Samstag, 20. Dezember 2008, Mendoza.
Der Flug von Miami nach Santiago und dann über die Anden gibt zweimal einen wunderbaren Blick auf den Berg frei, den ich seit meiner ersten Ankunft in Chile im August 1970 so oft gesehen und bestaunt habe, der aber bis jetzt noch nie als Bergziel auf meiner Liste gestanden hat: den Aconcagua, mit seinen 6962 Metern nicht nur der höchste Berg Amerikas, sondern auch der höchste Gipfel ausserhalb Asiens.
Vom Flugzeug aus kann man ihn auch gleich am besten einschätzen: die eindrückliche, Tausende von Metern hohe, vergletscherte Südwand, die auch für die Grossen der Bergwelt eine technische und persönliche Herausforderung darstellt, und auf der Nordseite der einfache Normalanstieg, dessen Weg sich durch ein 38 Kilometer langes Tal zum Basislager schlängelt und dann über Geröll, Stein und ein wenig Fels und Eis auf den Gipfel führt.
Was aber beiden Seiten gemeinsam ist, ist die Höhe – und vor allem, dass sie Wind und Wetter ausgesetzt sind. Denn der Berg liegt nach Westen ganz nahe am Pazifik und nach Osten an der argentinischen Pampa, sodass sich die verschiedenen Klimata am Berg treffen und zu sehr raschen und radikalen Wetteränderungen führen – wie ich es später noch am eigenen Leibe erfahren sollte.
Schon setzt das Flugzeug zum Sinkflug an, denn in wenigen Minuten landen wir in Mendoza, wo mein Abenteuer startet – das eigentlich ganz anders geplant war.
Vor ein paar Monaten traf ich während eines Geschäftsfluges nach New York zufällig einen Skifreund – einen Genfer Privatbankier, der sich zu seinem sechzigsten Geburtstag den Aufstieg zum Aconcagua vornahm. Er überzeugte mich, ihn zu begleiten. Und so wurde es auch vorbereitet. Ich musste Mitte Dezember noch geschäftlich nach New York, und von dort aus wollte ich dann direkt nach Südamerika weiterfliegen, wohin ich mein Berggepäck schon vorausgeschickt hatte. In New York bekam ich dann plötzlich den Anruf: «Du hast bestimmt schon vom Madoff-Skandal gehört, ich muss in der Nähe meiner Kunden bleiben, um ihre Interessen zu vertreten. Leider muss ich dir absagen.»
Die Enttäuschung war gross, hatte ich mich doch auch physisch vorbereitet, und das Gepäck war schon vor Ort. Schliesslich rief ich einen Freund in Chile an, der mir schon einmal von einer Reisegesellschaft für Expeditionen erzählt hatte, und bat ihn, mir einen Bergführer und die Aufstiegslogistik zu organisieren.
24 Stunden später hatte ich die Nachricht, es sei alles organisiert und man erwarte mich am 20. Dezember 2008 in Mendoza am Flughafen.
Alles klappte bestens: Die Firma Vertical aus Santiago de Chile hatte zwei junge Bergführer mit meinem Gepäck nach Mendoza gesandt, um mit mir den administrativen Teil der Zulassungsbewilligung zu erledigen und noch einmal die Expeditionsausrüstung zu kontrollieren.
Wir verbrachten den Tag damit, alles maultiergerecht zu verpacken. Der Abend im Garten eines ausgezeichneten Fleischrestaurants war den Berggeschichten und Anekdoten gewidmet, wobei ich von meinen beiden Bergführern natürlich auch etwas über ihre Erfahrungen am Aconcagua wissen wollte. Meine innerliche Spannung war jetzt gestiegen, und selbst der lange Nachtflug und der intensive erste Tag konnten uns nicht daran hindern, noch bis tief in die Nacht zu plaudern.
Sonntag, 21. Dezember, Mendoza–Confluencia.
Am nächsten Morgen stiess dann auch der Bergführer zu uns, der mit mir bis auf den Gipfel kommen sollte: Ernesto Olivares, der wohl bekannteste chilenische Bergsteiger. Er kannte nicht nur die Anden vom Norden bis zum Süden bestens, sondern hatte auch einige Achttausender Asiens bestiegen, darunter den Mount Everest und den Nanga Parbat.
