Die Premiere am frühen Morgen des letzten Nikolaustages lässt Sergio Zapella, Chef des Kaffeemaschinenherstellers Saeco, ganz geheim starten. In einer nagelneuen Fabrik in Gaggio Montano, einem Dorf im Bologneser Apennin, laufen am 6. Dezember erstmals die Maschinen an: Automaten erhitzen am Fliessband schwarze Kunststofffolien; rasierklingenscharfe Messer stanzen kreisrunde Stücke aus dem heissen Material. In einem nächsten Schritt werden die runden Rohlinge zu einem Minibecher geformt. Parallel stanzt ein Nagelbrett 80 winzige Löcher in den Deckel. Erkaltet wird der Kunststoff-Rundling gefüllt, mit feinem Kaffeepulver, zwischen acht und zehn Gramm, je nach Geschmacksvariante.

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Am Abend des Nikolaustages darf sich Zapella die Hände reiben: 210 000 Kaffeekapseln störungsfrei abgefüllt, etikettiert mit dem neuen Markenlogo Caffita. «Das steht für Caffè italiano», erklärt Zapella. Dass der 63-jährige Italiener Deutsch, gar Schwiizertüütsch spricht, erstaunt nicht. Seit 1950 hatte Zapella, Jahrgang 1941, mit kurzen Unterbrechungen in der Schweiz gelebt, bevor er 1981 mit dem Schweizer Ingenieur Arthur Schmed in Gaggio Montano Saeco gründete. Dass neben Zapella noch ein halbes Dutzend andere Personen in der Werkhalle Deutsch sprechen, lässt freilich aufhorchen. Wer sind sie? «Betriebsgeheimnis», wimmelt Zapella nervös ab. Doch reichlich bedrucktes Packpapier überall in den Fertigungshallen verrät, wer da den italienischen Technikern auf die Finger schaut: Emissäre des deutschen Kaffeeriesen Tchibo. Und auf einer Werkbank im hinteren Bereich der Caffita-Hallen stehen dicht aneinander gereiht neuartige Kaffeemaschinen mit dem Tchibo-Schriftzug auf dem Brühkopf. Im Geheimen bereitet hier der deutsche Kaffeegigant den Angriff auf den Espressomarkt vor. Im Visier hat Tchibo dabei den Platzhirsch unter den bisherigen Anbietern: die Nestlé-Tochter Nespresso.

Gerhard Berssenbrügge (52) müsste beunruhigt sein. «Tchibo ist ein sehr ernst zu nehmender Gegner», sagt er. Der Nespresso-Chef sagt es ruhig, fast stoisch, ohne Anschein von Besorgnis, und blickt über den weitläufigen Balkon seines Büros auf den Sonnenuntergang über dem Genfersee. Hier, in Paudex VD, nur ein paar Autominuten von der Nestlé-Zentrale in Vevey entfernt, in einem modernen zweistöckigen Betonbau mit viel Glas und Holz, hat er jahrelang fast ungestört eine der profitabelsten Töchter des Nahrungsmittelriesen grossgezogen und zu einer veritablen Cash-Cow gemacht. Seit Mitte der neunziger Jahre wächst Nespresso durchschnittlich um 24 Prozent pro Jahr, stärker, als jeder andere Bereich des Konzerns. 2004 setzte man mit Kaffeekapseln 580 Millionen Franken um. Dass sein Unternehmen profitabel ist, bestreitet Berssenbrügge nicht. Wie profitabel, das behält er für sich. Die Rechnung ist freilich schnell gemacht: Bei Herstellungskosten von unter 9 Rappen und einem Verkaufspreis von 44,5 Rappen (für die billigste Sorte) dürfte die Bruttomarge pro Kapsel bei rund 80 Prozent liegen. Das ist selbst für den erfolgverwöhnten Nestlé-Konzern stattlich, der sonst Bruttomargen von immer noch stolzen 40 bis 55 Prozent erwartet. Eindrücklich auch die Betriebsgewinnmarge von Nespresso von fast 30 Prozent. Der Nespresso-Trinker zahlt pro Kilo Kaffe rund 75 Franken; für bestimmte Sorten sind es sogar knapp 90 Franken, zehnmal mehr als für guten Bohnenkaffee im Supermarkt. Er hat freilich auch keine Wahl: Da es ein geschlossenes System ist, kann er seine Nespresso-Maschine auch nur mit den dafür vorgesehenen Kapseln betreiben. Und die kann er nur bei Nespresso selber beziehen, sei es via Internet, telefonisch oder in weltweit 33 eigens dafür eingerichteten Shops. Durch diese Umgehung der Grossverteiler leitet Nestlé auch noch die Detailhandelsmarge in die eigene Tasche.

