Die Migros steckt in einer knüppelharten Restrukturierung: Meldungen über Firmenverkäufe und Massenentlassungen folgen in hoher Kadenz, auf Linkedin häufen sich die Meldungen von langjährigen Migros-Mitarbeitenden, die ihr Profil auf «Open to work» aufschalten und im kleinen Kreis ihrem Schock über die Kündigung freien Lauf lassen. Der orange Riese hat sich den Nimbus des vermeintlich sicheren Arbeitgebers immer ein Stück weit bewahrt.
Was CEO Mario Irminger aktuell macht, ist Handwerk: unrentable Geschäfte abstossen, Kosten senken, Mittel in die zentralen Geschäftsfelder shiften. «Wir können es uns nicht leisten, weiterzumachen wie bisher», hat er in der NZZ gesagt.
Für mich ist das nicht nur ein ökonomischer Weckruf: Die Migros wird im Rahmen dieser Zäsur auch eine andere Liebe zu sich selber entwickeln müssen. Als Journalistin habe ich den Konzern mehr als zehn Jahre begleitet, war an Dutzenden von Medienkonferenzen und Interviews mit Managerinnen und Managern. Eines hat mich dabei immer fasziniert und irritiert zugleich: wie die Migroskultur gebetsmühlenhaft als «etwas Besonderes» dargestellt wurde.
Karin Kofler
Die Gastautorin
Karin Kofler ist Geschäftsführerin der Zuger Wirtschaftskammer und freischaffende Publizistin.
Dabei ging es um mehr als das Selbstverständnis, das Mitarbeitende entwickeln, wenn sie bei der Nummer eins eines Marktes arbeiten. Ob man mit Leuten aus dem unteren Kader oder Direktionsmitgliedern sprach: Die Bemerkung, dass die Migros eben kein normales Unternehmen sei, wurde schon beinahe ad absurdum kultiviert. Man spöttelte – auch bei Tochtergesellschaften – gerne mal hinter vorgehaltener Hand über die Mitbewerber, die eben nicht über diesen hohen ideellen Wertekompass und die einzigartige Firmengeschichte der Migros verfügten.
Gab es Wechsel im Topmanagement, wurde das Kriterium «der oder die Neue muss den Stallgeruch der Migros haben», ehrfürchtig in die Runde geworfen, so, als ob Aussenstehende nicht in der Lage wären, die DNA der Migros zu erfassen und die richtigen ökonomischen Handlungen abzuleiten. Diese Haltung war mit ein Grund, warum Ex-SBB-Personenverkehrschefin Jeannine Pilloud 2019 keine Chance hatte gegen die heutige Präsidentin Ursula Nold, obwohl Pilloud die offizielle Kandidatin war.
Nichts gegen eine starke Firmenkultur: Sie kann erwiesenermassen enormes Erfolgspotenzial freisetzen. Einige Weltkonzerne – und auch die Migros – beweisen es. Managementliteratur zeigt aber, dass übertriebener Stolz auf die eigene Organisation eben auch eine negative Wirkung erzielen kann. Dies äussert sich etwa in einer ins Überhebliche driftenden Kultur, mangelnder organisatorischer Lernbereitschaft oder nutzlosen Infights.
Mit Mario Irminger an der Spitze, der zuvor Denner-Chef war, kehrt Ernüchterung ein im Migros-Reich. Wie bei Paaren, die sich im Rausch der Gefühle als einzigartig definieren und irgendwann merken, dass sie dieselben Probleme haben wie die anderen. Das kann durchaus heilsam sein.