Jürg Zimmermann ist ein Insider. 350 Mehrwertsteuer-Revisionen hat der Inspektor der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) in den vergangenen Jahren durchgeführt. Sein Wissen ist immens, sein Vortrag im Aarauer «Schachen» souverän, gespickt mit praktischen Beispielen.
Das Publikum, Gewerbetreibende und Unternehmer, die einer Einladung von KPMG zum Thema «Management der Mehrwertsteuerrisiken» gefolgt sind, hört den Ausführungen Zimmermanns zu, dankbar, dass einer auf ihre Probleme einzugehen und alle Fragen klipp und klar zu beantworten versteht. Es macht den Anschein, dass der aus Bern angereiste Inspektor alles auswendig kennt, das Mehrwertsteuergesetz, die Verordnungen und die Wegleitungen, die insgesamt über 2300 Seiten umfassen.
Fast alles: Einmal zögert Zimmermann, als es um Daten, Belege und Leistungsabrechnung geht, ein offensichtlich schwieriger Fall. «Das müsste eigentlich im Artikel XY behandelt sein, oder, Moment, nicht doch eher im Artikel YX ...», sucht er eine Antwort, und schon geht ein Raunen durch den Saal. Selbst die Experten haben ihre liebe Mühe mit der Mehrwertsteuer.
Mehrwertsteuer zu komplex
Wen wunderts? «Niemand hat bei der Mehrwertsteuer noch den Durchblick», sagt Bundesrat Hans-Rudolf Merz im Interview mit der «HandelsZeitung» und gesteht: «Nicht einmal der Finanzminister!» Die 1995 eingeführte Mehrwertsteuer ist zu zu kompliziert.
Diesen Sachverhalt bestätigen drei Untersuchungen aus der jüngsten Vergangenheit:
- Die Klagen, die Mehrwertsteuer sei zu kompliziert und selbst für Fachleute manchmal schwer zu verstehen, ziehen sich wie ein roter Faden durch den Bericht «über Verbesserungen der Mehrwertsteuer», den der Bundesrat aufgrund eines parlamentarischen Vorstosses von Hansueli Raggenbass (CVP, Thurgau) zum 10-jährigen Bestehen der Steuer in Auftrag gegeben hat. Er wurde im Januar 2005 veröffentlicht, hat aber bis jetzt zum Leidwesen von Finanzminister Merz in der Öffentlichkeit kein breites Echo gefunden.
Die im Bericht zitierten Stellungnahmen lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. So schreibt der Schweizerische Anwaltsverband stellvertretend für viele, dass der «dichte und undurchdringliche Dschungel» der Praxisfeststellungen eine akute Gefahr für die Steuerehrlichkeit darstelle: «Gerade der kleine Steuerpflichtige fühlt sich angesichts der Fülle von Regeln, Ausnahmen und Gegenausnahmen ausser Stande, seinen ihm obliegenden Aufgaben nachzukommen.»
Unternehmerrisiko ist zu gross
In die gleiche Richtung zielt die Kritik der Treuhand-Kammer, die besonders auf das Problem der Rechtsunsicherheit der Steuerpflichtigen hinweist:«Die Steuerpflichtigen haben die Steuerschuld selbst zu bestimmen, und während einer fünfjährigen Verjährungsfrist kann die ESTV im Rahmen einer Kontrolle Aufrechnungen vornehmen, die die Steuerpflichtigen kaum mehr an ihre Abnehmer überwälzen können.» Damit hätten die Steuerpflichtigen ein wirtschaftlich nicht vertretbares Unternehmerrisiko zu tragen.