Solche Zahlen rufen nun weltweit die Mitbewerber auf den Plan: Einen Blitzstart auf dem Schweizer Markt hat im Herbst die Migros mit ihrem Delizio-System hingelegt. Da der orange Riese allen 81 000 Mitarbeitern Delizio-Maschinen zum Sonderpreis von 75 Franken (statt zum Normalpreis von 298 Franken) offerierte, schuf sich Migros schlagartig einen beachtlichen Absatzkanal: 57 000 feste Bestellungen lagen vor, noch ehe die Delizio-Geräte in den Regalen standen. Inzwischen sind weitere 21 000 verkauft worden. «Die Lieferbarkeit ist das grösste Problem», sagt Urs Riedener, Marketingleiter der Migros und treibende Kraft hinter dem Delizio-System.

So unangenehm die Delizio-Aktion für Nespresso auch sein mag: Die viel grössere Gefahr droht der in 38 Ländern aktiven Nestlé-Tochter von den globalen Kaffeemultis. Im letzten Sommer hat Kraft, der weltweit grösste Kaffeehersteller, in Frankreich sein eigenes System namens Tassimo lanciert. Eine gefährliche Konkurrenz: Tassimo ist technologisch hoch stehend. Anders als Nespresso brüht es nicht nur Kaffee, sondern auch Tee, Schokolade oder Bouillon. Nach der geglücktenLancierung in Frankreich folgt nun der globale Rollout. «Die Schweiz wird einer der ersten Zielmärkte», kündigt ein Sprecher an. Vertriebspartner hierzulande soll gerüchteweise Coop sein.

Auch der deutsche Melitta-Konzern, in Europa einer der grössten Kaffeeröster, drängt auf den Markt: In Deutschland hat er im September das System MyCup eingeführt. «Im Februar kommen wir damit auch in der Schweiz auf den Markt», heisst es in Minden. Auch Lavazza geht in die Offensive: Vor einem Jahr lancierten die Italiener ein System für den Heimgebrauch. Der Vertrag zur Markteinführung in der Schweiz wird demnächst unterzeichnet, sagt eine Sprecherin.

Und jetzt also auch noch die Tchibo Holding aus Hamburg. Sie dominiert mit einem Anteil von gegen 27 Prozent nicht nur den deutschen Markt, sondern besetzt erste Marktpositionen auch in Österreich, Tschechien und Polen. «Mit einem Absatz von 310 Millionen Pfund Röstkaffee ist Tchibo der fünftgrösste Kaffeeproduzent weltweit», demonstriert Vorstandschef Dieter Ammer selbstbewusst Stärke. Umgerechnet gegen fünf Milliarden Franken Umsatz bucht Tchibo im Konzernbereich Kaffee, zunehmend auch über ein eigenes Versandhaus. Diese so genannte Tchibo-Welt drängt verstärkt in die Schweiz. Seit 2001 richtete Tchibo hierzulande 40 Filialen ein, neun davon in Zürich. In Deutschland sind es gar 900 Filialen und 45 000 weitere Verkaufsstützpunkte in Bäckereien und Supermärkten. Dort wird Tchibo ab Frühling seine Espressomaschinen lancieren und die in den Bergen oberhalb von Bologna produzierten Caffita-Kaffeekapseln feilbieten, jeweils zehn Stück im Päckchen. 150 Millionen solcher Tassenportionen schafft das Werk mit den bereits installierten Anlagen pro Jahr. Wird das ein Bestseller, lässt sich die Produktion schnell im Baukastenprinzip auf mehr als eine Milliarde Stück pro Jahr ausweiten.

Berssenbrügge müsste beunruhigt sein. Denn bislang hatte man sich den globalen Markt bequem aufgeteilt: Lavazza bedient mit seinem System Espresso Point vorwiegend die Büros. Illy ist mit seinem Easy Serving Espresso in der Gastronomie stark. Den breiten Massenmarkt deckt Douwe Egberts, Tochter des weltweit viertgrössten Kaffeerösters, Sara Lee, mit seinem Senseo-System ab. Senseo, das nicht nach dem Espresso-, sondern nach dem Brühverfahren funktioniert, ist in Mittel- und Nordeuropa ein gewaltiger Erfolg: Mehr als vier Milliarden Portionen werden jährlich verkauft. Und den US-Markt rollt die weltweite Nummer drei, Procter & Gamble, mit seinem preisgünstigen Home-Café-System (ebenfalls ein Brühsystem) auf.

