi im kleinen Kreis durchaus sensibel auf Unwahrheiten reagiert. Kritik trifft den vor Kraft strotzenden Mann tief. Aber Jäggi versteht es, zu abstrahieren. Er sagt Sätze wie diesen: «Das öffentliche Anprangern von Winnern und Losern verdirbt den Charakter von Fussballmanagern. Wenn man in Zugzwang gerät, beginnt man, strategische Fehler zu begehen.»
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Jäggi ist ein emotionaler Taktiker: Er zeigt Gefühl und kann gleichzeitig kühl rechnen. Vor dem zwölften Spiel treffen Jäggi und Schickhardt Trainer Gerets. Verliert dessen Mannschaft am Samstag, so ist der Abstieg perfekt und eine wirtschaftliche Rettung des Vereins nicht mehr möglich. In der zweiten Liga werden die Ertragsflüsse zu mickrigen Rinnsalen. 44 Millionen Euro gross würde das Loch in der FCK-Bilanz. Das hat die Deutsche Fussballiga errechnet. Jäggi, Schickhardt und Gerets verbringen die ganze Nacht diskutierend.
Am Folgetag gelingt es dem Trainer, seiner Fussballmannschaft den Ernst der Lage so zu schildern, dass sie im Spiel kämpft, als ginge es um ihr Überleben. Der FCK gewinnt. Nach der Partie weint der Trainer an Jäggis Brust.
Zwar ist der FCK noch immer Tabellenletzter, aber für René Jäggi ist die Rettung greifbar: «Von diesem Moment habe ich gewusst, dass wir es schaffen.» Jäggi rechnet fortan den Banken wie ein euphorisierter Toto-Wettender alle Spiele und Punktgewinne bis Saisonende vor: Er kommt auf vierzig Zähler. Irritierend ist, dass sich selbst nüchternste Banker von der irrationalen jäggischen Arithmetik überzeugen lassen. Jäggi beherrscht die Klaviatur der Gefühle.
Ist er ein Menschenfänger? «Das habe ich mich auch gefragt, als ich ihn zum ersten Mal getroffen habe», erzählt Anwalt Schickhardt. «Nein, er ist gründlich und substanziell. Völlig gradlinig. In rechtlicher und finanzieller Hinsicht völlig korrekt. Da gibt es keine Unebenheiten. Er ist ein harter Taktiker, dabei aber nie schroff.»
Der Trumpf
Den entscheidenden Trumpf zückt der FCK im Februar. Über Neujahr hat Jäggi den Coup vorbereitet. Er weiss schon vor seinem Amtsantritt, dass er ihn im Ärmel hat: Der FCK ist als letzter Bundesligist im Besitz des bespielten Stadions. 2006 sollen darin vier Begegnungen der Weltmeisterschafts-Endrunde stattfinden, des weltweit wichtigsten Sportereignisses. Das Fritz-Walter-Stadion auf dem Betzenberg und die anstehende WM sind Jäggis Faustpfand.
Jäggi ist bereit zu veräussern. Der Aufsichtsrat um Walter Ruda unterstützt ihn dabei. Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» schreibt in vorwurfsvollem Ton: «In der Not würde Jäggi sogar das Stadion verkaufen.» Als ob der Schweizer die Seele des Klubs verschachern würde. Das werfen ihm von nun an Kritiker vor – und werden vielleicht dereinst gar Recht erhalten. Dabei nimmt sich Jäggi im Januar 2003 nur vor, was die meisten Konzernchefs in diesen harten Zeiten tun: Sie konzentrieren sich aufs Kerngeschäft. Auf den Fussballsport und das Merchandising. Das Betreiben eines Stadions gehört nicht dazu.
Ab 6. Februar 2003 beginnen in Kaiserslautern die finalen Sanierungsverhandlungen. Eine Task-Force mit Jäggi, Schickhardt, Ruda und Klubfinanzchef Göbel trifft dreimal in einer rund zwanzigköpfigen Runde auf Vertreter von fünf Banken, der Sponsoringpartner, der Stadt Kaiserslautern und des Landes.
So sieht Jäggis Idee aus: Der FCK verkauft das Stadion und das Nachwuchs-Leistungszentrum Sportpark Rote Teufel an eine neu zu gründende, städtische Gesellschaft. Diese verpachtet die Anlage für 15 Jahre an den FCK zurück. Mit dem entrichteten Preis deckt der FCK seine für zwei Jahre budgetierten Defizite (27 Millionen Euro) inklusive Steuerschuld. Er begleicht zudem in einem komplizierten Abtauschverfahren unter Gläubigern die angelaufenen Schulden (37 Millionen Euro). Jäggis Team kommt zum Schluss, dass der Preis bei 64 Millionen Euro stehen muss.
Was hätte die neue, städtische Gesellschaft von einer derartigen Übernahme? Die Käuferseite könnte die Nutzungsbestimmungen im Zonenplan ändern und eine Bewirtschaftung des Stadions zulassen. Restaurants, Hotel, Einkaufscenter entstünden.
Doch die FCK-Gläubiger sind untereinander uneins. Sie müssen bei Umsetzung des Jäggi-Planes zuallererst auf erteilte Kredite verzichten. Jäggi selber steht unter Zeitdruck. Erstens ist der Klub theoretisch bereits Anfang Februar überschuldet. Jäggi hat innerhalb von drei Wochen den Insolvenzantrag zu stellen, will er sich nicht strafbar machen. Zweitens verlangt die Bundesliga, spätestens am 15. März alle Unterlagen einsehen zu können. Wer die Daten zu spät einsendet, steigt ab.
