Manager machen Fehler. Einen besonders oft: Sie schätzen Märkte falsch ein. Im Schweizer Detailhandel gab es vor zehn Jahren kaum Entscheidungsträger, die Denner und Migrolino eine Chance gegeben hätten. Wie soll Denner bestehen, wenn die Discounter-Maschinen Aldi und Lidl aus Deutschland den Markt aufmischen werden? Was soll der Convenience Store Migrolino mit einer Handvoll Miniläden gegen die längst etablierten Coop Pronto und Valora-Kioske ausrichten?
Aber Mario Irminger (54) und Markus Laenzlinger (59) haben es geschafft. Die Schwarzmaler machten bei beiden den gleichen Denkfehler: Sie gingen von einem gesättigten Markt aus.
Die Unterschätzten
Einer stand ganz am Anfang, der andere kurz vor dem vermeintlichen Ende. Migrolino war ein Schnellschuss, der aus dem gescheiterten Joint Venture Cevanova mit der Convenience-Kette Avec entstand, das die Migros mit den SBB und Kioskbetreiber Valora unterhalten hatte. Denner wiederum war im Besitz der Nachkommen von Gründer Karl Schweri. Doch dessen Enkel Philippe Gaydoul war bald der festen Überzeugung, dass er alleine die Discounter-Welle aus Deutschland nicht überstehen würde. Er verkaufte das Unternehmen für geschätzte 1,2 Milliarden Franken an die Migros.
Das war 2009. Heute staunen die Kritiker von damals, und der Migros-Genossenschafts-Bund (MGB) klopft sich selber auf die Schulter. Für ihn sind die beiden Tochterketten zu sicheren Werten mutiert.
Beim MGB sind sie im Geschäftsbereich Handel untergebracht, genauso wie Digitec Galaxus, LeShop, Globus oder Interio. Den meisten läuft es schlecht. Die ganze Sparte ist defizitär. Digitec wächst zwar jedes Jahr zweistellig, allerdings noch mit roten Zahlen unter dem Strich. Die anderen Kanäle schrumpfen oder stagnieren. Nur Denner und Migrolino schreiben schwarz und wachsen ungebremst weiter. «Weil wir viel investiert haben, schrieben wir 2011 rote Zahlen», verrät Migrolino-Chef Laenzlinger. «Danach nie wieder.»
Bei beiden gilt aber auch: Ohne Alkohol und Tabak im Sortiment gäbe es sie nicht. Die beiden Tabusortimente bringen rund ein Drittel des Umsatzes. Und Frequenzen – das höchste Gut im Detailhandel. Doch über Alkohol und Tabak spricht man bei der Migros nur im Flüsterton. Gründer Gottlieb Duttweiler hat sie von Anfang an mit einem Verbot belegt, weil er sie als Quelle häuslicher Gewalt sah. Das Verbot gilt bis heute. Konkurrenten zischeln gerne, dass der orange Riese den roten Discounter nur geschluckt habe, um an einen zuverlässigen Alkohol-Verkaufskanal zu kommen. Tatsächlich steht heute jeder vierte Denner neben einer Migros-Filiale.
«Laenzlinger und Irminger sind die beiden besten Unternehmertypen der Migros.»
Dieter Berninghaus
Migrolino startete bei null mit dem Alkohol. «Wir mussten innerhalb der Migros dafür kämpfen», erzählt Laenzlinger, der zuvor bei den SBB und dann bei Cevanova tätig war, die nach der Aufspaltung der Avec-Läden von der Migros übernommen wurde. Das Thema ging bis zur Delegiertenversammlung. Kampfpreise bei Bieren, wie bei der Konkurrenz, gibts bis heute bei Migrolino nicht. Genauso wenig wie Cumulus-Punkte auf Alkohol und Tabak.
«Laenzlinger und Irminger sind die beiden besten Unternehmertypen der Migros», schwärmt Dieter Berninghaus. Er war als MGB-Handelschef bis vor drei Jahren Vorgesetzter der beiden. Das Migrolino-Konzept baute er mit auf, bei Denner führte er die Übernahmeverhandlungen und sass im Verwaltungsrat. Heute leitet er bei der Signa Holding des österreichischen Immobilien-Milliardärs René Benko das Retailgeschäft. Migrolino ist für ihn «zweifellos eine der bestgeführten Convenience-Ketten Europas».