Oberhalb dieser Konkurrenz ist Nespresso als Premium- und Lifestylemarke positioniert. Die Verkaufsläden sind nobel designt und heissen «Boutiquen». Die 14 Kaffeesorten sind laut unabhängigen Blindtests besonders geschmackvoll und heissen Grand Crus. Die Nespresso-Clubmitglieder erhalten ein edles Kundenmagazin, für das Starfotograf Michel Comte die Titelbilder schiesst. Dieser Club, in dem jeder Maschinenbesitzer registriert ist und bei dem er seinen Kaffee nachbestellt, liefert Nespresso wichtige Marketingdaten und ist zudem das wichtigste Mittel zur Kundenbindung und -akquirierung: Die meisten Neukunden werden über Mund-zu-Mund-Propaganda anderer Clubmitglieder gewonnen, obwohl Berssenbrügge das Werbebudget jährlich im Gleichschritt mit dem Umsatz um 20 Prozent erhöht (2004 lag es bei rund 120 Millionen Franken). Über ein derartiges Clubsystem verfügt keiner der Mitbewerber. Doch Migros-Mann Riedener sagt: «Wir könnten einen ähnlichen Club von heute auf morgen aus der Taufe heben. Dank unserer Cumulus-Karte hätten wir die nötigen Kundendaten.»

Heute ziert jede sechste in Europa verkaufte Espressomaschine das Logo mit dem geschwungenen N, werden jährlich 1,4 Milliarden der farbigen Alukapseln produziert. Dabei war Nespresso zuerst eine Fehlgeburt: Eric Favre, der die Kapseltechnologie entwickelt hatte (ebenso wie das Lavazza- und das Delizio-System), positionierte seine Erfindung als Kaffeesystem für Büros. Damit versuchte Nestlé ab 1989, zunächst den Markt in der Romandie zu durchdringen. Mit bescheidenem Erfolg: Jahrelang verlor der Konzern Geld. Das war schliesslich auch den langfristig denkenden Strategen in der Konzernzentrale in Vevey zu viel. «Man wollte den Laden dichtmachen. Glücklicherweise hatte Nespresso einen hohen Bestand an Maschinen, und die hätte man vernichten müssen. Also hat man beschlossen, erst einmal diese Maschinen zu verkaufen und dann weiterzuschauen», erzählt Berssenbrügge. Die Wende kam, als Nestlé 1991 den Ingenieur Eric Favre an der Nespresso-Spitze durch den Marketingmann Jean-Paul Gaillard ersetze. «Er hat die Formen und Strukturen hineingebracht und das Marketingkonzept erarbeitet», sagt Berssenbrügge. Gaillard positionierte Nespresso als Lifestyle- und Luxusprodukt für den privaten Haushalt und baute den Club als zentrales Kundenbindungssystem auf. Mit grossem Erfolg: Drei Jahre später war Nespresso profitabel. Nachdem Gaillard 1998 zu Mövenpick gewechselt hatte – heute ist er Unternehmer, Investor und nebenher CEO von Pronuptia –, führten seine Nachfolger Henk Kwakman (1998 bis 2001) und Gerhard Berssenbrügge (seit 2001) das Konzept nahezu unverändert weiter.

Der Nestlé-Konzern ist zwar ein Qualitäts-, nicht aber ein Luxusgüterhersteller. Als er mit Nespresso plötzlich eine Premiumtochter hatte, «war das psychologisch schwierig für das Mutterhaus», erinnert sich Gaillard. Deshalb ist Nespresso heute ein Konzern im Konzern: Mit eigenen Lokalitäten in Paudex statt in Vevey, mit eigener Organisation und eigenem CEO. Diese Freiheiten hat im Konzern ausser den Joint Ventures Beverage Partners Worldwide und Cereal Partners Worldwide nur der Bereich Nestlé Waters (Perrier, Vittel). «Néstlé funkt uns hier kaum rein», sagt Berssenbrügge, auch weil die Synergien mit dem Mutterhaus relativ begrenzt sind. Nur wenn es um Forschung, um steuerliche oder juristische Fragen geht, greift man auf das Mutterhaus zurück. Sonst macht Nespresso alles selber, besorgt sogar den Rohkaffee ohne Unterstützung durch das Mutterhaus Nestlé, das immerhin der weltweit zweitgrösste Kaffeeeinkäufer ist.

Selbst die Kaffeemaschinen designen und entwickeln die Nespressionisten von Grund auf selber. Produziert werden sie von Eugster Frismag (siehe Nebenartikel «Eugster Frismag: Die Perle vom Bodensee»). Jura, König, Siemens und Co. kleben nur noch ihr Logo auf die Maschinen und kümmern sich um Verkauf und Service. «Alles, was die Qualität des Kaffees bestimmt, bleibt bei uns», erklärt Berssenbrügge die für Nestlé ungewöhnliche Hardware-Tätigkeit. «Das Know-how dazu haben wir uns im Laufe der Zeit erarbeitet.»