Ich war also nicht nur in sicherer, sondern auch in berühmter Hand. Ernesto Olivares hatte auch einen Assistenten dabei: Guillermo Trujillo. Er würde uns begleiten und mir in den Höhenetappen etwas Gepäck abnehmen.
Die Einschreibungs- und Zulassungsformalitäten mussten persönlich in Mendoza abgewickelt werden, was wir am Morgen taten, um dann gegen Mittag die Autoreise in Richtung Naturpark Aconcagua anzutreten.
Die Auffahrt nach Penitentes ist ein Erlebnis für sich, da sich die trockenen und meist baumlosen Voranden wegen ihres hohen Mineraliengehaltes in einer unglaublichen Farbenvielfalt zeigen.
In Penitentes laden wir unser Gepäck vom Jeep auf die bereitstehenden Maultiere um. Bald darauf sind wir am Eingang des Naturparks und beginnen unseren Aufstieg zum ersten Lager.
Die ersten Stunden eines Anstieges sind meistens sehr angenehm und fast spielerisch: grüne Wiesen, kleine Seen, leichtes Gepäck, das Gespräch mit den neuen Freunden, der Körper nimmt die sanfte Steigung ohne grosse Anstrengung, und das grosse Ziel ist noch weit weg, man sieht es nicht einmal, es ist noch nicht präsent.
Die Sonne spielt schon mit dem Spätnachmittag, als wir auf 3400 Höhenmetern in unserem ersten Lager, Confluencia, eintreffen. Sie setzt die höheren Gipfel in gleissendes Licht, während wir uns im Talschatten schnell warm anziehen, denn es sollte die erste von vielen kalten Nächten werden.
Montag, 22. Dezember.
Der heutige Tag ist wichtig für die Akklimatisierung. Ich bin überzeugt, dass man sowohl am Berg wie auch in seinem beruflichen Weg keine Etappen überspringen sollte, wenn man langfristig Erfolg haben will. Ich fühle mich zwar so gut, dass ich mir zutraue, zum 4350 Meter hoch gelegenen Basislager weiterzugehen, aber den Preis dafür würde ich später, in der kritischen Höhenzone, zahlen.
Eine solide Grundlage ist die wahre Voraussetzung für den langfristigen Erfolg, und nichts spart im Leben so viel Zeit wie die Wahrheit.
So trekken wir heute gemütlich für sieben Stunden zu einem Ausblickspunkt, der auf über 4000 Metern Höhe liegt und von wo man einen spektakulären Blick auf die Südwand des Aconcagua hat. Die Wand betrachtend, erzählt mir Ernesto Geschichten über die verschiedenen Durchstiegsrouten: die Erstbesteigung, die Tragödien und die Freude, welche diese Wand den besten Bergsteigern der Welt gebracht hat. In Gedanken versunken, warum und weshalb die Berge und Gipfel den Menschen immer wieder herausfordern, sodass er auch sein Leben riskiert, kehren wir in der Abenddämmerung zu unserem Lager zurück.
Nach vielen Jahren Bergerfahrung bin ich heute überzeugt, dass nur derjenige Bergsteiger erfolgreich ist, der auch wieder gesund ins Tal kommt. Der Gipfelsieg ist sicherlich ein wichtiger Motivator, aber er darf nicht das einzige Ziel sein. Ich bin der Meinung, dass man nicht 100 Prozent seiner Leistungsreserven ausgeben darf, um den Gipfel zu erreichen, sondern nur etwa 80 Prozent, denn man braucht die Kraft auch noch für den Abstieg. Das berühmte «Peter’s Principle» der Berufskarriere gilt auch hier: Für manche kann der Gipfel eine Stufe zu hoch sein, und der Versuch, ihn zu erreichen, endet traurig.
Der Berg zwingt uns auch zum Relativieren: Was für einen jungen, bestens vorbereiteten Bergsteiger ein freudiges, leicht zu bewältigendes Erlebnis sein kann, ist für den älteren Herrn ein anstrengendes, ernsthaftes Bergunternehmen. Oder wie es Reinhold Messner gut sagt: «Wenn man als Bergsteiger älter wird, dann werden die Berge höher.»
