Für die Premiere hatte sich Robert Bach einen der trendigsten Clubs von San Francisco ausgesucht. Im «Mighty», im Szenequartier Somisspo zwischen South of Market, Mission District und Portrero Hill, inszenierte der Microsoft-Topmanager die Lancierung der beiden neusten Produkte: Die Handys mit den Namen «Kin One» und «Kin Two» zielen direkt auf die Generation Facebook der 15- bis 25-Jährigen und integrieren die sozialen Netzwerke wie zuvor noch kein Mobiltelefon. «Diese Geräte verbinden das, was ihre Nutzer mögen, mit den Leuten, die sie mögen», erklärte Bach, Chef von Microsofts Entertainment-Division, den versammelten Journalisten.
Es sind die ersten Handys, die der Softwarekonzern in Eigenregie herstellt, und die jüngsten in einer ganzen Reihe von Innovationen. Anfang Jahr präsentierte CEO Steve Ballmer mit den sogenannten Slates seine Version von Tablet-Computern, wenige Tage bevor Apple den iPad-Hype entfachte. Im Februar folgte Windows Phone 7, ein Betriebssystem für Handys, das dem iPhone und Googles Android das Leben schwer machen soll. Im Herbst soll das Projekt Natal lanciert werden, eine revolutionäre Steuerung für Computerspiele, die ohne Joystick auskommt und von der Gamer-Gemeinde fieberhaft erwartet wird. Wie ein Trommelfeuer schiessen derzeit die Innovationen aus der Microsoft-Maschine.
Nimbus verloren. Sie sind auch dringend nötig. In den neunziger Jahren dominierte Microsoft die IT-Welt. Doch in den letzten Jahren geriet das Unternehmen auf die Verliererstrasse. Gelähmt von den jahrelangen Auseinandersetzungen mit den Kartellbehörden dies- und jenseits des Atlantiks, verlor Microsoft den Fokus. Statt mit cleveren Produkten war man mit sich selbst beschäftigt, scheiterte im milliardenschweren Übernahmekampf um Yahoo, haderte mit Qualitätsproblemen. Spätestens seit dem Abgang von Übervater Bill Gates, so schien es, ging nichts mehr. Sinnbild war das Debakel mit dem Betriebssystem Windows Vista, das bei den Kunden durchfiel – ebenso wie Zune, Microsofts Antwort auf den iPod. Der erste Umsatzrückgang in der Firmengeschichte, der Abbau von 5000 Stellen und ein Zehn-Punkte-Plan zur Kostensenkung waren die Konsequenz. Die Game Changers, die bahnbrechenden Innovationen, kamen derweil von Apple, Google oder von Start-ups wie Facebook und Twitter. Die besten Programmierer heuerten wieder lieber im Silicon Valley an als in Redmond bei Seattle. Microsoft hatte den Nimbus der Unbesiegbarkeit verloren.
Jetzt, so scheint es, rappelt sich der gestrauchelte Riese wieder auf. Verschiedene Initiativen, die Steve Ballmer in den letzten Jahren aufgleiste, kommen fast gleichzeitig zum Tragen. Wichtigster Schritt in Richtung Microsoft 2.0 war die Lancierung des neuen Windows 7 im letzten Herbst. Mit dem Vorgänger Vista gerieten die Entwickler in eine Komplexitätsfalle: Das Programm war so unüberschaubar, der Code derart fehlerhaft, dass sich die Lancierung immer wieder verspätete, die Fehlerbehebung Unsummen kostete und das Produkt trotzdem die versprochene Leistungsfähigkeit nie erreichte. Um Ähnliches mit Windows 7 zu vermeiden, wählte der Konzern einen für seine Verhältnisse revolutionären Ansatz: Anstatt die Ingenieure das machen zu lassen, was technisch realisierbar war, fragte man die Kunden, was diese überhaupt wünschten. Microsoft zeichnete monatelang das Verhalten von Millionen Windows-Usern auf. Daraus gewann man wertvolle Schlüsse darüber, was die Benutzer überhaupt machten mit den Rechnern, wie sie es machten – und wo sie nicht weiterkamen. Und der Konzern schickte Tausende von Testpersonen ins Labor, wo sie verschiedene Aufgaben am PC erledigen mussten. Probleme und Verbesserungsvorschläge wurden akribisch protokolliert. Nur die besten der rund 600 neuen Ideen und Funktionen wurden am Schluss implementiert. Windows 7 ist das erste Betriebssystem, das weniger kann als sein Vorgänger – das dafür aber richtig.