Jäggi erhöht via Medien den Druck auf die Verhandlungspartner. Am 14. Februar gibt er «Bild» ein Interview. Die Zeitung titelt: «Jäggi sicher – Keiner will Lautern sterben lassen.»
So steigt er am Mittwoch, dem 19. Februar, in die zweite grosse Sitzung. Das Treffen beginnt um 15 Uhr in der Geschäftsstelle des FCK auf dem Betzenberg. Die Stimmung ist schlecht. Es gibt Anwesende, die Jäggi unverblümt den Gang in die Insolvenz raten. Es ist ein Schachern und Gezerre. Die Banken finden sich nicht. Von zu unterschiedlicher Qualität sind ihre Bürgschaften.
Jäggi skizziert wiederholt den Plan, Schickhardt assistiert. Einmal sagt der Anwalt: «Gut, meine Herren, dann lassen wir das jetzt alles platzen und sehen uns wieder bei der Versteigerung des Betzenberges im Zimmer 314 des Amtsgerichts.» Im Raum wird es für einen langen Moment still.
Der Aufsichtsratsvorsitzende, Ruda, ein geborener Kölner, bricht die Ruhe und appelliert an den regionalen Stolz. Redet vom pfälzischen Zusammenstehen.
Alle Details, alle Schulden kommen auf den Tisch. Schickhardt erinnert sich: «Es gab Situationen, da fragte ich, müssen wir das jetzt sagen? René Jäggi aber sagte: ‹Das lassen wir raus. Alle müssen alles wissen. Absolute Transparenz.›»
Der Schweizer spielt mit offenen Karten. Das beeindruckt die Gesprächspartner. Dies – und seine Risikofreudigkeit. Man fragt sich: Woher nur stammt dieser ausserordentliche Wagemut?
Jäggi hat die höchste Form der Erniedrigung bereits erlebt. 1992 ist er bei Adidas als CEO zurückgetreten, ist nach sechs Jahren Sanierungsprogramm gegangen, nur wenige Wochen bevor dieses endgültig zu wirken beginnt. Zuvor erledigt er einen «unmenschlichen Job», streicht 6000 von 14 000 Stellen. Die Lorbeeren für den Turnaround holen sich andere. Jäggi wird nach seinem Abgang von Adidas in der Schweiz medial hart bestraft. Er taucht zwei Jahre ab.
Doch nun verhandelt er in Kaiserslautern. Dort steht am 20. Februar um drei Uhr morgens fest: Die Banken, das Land und die Stadt signalisieren Zustimmung. Aber sie behalten sich eine Rücksprache in den Zentralen vor. Man einigt sich für telefonische Zusagen auf den nächsten Tag bis spätestens zwölf Uhr mittags. Doch die Zeit verrinnt, und die Telefone bleiben still. Zum Durchbruch kommt es erst am Nachmittag. Das erlösende Gespräch findet mit dem Staatssekretär des Finanzministeriums von Rheinland-Pfalz statt. Dieser sagt: «Herr Jäggi, das kriegen wir noch hin.» Für Anwalt Schickhardt reicht das. Jäggi lässt das Gespräch protokollieren. Es kann weitergehen.
Das Nachspiel
Am 11. Juni 2003 geht das Stadion für 64 Millionen Euro an die neue städtische Unternehmung. Das Land Rheinland-Pfalz und die Stadt Kaiserslautern bauen ab 2004 für zusätzliche 27 Millionen Euro die neue Westtribüne. Die Osttribüne ist schon fertig gestellt.
Es passt ins Bild, dass die Gefühle Jäggi nicht getäuscht haben. Im Sommer grüsst der FCK mit vierzig Punkten weiterhin als Bundesligist. Ausserdem bringt Trainer Eric Gerets die Mannschaft bis ins Cupfinale nach Berlin. Dort singen 25 000 Klubanhänger während eines erbärmlich schwachen Spiels unentwegt. Sie freuen sich, dass ihr Klub noch lebt. Jäggi strahlt auf der Tribüne.
Die Sanierung ist geschafft – beinahe.
Die Diskussionen über Schuld und Sühne sind in Kaiserslautern nicht verebbt. Im Februar wird die Staatsanwaltschaft gegen Wieschemann, Friedrich und Herzog strafrechtliche Anklage erheben. Dreizehn Punkte befassen sich mit Steuerhinterziehung und Untreue.
Darüber will Jäggi nicht reden. «Das geht mich nichts an», sagt er. Jäggi konzentriert sich auf anderes. Auf den permanenten Kampf gegen einen weiterhin verhängnisvollen Abstieg. Auf die Überführung des Profibetriebes in eine Kapitalgesellschaft. Im Sommer will er gehen.
Ob er es ist, der später die neue Kapitalgesellschaft lenken und befreundete Investoren mitbringen wird, wie ihm dies seine wenigen Kritiker bereits heute präventiv vorwerfen, ist zu bezweifeln. Ein Stadion führen? Oder einen sportlich mittelklassigen Verein leiten ohne Aussicht auf anhaltende Spitzenresultate? Das garantiert für einen wie Jäggi zu wenig Adrenalinausstoss.
Er muss sich spüren. Er wird sonst faul. Er sagt: «Sobald ich mich zurücklehne, stimmt meine Leistung nicht mehr. Wenn ich den Abgrund sehe, dann bin ich gross. Dann schaffe ich es.»
Jäggi wird Kaiserslautern verlassen. Es wartet ein neuer Abgrund.