Dienstag, 23. Dezember.
Es ist nicht der anstrengendste Tag, aber ein herausfordernder. Über 30 Kilometer lang ist die Strecke, zunächst hinunter auf 3200 Meter, dann langsam ansteigend in einem riesigen Flussbett und zuletzt ein steiler Teil, die Cuesta Brava, um endlich bis zum Basislager zu gelangen: zur Plaza de Mulas (4400 Meter über Meer), die Endstation der Maultiere.
Die Sonne steht hoch am Himmel, es gibt keinen Schatten, dafür viel Geröll und loses Gestein.
Wir gehen still in einer Reihe, und es wird nicht viel gesprochen: ein Tag der Gedanken und des fast automatisierten Gehens.
Es gibt sie bei allen Bergtouren: die Etappen, die einem nichts Spezielles abverlangen, aber doch Ausdauer erfordern – stundenlanges, gleichmässiges Gehen. Zeit zum Denken.
Diese Etappen waren oft der Hintergrund meiner kreativen Arbeit als Unternehmer, wenn innovative Gedanken aus dem Unterbewusstsein heraussprudelten oder sich lose Gedankensprünge zu neuen Ideen formierten.
Es ist selten, dass wir heutzutage Zeit haben – oder uns Zeit nehmen –, stundenlang über ein Thema nachzudenken, es aus den verschiedensten Blickwinkeln zu betrachten, es in seine Bestandteile zu zerlegen, um es dann wieder neu zu komponieren, Varianten zu erarbeiten und plötzlich ein neues Gebilde zu sehen, das vorher nicht bestand.
Kreative Arbeit – auch im Geschäftsleben – kommt sicherlich nicht von einer Überfülle an Informationen und «Multimedia Exposure», sondern aus der schmerzvollen Arbeit der Abstraktion, Dekomposition und Neugliederung, wozu man viel Zeit und ungestörte Konzentration braucht. Mir persönlich geben die Bergetappen diesen Hintergrund! Ich finde es gefährlich, wenn grosse Entscheidungen im Umfeld eines zu tätigkeitsgetriebenen Rahmens gefällt werden. Ein Augenblick Geduld kann viel Unglück vermeiden, ein wenig zurücklehnen einen besseren Weg zeigen.
Auch zu dieser Erkenntnis kam ich bei meinen Bergerfahrungen, und ich teile die Meinung von Konfuzius, der sagte: «Der Mensch hat dreierlei Wege, klug zu handeln: erstens durch Nachdenken, das ist der edelste; zweitens durch Nachahmen, das ist der leichteste; drittens durch Erfahrung, das ist der bitterste.»
Ein Zelt, ein Essen und ein Sonnenuntergang, der uns das erste Mal den Normalanstieg auf den Aconcagua in blutroter Farbe zeigt, erwarten uns im Basislager sowie auch das von den Maultieren hochgetragene Gepäck, mit dem wir uns morgen auseinandersetzen wollen.
Mittwoch, 24. Dezember.
Die Sonne erreicht unser Zelt heute sehr spät, erst um 9.15 Uhr schmilzt das Eis an der Zeltwand.
Der Weihnachtstag ist von der Vorbereitung für den nächsten, entscheidenden Abschnitt der Expedition geprägt.
Die Planung und Logistik rücken jetzt in den Vordergrund: Wie viele Tage brauchen wir, wie viele Hochlager planen wir, wie viel Liter Flüssigkeit pro Kopf müssen wir aus Schnee und Eis gewinnen, und wie viel Gas wird dazu benutzt usw.?
Die Logistik war für mich immer schon ein entscheidender Teil eines Unternehmens. Sehr oft scheitern die besten Strategien an einer unzureichenden Ausführung und Logistik. Ich würde sogar behaupten, dass der echte Unterschied im Unternehmenserfolg nicht nur auf bessere Strategien zurückzuführen ist, sondern vor allem auf die Fähigkeit einer Organisation, diese Strategien in gut vereinbarte Aktionen, ausgeführt von einem motivierten Hochleistungsteam, umzusetzen.