Das wiederum hatte in 84% der Fälle finanzielle Konsequenzen: Nachsteuern bis 0,5 Mio Fr. mussten 52% der Betroffenen bezahlen, bei 25% waren zwischen 0,5 und 2 Mio Fr., bei 19% zwischen 2 Mio und 5 Mio Fr., und zwei Unternehmen sahen sich mit Nachforderungen von über 5 Mio Fr. konfrontiert. Die grösste Nachsteuer belief sich nach Angaben von Mehrwertsteuer-Chefinspektor Paul Thrier im «Cash» auf rund 20 Mio Fr. Dazu Ivo Gut, Leiter des Mehrwertsteuer-Netzwerks von KPMG Schweiz:«Für KMU können die finanziellen Konsequenzen in Einzelfällen existenzgefährdend sein.»
Mit einem Anteil von je 59% sind die Falschbeurteilung der Steuerpflicht sowie nicht MWSt-konforme Vorsteuerabrechnungen gemäss KPMG-Studie die am häufigsten aufgedeckten Mängel. In 51% der Fälle fehlen Umsatzsteuerabstimmungen, was nach MWSt-Revisor Zimmermann grosse Nachsteuerfolgen verursachen kann: «Kann nämlich der Revisor die Differenzen nicht innert nützlicher Frist einwandfrei zuordnen, werden sie als Inlandumsätze mit der Steuer belegt. Damit hat das Unternehmen Steuern abzuliefern, welche oftmals nur auf Versäumnis oder Nachlässigkeit beruhen.»
Oft fehlt auch der Nachweis, dass ein Produkt ins Ausland exportiert wurde und deshalb nicht der Mehrwertsteuer unterliegt. Wird dies zum Beispiel bei einem Unternehmen festgestellt, das einen Jahresumsatz von 100 Mio Fr. - davon 20% im Ausland - und eine Umsatzrendite von 5% erzielt, resultiert statt eines Reingewinns von 5 Mio Fr. nach Abzug der Nachsteuern in der Höhe von 7,6 Mio Fr. und der Verzugszinsen von 1,076 Mio Fr. ein Verlust von 3,68 Mio Fr. Und das nur, weil die Exportnachweise nicht vollständig waren.
Tückisches Reihengeschäft
Zudem treten Probleme im Zusammenhang mit Immobilientransaktionen auf. Laut Studie wird die Mehrwertsteuer nur in 40% der Fälle berücksichtigt. Schwierigkeiten bereitet die Steuer oft auch dort, wo es um Spenden und Sponsoring geht, um Restrukturierungen, um Leasing, Subventionen, Änderung der Rechtsform und des Firmennamens. Ist die Rechnung eines Lieferanten auf einen falschen Firmennamen ausgestellt, sind Probleme beim Vorsteuerabzug und bei der Revision garantiert.
Immer wieder zur Sprache kamen am KPMG-Seminar die so genannten Reihengeschäfte. Das heisst: Mindestens drei Parteien sind an einer Lieferung beteiligt. Wie das in der Praxis funktioniert, illustrierte Mehrwertsteuer-Experte Gut am Beispiel einer Käserei, die ihre Ware ohne Mehrwertsteuer an die Emmentaler AG verkauft, die sie wiederum ohne Mehrwertsteuer an Kunden in Deutschland weiterverkauft.
Damit das Exportgeschäft ablaufen kann, ohne dass die Käserei als Lieferantin und die Emmentaler AG die Mehrwertsteuer zu fakturieren hat, muss die Käserei den Transport organisieren. Sie muss zudem als Exporteur auf den Exportdokumenten aufgeführt sein. Auf der Rechnung der Käserei an die Emmentaler AG darf der Name des Kunden in Deutschland nicht fehlen. Schliesslich benötigt die Emmentaler AG von der Käserei eine Kopie des Ausfuhrnachweises. Ivo Gut: «Der Fall zeigt, dass Buchhaltung und Logistik aufeinander abgestimmt sein müssen.»
Das Käse-Geschäft sorgte im Aarauer Schachen für einige Lacher. Das besten Kabarett schreibt das Leben immer noch selbst.
