An der Zahlstelle auf der französischen Autobahn reihte sich auch Harald Nedwed in diesem Spätsommer in die Bargeld-Kolonne ein, dort, wo man die Gebühren einem in ein Kabäuschen eingepferchten Angestellten bar in die Hand drücken kann. Den Kreditkartenautomaten, mit denen die Hälfte der Schleusen an den Péage-Stellen bestückt sind, ging Nedwed aus dem Weg. Und dies, obwohl man bei den Bargeldschaltern eine Viertelstunde und länger wartet, während bei den automatisierten Schleusen so gut wie keine Wartezeiten bestehen.
Dass sich Nedwed wie der durchschnittliche Kreditkartennutzer verhält, mag überraschen, ist der 45-Jährige doch oberster Chef der Migrosbank und damit des sechstgrössten Geldinstituts der Schweiz. Dass selbst ein eingefleischter Banker der totalen Automatisierung im Geldgeschäft nicht traut, zeigt allerdings nur, dass die Welt noch weit von Bill Gates’ Vision entfernt ist: «The world needs banking but it does not need banks.»
Derweil etwa in den USA der Trend zu mehr Bankschaltern eingesetzt hat, werden in der Schweiz nach wie vor Bankfilialen geschlossen. Wider diesen Trend will nun die Migrosbank vorgehen, plant sie doch, ihr Filialnetz mit Kleinstfilialen schweizweit zu ergänzen. Denn das Netz der klassischen Migrosbank-Filialen ist geknüpft, abgesehen von einer weiteren Filiale in Neuenburg und zwei, drei weiteren Kleinstädten besteht hier kein Bedarf mehr. «Was uns fehlt, sind kundenorientierte Kleinvertretungen in grösseren Ortschaften, in denen eine unserer traditionellen Filialen mit sieben bis zehn Mitarbeitern nie rentieren würde», sagt Nedwed.
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Im nächsten Halbjahr will der Migrosbank-Chef an zwei ausgesuchten Orten mit dem Konzept der Kleinstfiliale starten. Mehr als einen Kundenempfangsraum mit einem Geldbezugsautomaten wird er dazu nicht benötigen, personell sollen diese Kleinstfilialen mit zwei oder drei Mitarbeitern betrieben werden. «Wir haben festgestellt, dass nach wie vor viele Kunden den direkten Kontakt suchen, daran hat auch das Internetbanking nur wenig geändert.» Bewährt sich das Konzept, sieht Nedwed schweizweit ein Potenzial von zwei bis drei Dutzend dieser Kleinstfilialen.
Damit leitet Harald Nedwed den notwendig gewordenen Umbau der Bank ein, die lange als reine Spar- und Hypothekarbank galt. So bescheiden ihr Marktanteil am gesamten Hypothekarmarkt auch war, spielte sie hier dennoch eine wichtige Rolle. Fast ausnahmslos ist sie es nämlich bis in die Neunzigerjahre hinein gewesen, die als eines der wenigen Institute ausserhalb des Bankenkartells für die notwendigen Marktimpulse sorgte. Und zwar, indem sie bei generell sinkenden Zinsen diese Entwicklung auch immer wieder an ihre Hypothekarschuldner weitergab, lange bevor andere Banken überhaupt an Zinssenkungen dachten.
Damit löste die Migrosbank regelmässig einen Rutsch bei den an die Hypothekarsätze gekoppelten Mietzinsen aus und verschaffte sich so einen ausgezeichneten Ruf, sowohl bei den Hausbesitzern als auch bei den Mietern. Dieses sich von Hypozinsrunde zu Hypozinsrunde wiederholende Ritual bewies nur, wie zögerlich andere Banken Zinssenkungen an ihre Kunden weitergaben, während Zinserhöhungen angekündigt wurden, sobald sich auch nur die geringste Aufwärtsbewegung am Markthorizont abzuzeichnen begann. Indem die Migrosbank dieses Ritual durchbrach, gelang es ihr, ihren Marktanteil in den vergangenen Jahren zu verdoppeln.
Doch seit die Banken neue, flexiblere und auch längerfristige Modelle für die Belehnung von Immobilien entwickelt haben, hat sich der Hypothekarmarkt deutlich verändert. Die Migrosbank hat ihre Rolle als Vorreiterin verloren, auch wenn sie die Preisführerschaft in diesem Markt nach wie vor für sich beansprucht. Indem die Finanzindustrie das Angebot verwässert hat, lassen sich die Sätze zwischen den einzelnen Banken kaum mehr miteinander vergleichen. Entsprechend gering ist deshalb heute auch die politische Signalwirkung von Zinssenkungen. Zierten diese in den Neunzigerjahren noch die Frontseiten der Zeitungen, werden sie heute nur noch auf den hinteren Seiten der Wirtschaftsbünde vermeldet.