Auch bei Nestlé war es so: Die Zielvorgabe des Nestlé-Modells von fünf bis sechs Prozent organischem Wachstum, zusammen mit einer kontinuierlich verbesserten Betriebsmarge, die langfristige Strategievorgabe der Umwandlung einer Lebensmittelfirma in eine weltweit führende Nutrition, Health and Wellness Company und der organisatorische Umbau eines riesigen Tankschiffes in eine flexible Flotte von Angriffsschiffen mit gemeinsamen Versorgeeinheiten wären wertlos und undurchführbar gewesen, hätten wir nicht zugleich eine komplett neue «Logistik» entworfen und umgesetzt, die inzwischen in Fachkreisen weltweit unter dem Namen Globe (Global Business Excellence) bekannt wurde. Wir setzten dafür drei Milliarden Schweizer Franken, 2100 Leute und sechs Jahre Entwicklung und Einführung ein. Und ich sagte nicht ohne Grund, dass Globe wahrscheinlich einmal das wichtigste Vermächtnis aus meiner Zeit als CEO werden würde.
Ohne Globe hätten wir unsere Strategie nie durchsetzen können und hätten auch nicht den grossen Wettbewerbsvorteil erarbeitet, den Globe uns auch heute noch gibt.
Auch auf einer kleinen Expedition spielen logistische Entscheidungen eine grosse Rolle: Jedes Kilogramm zu viel im Rucksack kostet enorme Energie in grosser Höhe, jedes Kilogramm zu wenig kann zu wenig Energie oder Erfrierungen bedeuten. Das richtige Gleichgewicht muss gefunden werden, so wie auch das richtig ausbalancierte Arbeitskapital in einem Unternehmen über Erfolg und Misserfolg entscheiden kann.
Der Nachmittag geht mit dem obligatorischen Arztbesuch und Nachbarbesuchen schnell vorbei. Mit einem kurzen, liebevoll gekochten Weihnachtsessen und den dazugehörigen Wünschen und Gedanken an die Familie beenden wir den Tag.
Donnerstag, 25. Dezember.
Heute Morgen fühlen wir uns alle gut, und wir entscheiden, das Lager Plaza Canada auf 5080 Metern nicht zu beanspruchen, sondern direkt
zum Hochlager Nido de Condores (5590 Meter über Meer) aufzusteigen.
Es ist ein langer, steiler Weg, den wir mit Ruhe gemeinsam angehen. An diesem Tag erinnere ich mich an das chinesische Sprichwort: «Wenn du schnell gehen willst – gehe alleine! Wenn du weit gehen willst – gehe gemeinsam!»
Beim Berggehen kommen einem Bilder in den Sinn, auf die man beim Sitzen nicht kommen würde.
Dieses langsame, stetige Bergaufgehen konfrontiert mich mit dem, was ich so oft in der Geschäftswelt – vor allem in der Finanzwelt – unerfreulicherweise antreffe: ein blindes, übereifriges Fortschreiten statt einer bewussten, gereiften Entwicklung. Man hat manchmal das Gefühl, dass die Finanzleute dieser Welt nach dem Motto agieren: «Wir müssen so viel schneller sein, wie wir teurer sind.» Die Wirklichkeit ist natürlich anders! Sie sollten so viel besser sein, wie sie teurer sind. Aber das ist wohl nur eine Illusion.
Nido de Condores ist eine letzte Hochebene, über der sich dann der Gipfel erhebt.
Wir kommen am Spätnachmittag an, bauen die Zelte auf, und ich lege mich in den Schlafsack. Ich schaue durch die offene Zelttüre, wie meine Bergfreunde Wasser aus Eis schmelzen.
Flüssiges Wasser ist die wichtigste Ressource am Berg! Na ja, für mich ist es nicht nur am Berg, sondern ganz allgemein die wichtigste Ressource für die Menschheit. Und trotzdem ist sie als solche nicht anerkannt und zu schlecht bewertet. Dem Thema Wasser habe ich mich jetzt schon seit vier Jahren voll verschrieben, und es wird auch weiterhin viel von meiner Zeit beanspruchen.
