BILANZ: Wie breit ist die Lohnspanne im Seco?
Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch: 1:6. Der tiefste Lohn liegt bei 65 900 Franken, der höchste bei 372 000.
Mit der 1:12-Initiative sollen die Reichen weniger erhalten. Diese Dimension ist neu. Wie gefährlich ist sie?
Die 1:12-Initiative ist der falsche Weg. Um Ungleichgewichte auszutarieren, haben wir heute schon mit unserem Lohnsystem sowie mit Steuern oder Sozialtransfers gute Instrumente. Dort muss man ansetzen und nicht bei den Löhnen einiger weniger, die nicht einmal ein Prozent der Erwerbstätigen ausmachen.
Aber niemand kann für exorbitante Löhne sein. Wie bringen Sie das dem Stimmbürger bei?
Das ist nicht einfach. Die Lohnexzesse einer Minderheit haben eine starke Auswirkung auf die Wahrnehmung von Managerlöhnen generell. Unser Ziel muss sein, den Stimmbürgern die negativen Auswirkungen einer solchen Initiative klar aufzuzeigen. Ich habe ein gewisses Verständnis für den Groll von Arbeitnehmern, wenn neue Details über noch höhere Löhne bekanntwerden. Aber nur weil sich einige wenige über gewisse moralische und ethische Grenzen hinwegsetzen, dürfen wir nicht unser komplettes erfolgreiches System in Frage stellen.
Was würde die 1:12-Initiative generell für den Wirtschaftsstandort Schweiz bedeuten?
Das Gefährlichste ist der Eingriff in den Arbeitsmarkt. Der Staat sollte nicht vorschreiben, wie hoch der Lohn in einem Unternehmen zu sein hat. Das entspricht auch überhaupt nicht unserer Tradition eines liberalen Arbeitsmarktes. Diese Tradition hat sich als sehr erfolgreich erwiesen, insbesondere wenn ich das mit unseren Nachbarstaaten vergleiche. In der Krise ist die Arbeitslosigkeit in diesen Ländern stark gestiegen.
Und für die multinationalen Unternehmen?
Viele dieser multinationalen Konzerne bringen der Schweiz eine grosse Wertschöpfung. Sie werden sich bei einer Annahme der 1:12-Initiative oder auch anderer wirtschafts- und standortrelevanter Initiativen überlegen, welche Konsequenzen sie daraus ziehen. Darunter könnten auch Wegzüge oder Verlagerungen von Unternehmenseinheiten fallen. Zudem könnten aus- ländische Unternehmen, die einen neuen Standort suchen, durch die Einschränkungen bei den hohen Löhnen abgeschreckt werden und sich gar nicht erst in der Schweiz niederlassen. Es wären unweigerlich Arbeitsplätze gefährdet.
20 der 28 EU-Länder kennen einen Mindestlohn. Gewerkschaften fordern auch einen für die Schweiz, Sie sind dagegen. Haben Schweizer Arbeitnehmer kein Recht darauf?
Das ist nicht die Frage. Wir haben einen anpassungsfähigen, flexiblen Arbeitsmarkt, der auch Personen mit niedrigen Qualifikationen Arbeit und damit eine Perspektive ermöglicht. Ein Mindestlohn torpediert dies. Es ist eine Frage der Gerechtigkeit: Welchen Lohn soll ein Mensch bekommen, um ein Leben in Würde bestreiten zu können? Für dieses Ziel habe ich Verständnis, aber das Instrument des gesetzlichen Mindestlohns ist das falsche. Ich bin der Meinung, der Weg über die Sozialpartnerschaft, wie wir sie in der Schweiz pflegen, ist der richtige. Damit haben wir, zusammen mit dem Steuersystem und den Sozialtransfers, das Ziel der Einkommensgerechtigkeit im Vergleich zu anderen Ländern relativ gut erreicht.
Immerhin leben in der Schweiz 600 000 Menschen unter dem Existenzminimum.
Die Zahl würde bei Annahme der Mindestlohninitiative wohl noch steigen. Ein Mindestlohn würde Stellen, in denen man aus regionalen Gründen oder branchenbedingt weniger als 4000 Franken verdient, etwa im Gastrobereich oder dem Tourismus, gefährden. Vor allem Junge und Niedrigqualifizierte könnten dies zu spüren bekommen. Ausserdem vermindert sich mit einem Mindestlohn der Anreiz, sich aus- und weiterzubilden.
Die liberale Schweizer Tradition wird mit mehreren Initiativen auf einmal torpediert. Weshalb jetzt?
Ich denke, dass bei Teilen der Bevölkerung ein diffuses Unbehagen besteht, ein Gefühl, dass Leute vom Arbeitsmarkt verdrängt werden, etwa in Zusammenhang mit der Krise, der Globalisierung und der Personenfreizügigkeit. In diesem Zusammenhang sucht man wohl eine gewisse Sicherheit. Aber ich bin überzeugt, dass das nicht der richtige Weg ist. Druck und Wettbewerb sind teilweise gestiegen. Diese Ängste versuchen gewisse Kreise zu bekämpfen, indem sie regulieren wollen. Ich verstehe diesen Reflex, aber er ist schädlich.