Auch dank einer ungewöhnlichen Qualitätskontrolle, die Microsoft einführte. Mitten im Entwicklungsprozess zog der Konzern mehrere hundert Programmierer von ihren Projekten ab. Statt weiter neue Features auszubrüten, sollten sie fortan dafür sorgen, dass ihre Kollegen keine Dummheiten machen. Seither sitzen die Softwareentwickler paarweise vor dem Monitor: Der eine programmiert, der andere schaut, dass dabei keine Fehler passieren. Der Code wurde täglich um 16 Uhr rituell auf 5000 Rechnern getestet, jeder anders konfiguriert. Nur was alle Geräte und jede Situation fehlerfrei passierte, wurde zur Weiterverwendung freigegeben.
Das Ergebnis: Der Start von Windows 7 wurde mehrmals vorgezogen, das Produkt war von Anfang an überzeugend, deutlich schneller und stabiler als die Vorversion – und ein Verkaufshit. Im letzten Quartal verzeichnete Microsoft wieder einen Rekordumsatz und -gewinn, hauptsächlich dank Windows 7.
Kulturwandel. Doch nicht nur die Programmierer durchlaufen bei Microsoft derzeit einen Kulturwandel. Das ganze Unternehmen richtet sich neu aus. Grund ist der Trend zum Cloud Computing, ein Paradigmenwechsel, der momentan die IT-Welt durchschüttelt: Programme und Daten laufen nicht mehr auf dem PC auf dem Schreibtisch, sondern werden in gewaltigen Datacenters abgelegt und über Internet abgerufen – oft auf mobile Geräte wie Notebooks oder Smartphones. Microsoft fiel die Einsicht schwer, dass sich die Computerwelt nicht mehr um den PC und um Windows drehen wird. Jetzt aber hat sie den ganzen Konzern erfasst. «Das ist ein Umbruch von der gleichen gewaltigen Bedeutung wie die Einführung von Windows oder dem Internet», sagt Microsoft-COO KevinTurner. Microsoft lässt sich dies Milliarden kosten: Bereits arbeiten 70 Prozent aller Entwickler an Cloud Services. Ende des Jahres werden es 90 Prozent sein. Auch seine Office-Goldesel wird Ballmer in der Cloud anbieten – sogar in einer abgespeckten Gratisversion. Google mit ihrem kostenlosen Konkurrenzangebot zwingt ihn dazu. Zudem pusht Ballmer das Projekt Azure, eine Art Betriebssystem für das Netz. Softwarefirmen können damit Anwendungen entwickeln und ihren Kunden im Internet bereitstellen. Azure ist bislang konkurrenzlos und könnte die gleiche Bedeutung erhalten wie heute Windows. «Es ist wahrscheinlich, dass Azure die Zukunft von Microsoft ist», sagt der renommierte Branchenexperte Rob Enderle.
Einen kompletten Neustart macht Microsoft derzeit auch bei den Smartphones. Das bisherige Handy-Betriebssystem gilt als technologisch rückständig und kompliziert zu bedienen – die Mühelosigkeit des iPhone geht Windows Mobile ab. Auf dem boomenden Markt gerät der Konzern dadurch zusehends ins Hintertreffen. Ballmer musste handeln. Im Februar stellte er ein komplett neu entwickeltes System namens Windows Phone 7 vor. «Wir mussten einfach etwas machen, das sich von der Konkurrenz und der Vergangenheit abhebt», sagt Ballmer. Die ersten Prototypen stossen auf positives Echo: «Mehr als zu erwarten war», lobt etwa der einflussreiche Technoblog Gizmodo.