Je höher wir steigen, umso mehr ändert sich der Blick. Von unserem Lager aus sehen wir jetzt auf viele Gipfel hinunter, die wir noch vor kurzem von unten bestaunt haben. Und während tief unten im Basislager die Lichter angehen, sitzen wir hier oben noch im strahlenden abendlichen Sonnenlicht.
Ich beobachte meine beiden Bergführer, die im Zelt nebenan das Abendessen vorbereiten und dabei eine glückliche Ruhe ausstrahlen; sie geniessen es offensichtlich, heute hier zu sein. Sie verkörpern für mich etwas, das ich oft jungen Menschen am Anfang ihrer Berufslaufbahn sagte: «Wähle einen Beruf, den du liebst, und du brauchst keinen Tag in deinem Leben mehr zu arbeiten» (Konfuzius).
Freitag, 26. Dezember.
Die Nacht war sehr kalt, und ich freue mich auf die ersten Sonnenstrahlen und den heissen Tee.
Wir haben noch kein fixes Programm, sondern wollen erst sehen, wie ich mich auf dieser Höhe fühle, weshalb wir einen dreistündigen Spaziergang machen. Mir geht es bestens, und nach dem Mittagessen entscheiden wir, noch am Nachmittag zum nächsten Lager, dem Refugio Berlin (rund 6000 Meter über Meer), aufzusteigen und am nächsten Morgen den Gipfelanstieg zu versuchen.
Noch einmal wird das Notwendigste ausgesucht und die Last verteilt. Der Rest bleibt im Zelt. Um 14 Uhr gehen wir los, bei schönstem Wetter und herrlichem Blick auf den vor uns liegenden Gipfel.
Nur zwei Stunden später stapfen wir durch einen heftigen Schneesturm den Berg hinauf, und dank Ernesto, der den Berg schon neunmal bestiegen hat, finden wir auch den Biwakplatz in der vorgesehenen Zeit. Auf dem jetzt eisigen Untergrund errichten wir unsere Unterkunft.
Das Heulen des Sturmes und das Geräusch des Gasbrenners, der Schnee in lebenswichtiges Wasser verwandelt, sind die einzigen Geräusche, während wir in den Schlafsäcken Wärme suchen und wohl jeder für sich nachdenkt: Was nun?
Natürlich liegt der Entscheid über den weiteren Verlauf beim Bergführer, aber auch die Meinungen und Vorschläge jedes Expeditionsteilnehmers zählen.
Letzten Endes ist es am Berg so wie auch im Tal: Es sind nur Individuen, die Freiheit wahrnehmen, Vertrauen entwickeln und Verantwortung übernehmen können; nicht aber Organisationen!
Je später der Abend, umso mehr legt sich der Wind, und um 21 Uhr entscheiden wir: Tagwache um 1 Uhr morgens und Versuch zum Aufbruch um 2 Uhr.
Samstag, 27. Dezember.
Diese Nacht ist lang und kurz zugleich. Lang, weil ich nicht zum Schlaf komme und jetzt die 6000 Höhenmeter doch das erste Mal spüre. Kurz, weil wir, vier Stunden nachdem das letzte Licht gelöscht worden ist, wieder auf sind.
Das Anziehen ist anstrengend, wir brauchen mehr als eine Stunde, bevor wir ins Freie treten können.
Dunkelheit, Schnee, Wind und schwarzer Fels erwarten uns und eine Kälte, die dank Daunenbekleidung von Kopf bis Fuss gerade noch ertragbar ist. Wir gehen langsam den ersten Hang hoch, der uns auf über 6200 Höhenmeter zu einem Kamm führen soll. Wir sind also gegen den Wind relativ gut geschützt und kommen gut voran.
In dem Moment jedoch, als wir den Grat erreichen, prescht uns ein Schneesturm von der anderen Seite des Berges entgegen und lässt uns das Gleichgewicht verlieren. Der Schnee dringt so heftig auf uns ein, dass das Sprechen unmöglich wird. Ein Blick auf Ernesto, ein Zeichen, und wir kehren um.
Noch bevor es Tag wird, liegen wir wieder in unseren Schlafsäcken, dösen vor uns hin und sind glücklich, sicher und beschützt im Biwak zu sein.
