Es ist, als würden wir den Bodenkontakt verlieren, wenn wir das erste Mal mit MBT-Schuhen (Masai Barefoot Technology) laufen. Oder als würden wir auf einem Ball balancieren. Und genau das ist die Idee, die MBT-Erfinder Karl Müller verfolgt. «Das radikale Wegfallen der Stütze führt zu Kompensationsbewegungen», sagt Müller in seinem Büro in Roggwil TG am Bodensee. So werden Muskeln trainiert, die wir sonst vernachlässigen. Eigentlich seien unsere Gelenke fürs Laufen auf weichen Böden gebaut, meint er. Wenn man etwa am Strand läuft, werden klar mehr Muskeln beansprucht. Und Asphalt sei ja eine relativ neue Erfindung. MBT liegt also eine philosophische Idee zu Grunde: Befreie den Menschen von seinen Krücken, damit er wieder bei sich selbst ankommt.

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Vor sieben Jahren sagte Müller einem Journalisten, dass seine Masai Barefoot Technology einmal bedeutender als Nike sein werde. Als Folge hat man ihn für verrückt erklärt. Dann erhielt er Drohbriefe von Ärzten, weil er MBT als Gesundheitsschuh anpries. Ein Gesundheitsschuh müsse stützen, hiess es damals.

Danach kontaktierte er den Fussballtrainer Andy Egli, weil dieser unter Achillesproblemen litt. Egli war zufrieden mit dem Schuh. Karl Müller rüstete ihn mit MBT aus und durfte als Gegenleistung sein Foto in einem Inserat verwenden. Danach entwickelte sich, was der Autor Malcolm Gladwell als «tipping point» bezeichnet: der irrationale Moment, in dem sich ein unbekanntes oder totgesagtes Produkt epidemisch zu verbreiten beginnt.

Denn nicht nur das Laufen mit dem MBT-Schuh ist Schwindel erregend, auch das Wachstum ist es: Seit 1998 konnte Karl Müller seinen Umsatz jährlich verdoppeln. Allein im letzten Jahr hat er 500 000 Paar verkauft, davon 20 000 Paar in den USA, wo er mit dem Vertrieb vor knapp zwei Jahren angefangen hatte. Auch England, Deutschland, Korea und Österreich sind wichtige Absatzmärkte.

Die meisten grossen Medien haben über MBT berichtet: «New York Times», «Daily Mail», «Sunday Times» und «Financial Times». Arnold Schwarzenegger, Maria Shriver, Glenn Close, Evander Holyfield, Bono von U2 sind alle MBT-Träger. Anfangs wurden die Schuhe in den USA nur online verkauft, was in Anbetracht der notwendigen Fachberatung aber problematisch war. Immerhin konnten sich Kunden des Online-Portals www.bliss.com bei einem lokalen Händler instruieren lassen. Nun hat die Retail-Kette Footsolutions MBT-Schuhe als Hauptprodukt aufgenommen, mit dem sie bereits 50 Prozent des Umsatzes macht. Mittlerweile gibt es in den USA 200 solcher Shops, pro Monat kommen zwei dazu.

Heute sind MTB-Schuhe ein Produkt der Medizinklasse 1, das von Ärzten und Physiotherapeuten empfohlen wird. Ein Allheilmittel? Fast könnte man es meinen, wenn man hört, wogegen MBT prophylaktisch wirken soll: Rücken-, Knie- und Hüftleiden, Sehnenprobleme, Spreizfuss, Cellulitis, allgemeine Probleme am Bewegungsapparat. Der schmerzhafte Gang im Alter sei ein Riesenproblem, sagt Müller, der mit seiner Firma Mitsponsor am Aging Forum im September an der HSG sein wird. Die Leute würden älter und zugleich früher krank. In den USA sterben bereits Jugendliche an Übergewicht. Dieses Problem wird irgendwann Europa erreichen. Weder der Wohlfahrtsstaat noch die Krankenkassen werden die Folgekosten übernehmen können, meint Müller. Mit dem MBT nähme die Bewegungslust zu, folglich verbessere sich die Durchblutung.

Was gesund ist, sieht in der Regel nicht sexy aus. So sprechen die dicken Sohlen der MBT-Schuhe nicht jedermanns Stilempfinden an. Die neue Kollektion mit den dünneren Sohlen soll nun weniger nach Gesundheit aussehen. Neben der bisherigen Unisex-Linie wird auch eine Frauen-, Männer- und Kinderlinie angeboten. Solche Innovationen sind notwendig. Die Konkurrenz schläft nicht.

Inzwischen springen nämlich die Global Players auf den Trend auf. Nike Free beruht wie MBT auf dem Prinzip des Barfusslaufens. «Dieselben Leute, die immer gesagt haben, ein Schuh müsse stützen und führen, verkünden nun das Gegenteil», sagt Müller. Aber er fürchtet die Konkurrenz nicht, im Gegenteil, sie spornt ihn an. Die Global Players haben auf Grund ihrer Distributionskanäle und hoher Marketingbudgets zwar weitaus grössere Möglichkeiten. Aber er, Müller, hat die Glaubwürdigkeit. Er ist nicht einfach ein Manager, der heute Turnschuhe und morgen Katzenfutter vermarktet. MBT ist sein Lebenswerk – und es gab sehr wohl ein Leben davor. Seine Biografie könnte kaum abenteuerlicher sein.