Träges Monster Migros
Eigentlich ist die Migros ein träges Monster. Wer in der 30-Milliarden-Gruppe etwas Neues aufbauen will, muss sich mit den MGB-Eignern, den zehn regionalen Genossenschaften, abkämpfen. Noch heute können sie ihr Veto gegen einen neuen Denner in ihrem Gebiet einlegen. Laenzlinger wuchs mit Migrolino nur darum so schnell, weil sie ihn belächelten. Die erste Handvoll Filialen übernahm er von Avec. Valora und Migros hatten nach dem Ende der Zusammenarbeit um jede einzelne Filiale gewürfelt.
Dann begann die Expansion. Nach einem Jahr waren schon 130 Shops bezogen. «Am Anfang sagte ich den Genossenschaften in den Regionen immer: Wegen der paar Lädeli könnt ihr doch kein Theater machen», erzählt Laenzlinger in seinem St. Galler Dialekt mit Toggenburger Einschlag. «Als es dann bald 300 waren, wachten sie langsam auf und wurden einen Moment etwas restriktiver.» Heute sind es 320.
Mit den Genossenschaften verstehe er sich bestens. Auch weil er nur auf Flächen aus ist, die nicht mehr als 250 Quadratmeter messen. Für eine normale Migros-Filiale wäre das zu klein. 2012 kam die Kooperation mit dem aserbaidschanischen Energiekonzern Socar dazu, der die 60 Schweizer Esso-Tankstellen übernommen hatte. Socar schloss mit Migrolino einen Franchisevertrag ab für die Shops. Seit 2016 kühlt das Ladenwachstum etwas ab. Trotzdem steigt der Umsatz immer noch zweistellig. Zuletzt um 7,4 Prozent auf 528 Millionen.
Heute wächst die Kette eher «von innen heraus». Mit verfeinertem Angebot. Mehr vermeintlich Gesundes, qualitativ Besseres. Die Pendlergesellschaft stellt zunehmend hohe Ansprüche an die Verpflegung für unterwegs. Auch wenn die Renner-Combo morgens immer noch das Gipfeli mit Red Bull ist, kaufen die Pendler immer mehr Proteinriegel und Smoothies. Parallel dazu baut Laenzlinger ein Wholesale-Geschäft auf. Damit beliefert er auch andere Convenience-Ketten, Dorfläden, Kinos oder Automatenbetreiber. Das steigert nicht nur den Umsatz, sondern erlaubt es Laenzlinger, «den Markt zu spüren». Intern nennen ihn nicht wenige den «letzten Händler der Migros». Es heisst, Migrolino schaffe eine für die Branche phänomenale Ebit-Marge von über fünf Prozent.
255 Migrolino-Läden sind an Tankstellen gekettet
Migrolino ist ein reines Franchisekonzept. Die Migros betreibt keinen einzigen Laden selber. Das System ist geschlossen. «Wir suchen Standorte, bewilligen sie, bauen aus, suchen Partner und beliefern und beobachten sie.» Insgesamt 255 Läden sind an Tankstellen gekettet. Shell betreibt 65, Socar 60 und Piccadilly im Tessin 30 Standorte. 100 Shops gehören der Tankstellentochter Migrol. Der Rest steht an Hochfrequenzlagen bei Bahnhöfen oder in Quartieren. Mit Ausnahme der Tankstellen dürfen die Franchiser höchstens vier Migrolinos führen. Man will flexibel bleiben. Der Franchisenehmer lebt von der Differenz des (vorgegebenen) Verkaufs- und des Belieferungspreises.
Die Angestellten stehen unter dem Schutz eines Gesamtarbeitsvertrags. Dass die einst miserabel bezahlten Tankstellenshop-Verkäufer heute ganz passabel verdienen, ist auch den deutschen Discountern zu verdanken. Zu Marketingzwecken setzten sie früh die Mindestlohnlatte hoch. Rund 4100 Franken für ungelerntes Personal sind heute Standard bei Aldi und Lidl. Im ersten Lehrjahr gibt es bei Aldi aktuell sogar 1120 Franken. Auch Denner zog mit, zahlt mindestens 13-mal 4025 Franken und gewährt sechs Wochen Ferien.
Mit Ausnahme vom Franken-Schockjahr 2015 ist Denner in jedem Jahr seit Irmingers Übernahme gewachsen. Zuletzt um 4,3 Prozent. Die Frage ist: Warum haben Aldi und Lidl den Schweizer Discounter nicht verdrängt? Mario Irminger wollte dazu in der BILANZ keine Stellung nehmen. Die Denner-Kommunikation aus der Geschäftsführung wurde heruntergefahren, auch weil Irminger schon vom MGB hatte zurückgepfiffen werden müssen.