Meine Gedanken schweifen zu einem brasilianischen Bergsteigerpaar, das ein paar Tage zuvor den Gipfel des Aconcagua gemeinsam mit einer grösseren Gruppe erreicht hatte. Die Frau hatte sich dabei so überanstrengt, dass sie keine Kraft mehr hatte, den Abstieg zu schaffen, und vor Erschöpfung am Boden liegen blieb. Ihr Ehemann blieb bei ihr, während der Rest der Gruppe abstieg, um für den nächsten Tag Rettung zu holen. Die beiden mussten die Nacht ohne Biwak oder Schlafsack verbringen, und als die Hilfe am nächsten Tag kam, war der Ehemann tot, und die Frau hatte stärkste Erfrierungen an Händen und Füssen, welche Amputierungen notwendig machten.
Die Frage des Risikomanagements und der Verantwortung im weiteren Sinn tut sich hier auf. Es gibt eben keinen Erfolg ohne ein Risiko des Misserfolges, keine echte Genugtuung ohne harte Arbeit und keine neuen Opportunitäten ohne Kritik an dem, der sie auszunützen versucht, und es gibt auch keine echte Leadership ohne Vertrauen.
Es sind das ständige Ausbalancieren der Risikofaktoren, die objektive Einschätzung von Stärke und Schwäche und letzten Endes das Hören auf seine Intuition, die dann zu den lebenswichtigen Entscheidungen führen. Und was die Verantwortung anbelangt, bin ich der Meinung, dass wir diese oft zu einseitig betrachten. Laotse sagte hingegen: «Verantwortlich ist man nicht nur für das, was man tut, sondern auch für das, was man nicht tut.»
Um zehn Uhr morgens steht die Sonne strahlend am Himmel, und ausser dass der Berg frisch verschneit vor uns steht, sieht man von den letzten 20 Stunden Unwetter nichts mehr.
Wir rufen über ein Satellitentelefon die meteorologische Station in Chile an und erfahren, dass es ein 24-Stunden-Gutwetterloch gibt, bevor eine grosse Störungsfront den Berg erreichen sollte. Die Entscheidung ist schnell gefallen: Wir bleiben hier oben und versuchen morgen früh noch einmal, den Gipfel zu erreichen.
Sonntag, 28. Dezember.
Der dritte Tag auf über 6000 Metern beginnt früh. Um ein Uhr stehen wir auf. Kein Windgeheule ist zu hören, und ein Blick nach draussen zeigt einen funkelnden Sternenhimmel. Aber es herrscht eine Aussentemperatur von minus 37 Grad!
Wir ziehen alles an, was wir dabeihaben, kein Fleck des Körpers bleibt unbedeckt. Trotzdem ist der Kälteschock beim Losgehen gross, und man spürt förmlich, wie die Kälte die Energie aus dem Körper zieht.
Der Aufstieg unter dem Sternenhimmel ist wunderschön, aber die Kälte macht sich schnell an den Zehen und Fingern bemerkbar, die ich schon bald kaum noch spüre.
Wir kommen relativ gut vorwärts, aber ich bin mehr und mehr besorgt über die Erfrierungszeichen, die noch ausgeprägter werden, als wir wieder den Grat erreichen, wo sich auch an diesem Tag der Wind zu der eisigen Kälte gesellt.
Nach zirka drei Stunden sind wir auf 6400 Höhenmetern an der Plaza Independencia angelangt, und ich treffe die Entscheidung umzukehren. Wir sind die Einzigen unterwegs zum Gipfel. Wind und Temperatur erlauben uns nicht, an eine Rast zu denken. Das Risiko, auf den Gipfel, aber nicht mehr vom Gipfel hinunterzukommen, ist für mich in diesem Moment zu gross.
Meine beiden Bergführer waren mit der Entscheidung sofort einverstanden und, wie sie mir später sagten, erleichtert. Wir hatten alles gegeben, was wir konnten, aber der Berg wollte uns an diesem Tag nicht – nicht nur uns nicht, sondern niemanden.
Einige Tage später sterben sechs Bergsteiger aus Grossbritannien, Italien und Argentinien aus Erschöpfung und Erfrierung an diesem Berg, während viele andere einen ihrer schönsten Gipfelsiege feiern können. Am Berg wie im Leben ist die Linie zwischen Erfolg und Tragödie oft sehr schmal.