Nach einem Studium sowie einer wissenschaftlichen Assistenzstelle an der ETH erhielt Karl Müller ein Stipendium, um in Südkorea die Sprache zu lernen. 1980 wurde nach der Ermordung des koreanischen Präsidenten die politische Situation unsicher; doch Müller wollte in Korea bleiben. Über die Botschaft kam er in Kontakt mit Hoteliers, die jemanden für den Import von Schweizer Produkten suchten. Karl Müller baute die Vertretung für Hero auf, dann für die Käseunion. Er begann, Textilmaschinen und Rossignol-Ski zu importieren. Die Geschäfte liefen rund. Bis er mehrere eigene Firmen, vier Restaurants und 150 Angestellte hatte.

Karl Müller spricht mit ambivalenten Gefühlen über jene Aufstiegsjahre. Es sei alles Schwindel erregend gewesen damals, sagt er. Er habe keine Grenzen mehr gekannt, alles habe sich ums Geld gedreht. Er habe viel getrunken und sei eigentlich nicht glücklich gewesen. Als die Familie daran fast zerbrach und er krank wurde, verkaufte er sein Imperium und gab sich dem einfachen Leben hin. 1990 kam Müller zurück nach Roggwil an den Bodensee, wurde Bauer und Selbstversorger. Er gründete ein Heim für Drogenabhängige. Allmählich wurde aber das Geld knapp.

Auf Grund seiner Rückenschmerzen konstruierte er einen destabilisierenden Schuh, den er beim lokalen Schumacher herstellen liess. Damit sollte man so weich laufen wie auf den koreanischen Reisfeldern. Um seine finanzielle Situation zu verbessern, begann er, aus jenen Einzelanfertigungen eine Marke aufzubauen. Er benannte diese Marke nach den Massai. Das ostafrikanische, barfuss gehende Kriegervolk ist bekannt für seine aufrechte Körperhaltung. Er wollte den Namen der Massai nicht einfach nutzen, ohne den Massai zu nutzen. Er gründete eine Organisation, die sich dafür engagiert, dass die Massai Zugang zu sauberem Wasser haben. Der Pate dieser Organisation ist übrigens Robert F. («Bobby») Kennedy, der stark zum Erfolg von MBT in den USA beigetragen hat.

Eigentlich möge er nach wie vor das einfache Leben, sagt Karl Müller. Deshalb habe er sich auch operativ zurückgezogen. Es sei ihm wichtig, möglichst viel Zeit mit seiner Familie zu verbringen, eine Grossfamilie mit sieben Kindern. Im Geschäft geht er fast nur noch seiner Lieblingstätigkeit nach: der Entwicklung von Innovationen. Wenn es um Forschung geht, kooperiert er unter anderem mit Benno M. Nigg vom Biomechanischen Institut an der Universität Calgary in Kanada. Insgesamt seien rund zwanzig wissenschaftliche Studien über MBT verfasst worden, sagt Müller.

Das Marketing und der Vertrieb sind in Roggwil angesiedelt. Der Hauptsitz der Produktion wiederum ist in Urnäsch im Appenzellerland, wobei eine Tochterfirma in Korea produziert, in der bereits sechzig Leute arbeiten. Die Lederpartien hingegen werden in China und Vietnam hergestellt. Korea sei sehr teuer geworden als Produktionsstandort, meint Müller. Nun macht er sich Gedanken darüber, die Sohlen künftig in der Schweiz herstellen zu lassen. Für die Designstrategie ist ein österreichischer Autodesigner verantwortlich. Die Modelle wiederum werden von einem italienischen Designer gemacht.

Möglicherweise ist Müllers Erfolg mit seiner unkonventionellen Biografie verknüpft. Und mit ihm als Person, dem Pionier, den immer eine unbestimmte Sehnsucht antreibt. Müller kann diese Sehnsucht ins Unternehmertum transferieren – dies ist sein Glück. Er ist möglicherweise der Menschentypus, den der amerikanische Soziologe Robert E. Park als «marginal man» bezeichnet hat: ein Mann zwischen zwei Kulturen, der Schweiz und Korea, ein Unternehmer und Selbstversorger. Ein ruheloser, aber schöpferischer Mensch. Ein Mensch mit innerem Antrieb, stets bemüht, die Welt zu verändern. Es ist kaum ein Zufall, dass wir bei so einem Menschen das Fundamentalste, das Laufen, neu erlernen. Wenn man Müller auf die abrupten Wechsel zwischen Tiefen und Höhen in seinem Leben anspricht, dann sagt er: «Im Kern bin ich immer noch der einfache Mann wie früher, irgendwie bin ich einfach in das Ganze hineingewachsen.»