Auch wenn die Migrosbank ihre Hauptgeschäftssäulen nach wie vor im Hypothekarmarkt und im Spargeschäft haben wird, hat für das Institut unter Harald Nedwed eine neue Epoche begonnen. Die Kleinstfilialen sind erst der Auftakt. Abgesehen von dieser Expansion will sich Nedwed auch im Geschäft mit Firmen und mit wohlhabenden Kunden neu ausrichten. Allein im Firmenkundengeschäft wird ab 1. Januar 2005 mit nur noch fünf Kompetenzzentren gearbeitet werden, wovon drei in der Deutschschweiz und je einem in der französischen und der italienischen Schweiz.
Im Visier hat Nedwed dabei die überbordende Bürokratie im Bereich der Firmenkredite. «Es ist doch nicht plausibel, dass der Entscheid über einen Privatkredit von 50 000 Franken innert Minuten gefällt werden kann, wobei der Kunde nur einige wenige Dokumente vorlegen muss. Firmen indessen müssen für den gleichen Kredit alljährlich eine detaillierte Bilanzprüfung über sich ergehen lassen und Jahr für Jahr dieselben Fragen beantworten», begründet Nedwed seine Pläne. «Das alles lässt sich doch für kleinere Unternehmen auch ohne grösseres Risiko mit einfacheren Abwicklungsprozessen verwirklichen», ist der oberste Migros-Banker überzeugt. Dabei geht es ihm nicht darum, mit allen Mitteln zu wachsen. Aber es ist sein erklärtes Ziel, die Kreditvergabe und auch die Kreditüberwachung in diesem Bereich kundenfreundlicher zu gestalten.
Den Kinderschuhen entwachsen ist die Migrosbank auch längst im Bereich der Vermögensverwaltung. Das Private Banking, das sich bei ihr aus dem traditionellen Retail-Segment mit den Kleinsparern entwickelt hat, weist laut Nedwed stattliche Zuwächse auf. «Zwar haben wir keine Schumachers und Kashoggis unter unseren Kunden, aber wir betreuen hier doch Leute mit einem Vermögen von einigen Hunderttausend bis zu einigen Millionen Franken.»
Dieses Geschäft will Nedwed weiter ausbauen, ohne den anderen hinterherzuhecheln. «Damit hätten wir keine Chance, denn mit der anhaltenden Diskussion um das Bankgeheimnis und dem nur geringfügigen Bevölkerungs- und Wohlstandswachstum in der Schweiz stagniert der Markt eh, auf der Seite der Banken ist er gar mehr als gesättigt.» Erklärtes Ziel Nedweds ist es deshalb, die um die Vermögensverwaltung kreisenden Mythen zu knacken und den Kunden aufzuzeigen, dass es so viele Geheimnisse im Private Banking gar nicht gibt. «Die jüngsten Krisen haben doch gezeigt, dass alle Banken in der Vermögensverwaltung nur mit Wasser kochen, bei allen kam es nach den Verlusten an der Börse zum grossen Heulen und Zähneklappern. Deshalb ist es unsere Aufgabe als Teil der Migros-Gemeinschaft, hier auch mit einer aggressiven Preisgestaltung den Markt neu aufzurollen.»
Für Nedwed geht es vor allem darum, den Kunden als Anleger ernst zu nehmen. «Die Kunden haben sich von den Banken längst emanzipiert. So wie der Mensch gelernt hat, sich beim Lebensmitteleinkauf die Waren selber zusammenzustellen, kann er dies heute auch bei der Geldanlage. Oft sind Kunden über Produkte, die sie wünschen, besser informiert als der Berater.» Dies sei wie beim Arzt, meint Nedwed, wo sich Patienten während Stunden über die jüngsten Einschätzungen ihrer Krankheit im Internet erkundigt hätten, sodass sich der Arzt nach der ersten Konsultation erst mal selber schlau machen müsse.
Dass sich die Expansion in die bisher von der Migrosbank nur marginal wahrgenommenen Geschäftsgebiete aufdrängt, zeigt sich auch in der effektiven Entwicklung ihres eigenen Hypothekargeschäftes. Wuchs die Bank in den Neunzigern jährlich im zweistelligen Prozentbereich und erkämpfte sich so von den anderen Banken Marktanteile, liegt ihr Wachstum in diesem Markt heute im Branchendurchschnitt. Für Nedwed der richtige Weg, nicht zur weiteren Überhitzung im Markt beizutragen. Er erwartet, dass es bei steigenden Zinsen wieder zu deutlichen Rückwärtsbewegungen kommen wird.
«Geld ist zurzeit einfach zu billig. Deshalb wird es oft falsch und mit zu hohem Risiko eingesetzt. Da man mit einem vernünftigen Risiko keine Rendite mehr erhält, sind die Banken wieder einmal versucht, Immobilien höher zu belehnen, als dies die künftige Zins- und Einkommensentwicklung eigentlich zulässt.»