Denner ist zweitgrösster Weinhändler im Land
Aus früheren informellen Gesprächen mit Denner-Verantwortlichen lassen sich drei Antworten ableiten. Erstens profitiert man von der Lebensmittelproduktion der Migros-Industrie: Milch von Elsa, Brot von Jowa und Fleisch von Micarna. Zweitens vom Wein: Bis zu 15 Prozent der Ladenfläche ist für ihn reserviert. 2014 schätzten Experten den Ebit-Anteil des Weins auf bis zu 50 Prozent. Denner ist nach Coop der zweitgrösste Weinhändler im Land. Zusammen beherrschen sie schätzungsweise zwei Drittel des Schweizer Weinmarktes. Drittens hat sich der Discounter-Markt massiv ausgeweitet.
Offensichtlich gibt es Platz für alle. Aldi hat gerade die 200. Filiale eröffnet. In zehn Jahren sollen es 300 sein. Lidl, seit 2009 in der Schweiz, betreibt inzwischen 120 Läden. In der gleichen Zeit hat Denner brutto 65 Standorte eröffnet und steht nun bei 817 Filialen. Bei der Migros-Tochter scheint man selber etwas überrascht zu sein von der gestiegenen Discounter-Nachfrage. Man erklärt sie sich mit mehr Konsumenten mit Migrationshintergrund und mehr Rentnern. Beide Bevölkerungsgruppen seien sehr preissensitiv und relativ markenaffin.
Irminger hat früh aufgeräumt, die engen und düsteren Filialen aufgehellt, Frischware eingeführt und Migranten den roten Teppich ausgerollt. Dosen-Ravioli machten Tiefkühl-Cevapcici und Sagres Platz. Inoffiziell spricht man vom Balkan- oder Portugiesen-Meter in den Agglomerationsfilialen. Kritiker gestanden Irminger lange Zeit keinerlei Händlerkompetenz zu. Ein Finanzler könne keinen Handel, hiess es. Der Zürcher war erst Wirtschaftsprüfer bei Ernst & Young und später Finanzchef bei Heineken Schweiz.
«Irminger hat sich zum Vollblutunternehmer entwickelt.»
Dieter Berninghaus
Es scheint fast so, als hätte Irminger einen detaillierten Plan aus der Schublade gezogen, nachdem er 2011 den Chefposten bei Denner besetzt hatte. Bald war die gesamte Geschäftsleitung ausgewechselt. Er habe zwei bis drei Jahre gebraucht, um «ein gutes Team» zu bilden, soll er einmal gesagt haben. Er übernahm bei 2,8 Milliarden Franken Umsatz und nimmt inzwischen rekordhohe 3,2 Milliarden ein.
«Irminger hat sich zum Vollblutunternehmer entwickelt», stellt sein Ex-Chef Berninghaus fest. Er beschreibt den Denner-Chef als «unheimlich clever und unaufgeregt». Selbst Konkurrenten äussern hinter vorgehaltener Hand viel Respekt für Mario Irmingers Errungenschaften. Und im Migros-Universum scheint es für viele nur noch eine Frage der Zeit, bis der Discount-Profi in die Migros-Chefetage am Zürcher Hauptsitz nachzieht.
Neues Format namens Denner Bibite
Der Wachstumsmotor wird in absehbarer Zeit kaum leiser rattern. Denner hat still und heimlich ein neues Format namens Denner Bibite (italienisch für Getränke) lanciert. Auf höchstens 150 Quadratmetern in Shoppingcentern steht hier das komprimierte Denner-Sortiment: Bier, Wein, Spirituosen, Tabak, Schoggi und Chips. Aktueller Stand: 15 Läden.
Migrolino fokussiert derweil auf Hochfrequenzlagen. Letzten Sommer schrieben die SBB ihre 265 Kiosk- und Convenience-Flächen neu aus. Laenzlinger bewarb sich mit einem neuen Konzept, das auf höchstens 80 Quadratmetern Platz finden soll: «Für die SBB-Ausschreibung haben wir etwas sehr Innovatives entwickelt», verrät er, hält sich aber mit Details zurück. Er konkurriert nicht nur mit Coop und Valora. Auch neue, ausländische Bewerber sind im Gespräch. Fraglich bleibt, ob sich Selbstbedienung à la Amazon Go tatsächlich durchsetzen wird. Angesichts der Ansprüche der Schweizer Kunden ist das ungewiss. Es gilt einmal mehr: Bloss nicht den Markt falsch einschätzen.
Dieser Artikel erschien in der April-Ausgabe 04/2019 der BILANZ.