Risiko Immobilien: Früh planen ist unabdingbar
Transaktionen mit Immobilien gehören zu den grössten Mehrwertsteuerrisiken. Dies illustriert das folgende Beispiel aus der Praxis: Die Kugler AG besitzt ein Fabrikgebäude, das im Jahr 1978 zum Preis von 13,5 Mio Fr. (inklusive Wust von 6,2%) erstellt wurde. 24 Jahre später, im Jahr 2002, renovierte man das Gebäude für 5,6 Mio Fr. (inklusive Mehrwertsteuer) und verkaufte es per Ende 2003 an die neu gegründete Kugler Immo AG. Diese firmeneigene Immobiliengesellschaft vermietete die Liegenschaft an die Kugler AG für deren betriebliche Zwecke zurück.
Der Verkauf und die Rückvermietung erfolgten ohne Mehrwertsteuer. Bei der Kontrolle führt das zu einer nachträglichen Steuerschuld von 375700 Fr., weil es die Verantwortlichen unterlassen haben, sowohl beim Verkauf von der Kugler AG als auch bei der Rückvermietung an die Kugeler AG eine Option mit Mehrwertsteuer zu machen.
Der Rat der Experten: Gerade bei Immobiliengeschäften ist die Auswirkung auf die Mehrwertsteuer bereits in der Planungsphase zu prüfen. (syn)
Der Rat des Inspektors: Rückstellungen machen hellhörig
Stellt der Revisor fest, dass in einer Buchhaltung «Rückstellungen für Mehrwertsteuer» gemacht werden, wird er hellhörig. Im Gespräch mit den Verantwortlichen versucht dann Mehrwertsteuer-Inspektor Jürg Zimmermann herauszufinden, «ob jemand zu schummeln versucht oder ob jemand in seiner Abrechnung ein Risiko vermutet, das er aber nicht genau orten kann».
Den Steuerpflichtigen rät Zimmermann, die Umsatzabstimmung, also den Vergleich der Mehrwertsteuer-Abrechnung mit der Buchhaltung, für jede Abrechnungsperiode («nah am Geschehen») selber vorzunehmen. Die Prüfungen beginnen in der Regel mit der Umsatzabstimmung. Wenn diese Differenzen aufweist, ist das in den Augen des Revisors ein erstes Warnsignal.
Was Zimmermann nicht mag: Wenn ihm einer sage, er sei erst seit einem Jahr für die Mehrwertsteuer zuständig, weshalb ihn das, was vorher passiert sei, nicht betreffe. Der Prüfungsexperte: «Dann habe ich zwar grosse Freiheit, aber muss mich auf Konflikte gefasst machen.» (syn)
Frühwarnindikatoren: Der Umgang mit Risiken
73% der antwortenden Unternehmen haben laut KPMG-Studie einen Mehrwertsteuer-Verantwortlichen eingesetzt. Auffallenderweise ist er aber nur in 52% der Unternehmen auch direkt am Risikomanagementprozess beteiligt. Offenbar scheint in dieser Hinsicht noch ein grosser Nachholbedarf vorhanden. Denn nach Ansicht von Experten gehört zum A und O der Qualitätssicherung in den Unternehmen die klare Zuordnung von Verantwortlichkeiten. Wenn sie fehlt, ist dies unter den Fachleuten bereits ein Frühwarnindikator, der auf Mehrwertsteuer-Risiken hinweist. Andere Alarmzeichen sind: Fehlende Umsatzabstimmung, keine fristgerechte Deklaration, keine Mehrwertsteuer-Schulung für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, keine Mehrwertsteuer-spezifische Kontrollen im EDV-System (was teure Folgen haben kann), so genannte «Mehrwertsteuer-Rückstellungen» in der Buchhaltung, keine Abklärung der Mehrwertsteuer-Situation bei Spezialfällen wie Immobilientransaktionen, Umstrukturierungen, ungenügende Archivierung der Belege. (syn)