Auch die kürzlich lancierte Suchmaschine Bing erntet gute Kritiken. Während Google Millionen von Suchresultaten liefert, von denen ein Grossteil wertlos ist, spuckt Bing kürzere, dafür präzise Trefferlisten aus. «Es ist eine ganz andere Art, eine Internetsuche durchzuführen», beschreibt Turner das Konzept. «Wir versuchen, die Absicht der User vorherzusagen, damit sie Klicks und Zeit sparen.» Microsoft führte als Premiere die Echtzeitsuche durch Twitter- und Facebook-Nachrichten ein und übernahm so erstmals bei Suchmaschinen den technologischen Lead. Die volle Leistungsfähigkeit entfaltet Bing derzeit erst in den angelsächsischen Märkten, in der Schweiz muss man sich für die nächsten 6 bis 12 Monate mit einer abgespeckten Version zufriedengeben. Doch zum ersten Mal seit Ewigkeiten hat Microsoft ein Produkt, das beinahe cool wirkt. Zwar ist der Abstand zu Google im 80 Milliarden Dollar schweren Suchmaschinenmarkt noch immer gewaltig (siehe «Kampf um Marktanteile» im Anhang). Aber die Richtung stimmt. «Der erste Schritt war, den Trend umzukehren und wieder zu wachsen», sagt Turner. «Das haben wir geschafft, jeden Monat, seit wir Bing lanciert haben.» Mit der Integration des Suchgeschäfts von Yahoo, auf die man sich nach der gescheiterten 47-Milliarden-Dollar-Übernahme einigte, wird Microsoft einen gewaltigen Schritt vorwärts machen.
Bei der Distribution geht Microsoft ebenfalls neue Wege. In den USA eröffnete der Konzern kürzlich zwei eigene Shops. Hunderte davon will Kevin Turner in der ganzen Welt sehen, auch in der Schweiz. Den frischen Schwung verdankt der 90 000-Mitarbeiter-Konzern neuen Topmanagern. Rund ein Viertel der Chefetage hat Steve Ballmer in den letzten Jahren systematisch verjüngt mit Quereinsteigern, hauptsächlich von Konsumgüterfirmen wie Walmart, Nike oder Procter & Gamble. Sie brachten eine neue Kundensicht und diszipliniertere Abläufe: «Wir sind besser geworden in allen Bereichen der Umsetzung, bei Produktentwicklung, Qualität, Verkauf, finanzieller Disziplin oder der Präzision, wie wir uns auf ein Ziel ausrichten», sagt Turner.
Hochform in harten Zeiten. «In harten Zeiten, wenn viel auf dem Spiel steht, läuft Microsoft zur Hochform auf», bilanziert Venture Capitalist Brad Silberberg, der einst bei Microsoft die Entwicklung von Windows 95 leitete. Grundlegende Probleme hat Ballmer freilich noch nicht gelöst. Noch immer gilt der 58-Milliarden-Konzern als schwerfällig. Noch immer geht in Redmond bisweilen der Überblick verloren darüber, welche Abteilung was genau treibt. So basieren etwa die Kin-Handys nicht, wie zu erwarten wäre, auf dem neuen System Windows Phone 7, sondern auf dem älteren Windows CE. Die Quasimonopole bei den Betriebssystemen und der Bürosoftware, denen der Konzern das Gros seines Umsatzes und Gewinns verdankt, sind anders als früher nicht mehr kritisch für die Zukunft der Computerindustrie. Für Microsoft sind sie von der Lebensversicherung zum Klumpenrisiko geworden.
Noch nie in der IT-Geschichte wurden zwei Technologiewellen hintereinander von der gleichen Firma angeführt. Einst war IBM die alles bestimmende Macht, dann dominierte Microsoft. Derzeit gibt Google den Ton an. Apple könnte als Nächstes an der Reihe sein.
In Redmond arbeiten sie immerhin hart am Comeback.