Gemeinsam Werte schaffen. Die Umwelt der Berge, die langen, einsamen Zeltnächte und die vielen stummen Stunden des An- und Aufstieges verleiten auch immer wieder zur Frage, wie wir unser eigenes Leben, aber vor allem auch das Leben eines Unternehmens so gestalten können, dass es nachhaltig wirkt und somit auch langfristig projektierbar ist.
Ich komme nochmals auf eine Erkenntnis zurück, die sich mir nach vielen Jahren des Nachdenkens herauskristallisiert hat: Nur Individuen können Freiheit wahrnehmen, Vertrauen entwickeln und Verantwortung übernehmen, nicht aber Organisationen. Daraus leitet sich klar ab, dass es die Menschen, die Mitarbeiter sind, welche die Stärke eines Unternehmens ausmachen. Daher sind sie es, die im Zentrum jeder Managementpolitik und aller Unternehmensgrundsätze stehen müssen. Ohne ihren Einsatz, aber auch ohne ihr persönliches Einstehen für die Werte und Prinzipien des Unternehmens kann es keinen langfristigen Erfolg geben.
Eine weitere wichtige Grundlage für die erfolgreiche nachhaltige Entwicklung eines Unternehmens ist die kontinuierliche Relevanz des Unternehmens, seiner Produkte, Marken und Dienstleistungen für die Konsumenten; tagtäglich müssen Konsumenten auf der ganzen Welt über eine Milliarde freiwillige Kaufentscheidungen für eines unserer Produkte fällen, damit Nestlé sein Umsatzziel erreichen kann. Durch Produkt- und Markenpflege, die unter anderem auch eine ständige Innovation und Renovation des Markenbildes verlangen, wird diese Relevanz erhalten und verstärkt. Unser Ziel ist es, dass auch die künftigen Generationen unser Angebot als etwas Innovatives und zugleich Vertrautes wahrnehmen. Dazu kommt immer mehr, dass Konsumenten ein ernstes und legitimes Interesse am sozialen Verhalten sowie an den Prinzipien haben, nach denen ein Unternehmen seine Aktivitäten ausführt. Das reine Einhalten von Gesetzen kann heute wohl nur ein Mindestbestandteil einer Unternehmensethik sein, es ist aber nicht genug.
Drittens müssen die wirtschaftlichen Ziele eines Unternehmens so ausgerichtet werden, dass für alle Beteiligten – die Aktionäre, Mitarbeiter, Konsumenten, Geschäftspartner und die Volkswirtschaften, in denen die Firma tätig ist – ein nachhaltiger Wert geschaffen wird: Wir müssen also gemeinsam Werte schaffen! Das kann nur erreicht werden, wenn Nachhaltigkeit und Langfristigkeit die wichtigsten Entscheidungsgrundlagen werden.
Nestlé strebt in diesem Sinne nicht nach kurzfristigem Gewinn auf Kosten einer erfolgreichen langfristigen Geschäftsentwicklung, anerkennt jedoch die Notwendigkeit, jedes Jahr einen gesunden Gewinn erwirtschaften zu müssen, um damit die Unterstützung des Unternehmens durch die Aktionäre und Finanzmärkte sicherzustellen und vor allem die notwendigen Investitionen finanzieren zu können.
Ich bin davon überzeugt, dass die wahre Stärke eines Unternehmens nicht in der Grösse und Stärke seiner Operationen, sondern in der Macht seiner Prinzipien und Ziele liegt.
Beim Abstieg in der Abendsonne fühle ich mich glücklich, weil ich das Privileg habe, im Dienste einer menschlichen Firma zu stehen, die langfristige, nachhaltige gemeinsame Wertschöpfung zum Ziel und als Richtschnur für ihre Aktivitäten hat – und damit meine eigene Lebenseinstellung mit der des Unternehmens im harmonischen Einklang steht.
Friedhelm Schwarz
Peter Brabeck-Letmathe und Nestlé – ein Porträt
Gemeinsam Werte schaffen
Stämpfli Verlag, 288 Seiten, mit Bildteil, gebunden
Fr. 49.–, ab September im Buchhandel erhältlich.