Die anderen Konkurrenten haben sich stattdessen einen festen Elektronikpartner gesucht: Sara Lee kooperiert mit Philips, Kraft mit Braun. Konsequent setzen die Herausforderer bei den Schwächen des Nespresso-Systems an: Sie sind günstiger; die Preise schwanken zwischen 19 Rappen bei Senseo und 40 Rappen bei Tassimo. Der Kapselnachschub muss nicht mühsam bestellt werden, sondern ist im Supermarkt zu haben. Neben Kaffee können sie auch Tee und andere Heissgetränke brauen. Statt Aluminium, dessen Recycling sich Nestlé jährlich einen siebenstelligen Betrag kosten lässt, verwendet man ökologisch weniger aufwändigen Kunststoff.

Berssenbrügge müsste beunruhigt sein. Er ist es nicht. «Wir sind Nespresso. Wir wissen, was wir können», sagt er in seiner ruhigen norddeutschen Art, ohne dass seine Stimme sich hebt und sich seine Gestik ändert. «Es gibt viele, die der Louis Vuitton des Kaffees sein wollen. Wir sind es, und es ist ein langer Weg, es dorthin zu schaffen.» Nun kommt das Marktgefüge ins Rutschen. «Durch die neuen Anbieter wird ein Luxusprodukt demokratisiert und entmystifiziert», sagt Bernd Altpeter, Konsumgüterexperte bei der Strategieberatung Monitor.

Dabei hätte es Nestlé selber in der Hand gehabt, den Markt abzuschotten: Als Nespresso endlich schwarze Zahlen schrieb, entwickelte Gaillard eine Strategie, mit der Nestlé den ganzen Portionenkaffee-Markt abdecken sollte: Für den Massenmarkt der Filterkaffeetrinker ein System à la Senseo – ebenfalls in Zusammenarbeit mit Philips –, für die Mitte ein Delizio-ähnliches System, das via Carrefour und Coop vertrieben werden sollte, und oben im Luxussegment weiterhin Nespresso. «Die Verträge war unterschriftsreif, die Produktionsstrassen schon montiert», erinnert sich Gaillard. Doch als er 1998 zu Mövenpick wechselte, liessen seine Nachfolger diese Strategie fallen. «Sonst würde Nestlé mit Portionenkaffee heute drei Milliarden Franken umsetzen statt nur ein paar hundert Millionen», sagt er. Berssenbrügge verteidigt den Entscheid: «Nespresso kann nicht auf zu vielen Hochzeiten gleichzeitig tanzen.»

Jetzt profitieren andere vom Kapselboom. Urs Riedener ist ehrgeizig: «In der Schweiz wird Delizio im Jahr 2007 Marktführer sein.» Dafür müsste er Kaffeekapseln für deutlich mehr als 200 Millionen Franken verkaufen. Auch die Konkurrenz von Kraft bis Tchibo rechnet damit, Milliarden von Kapseln in den Markt drücken zu können. Doch da Berssenbrügge die internationale Expansion vorantreibt, dürfte auch Nespresso seine hohen Wachstumsraten vorerst beibehalten: Im Jahr 2007 will der Norddeutsche mit seinem Umsatz die Milliardengrenze knacken.

Immer mehr Kunden wissen die Bequemlichkeit der Einzelportionen zu schätzen, immer mehr wird Kaffee – auch dank Starbucks & Co. – zum Lifestyle-Produkt. Kraft erwartet, dass mit Portionenkaffee in naher Zukunft weltweit mehrere Milliarden Dollar umgesetzt werden. So verschiebt sich der ganze, 33 Milliarden Dollar schwere Kaffeemarkt: «Der klassische Filterkaffee wird der eindeutige Verlierer des Kapselbooms sein», sagt Altpeter. In zehn Jahren wird in Europa mehr vorportionierter Kaffee getrunken als traditioneller Röstkaffee, schätzt Berssenbrügge, in der Schweiz sogar schon in sechs Jahren.

Dann freilich wird Berssenbrügge ein anderes Problem haben. In 72 Monaten läuft das Patent auf den Nespresso-Kapseln aus, und Denner, Aldi & Co. können selber Kaffeeportionen für das Nestlé-System anbieten. Dann werden die fetten Margen der Nestlé-Cash-Cow Vergangenheit sein. Berssenbrügge müsste beunruhigt sein. Er ist es nicht. «Die Kunden kommen nicht zu uns, weil wir ein Patent haben, sondern weil sie uns schätzen», sagt er.

Es gibt nur einen Gedanken, einen einzigen, der ihn wirklich beunruhigt. Einen, bei dem sogar er seine kontrollierte Gelassenheit verlieren kann. «Es darf nicht sein, dass jemand anderes einen besseren Kaffee macht als wir!», sagt er gimmig und blickt auf den Sonnenuntergang über dem Genfersee.