Das Phänomen ist, dass derzeit auf den internationalen Möbel- und Designmessen Ornamente nur so aus dem Boden schiessen. «Ornament und Verbrechen» hiess 1908 der Aufsatz des Wiener Architekten Adolf Loos. Er warnte, dass die übermässige Verwendung von Verzierungen zum Verfall der Zivilisation führen werde. Lange hat es gedauert, bis sich die klare Linie des Funktionalismus und die reduzierte Form der Moderne in breiter Front bei den Einrichtungsgegenständen durchgesetzt haben.

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Ornament immer noch ein Verbrechen?

Nun also das: Fein ziselierte Tischplatten, in die Omas Spitzendecken graviert zu sein scheinen. Filigrane Hocker, bei denen sich ein Blümchen ans andere reiht, sehen aus wie frisch gehäkelt und gestärkt. Da sind Holztische, die zusätzlich zur angesagten Naturmaserung noch Blumenmuster tragen É Sogar gradlinige Kunststoffschalensessel sind mit Dessinierungen überzogen. Bisher wurde solche Dekorlust gerade einmal bei Stoffen oder Tapeten toleriert, um zu coolen Designs spannende Kontraste zu setzen. Bei Accessoires und Leuchten war man in den letzten Jahren sowieso schon auf Dekoratives gefasst. Der Kronleuchter, ob klassisch oder schräg, hat seinen Platz in der modernen Einrichtungswelt schon länger erobert. Jetzt greifen die Designer voll ins Repertoire: Glühbirnchen und dazu echte Kerzen, Blattwerk und gleichzeitig Kristallklunker, und alles hängt an einem edlen Seidenband. Die neueste Kreation des Designverlegers Anthologie Quartett führt das perfekt vor.

Verführerische Technik

Zur neuen Lust an ornamentierten Oberflächen verführt die heutigen Gestalter vielleicht ein gewisser Spieltrieb auf jeden Fall aber neueste Technik. Bisher galten Ziselierungen, Gedrechseltes und komplizierte Formen immer als nicht realisierbar bzw. sündhaft teuer. Der schnelle Entwurf am PC und die Produktion mit computergesteuerten Maschinen machen heute jegliche Muster und Formen möglich, sogar in Kleinstserien. Da kribbelt es den Kreativen in den Fingerspitzen. Das gradlinig schlichte Allerlei der aktuellen Einrichtungsszene kann ein paar scharfe Gewürze, sprich schräge Stücke, ganz gut vertragen. Man «kann» ja, man «muss» nicht ...

Welcome Biedermeier!

So klingt es nicht etwa in den Klassiketagen der Möbelmessen oder in den Magazinen der Stilmöbelhersteller. Diese orientieren sich derzeit Richtung Moderne, heimelig bis handwerklich interpretiert. Die coolsten internationalen Designlabels, denen lange nichts puristisch genug war, tönen heute so. Die trendsettenden Messen der letzten Monate, wie Mailand und Verona, Kortrijk und London, haben es gezeigt: Das italienische Designstudio Emaf Progetti nennt seinen neuen Tisch für die Firma Zanotta eindeutig «Bieder». Die Kontur eines gedrechselten Säulenfusses ist auf den dreiteiligen Fuss aus lackierten Holzplatten übertragen. Man spielt mit dem Zitat, schafft aber keine Kopie. Tisch und Konsole namens «Dessouschic» des gleichen Herstellers treiben ein anderes Spiel: Nur ein Viertel des gedrechselten Fusses ist vorhanden, die äusseren Flächen sind glatt und zeigen nur die Silhouette.

Sind New Antiques Design?

Auch auf Überraschungseffekte sollte man heute gefasst sein: Da designen bekannte Avantgarde-Designer Möbelstücke, von denen man ganz sicher annimmt, dass sie zumindest nicht in den letzten 30, 40 Jahren entworfen wurden und schon gar nicht von aktuellen Gestaltern. So selbstverständlich und schön «un-designed» wirken sie heute auf uns. In einer Zeit, in der der Begriff Design inflationär zur vermeintlichen Hochlobung von allem und jedem verwendet wird, sehnen sich wohl auch Designer nach «No-Design». Manche Gestalter suchen schon andere Berufsbezeichnungen, um nicht in die falsche Ecke zu rutschen. Das Wort Design ist ja kein Gütezeichen. Es bedeutet ganz einfach nur Gestaltung, in welcher Art und Qualität auch immer. «New Antiques» hat Marcel Wanders, das humorvolle und sympathische Designtalent aus den Niederlanden, seine neuesten Entwürfe für die weltbekannte Avantgarde-Marke Cappellini genannt. Das gedrechselte Bänkchen, schwarz lackiert, mit passendem Stuhl und Sessel könnte 1:1 aus Grossvaters Wintergarten stammen. Den beiden Tischen dazu sieht man an, dass sie zumindest heute neu proportioniert wurden. Ihre Beine spreizen sich kokett, die Tischplatte schwebt auf einer waghalsig schlanken Säule. Wanders fungiert auch als Art Director von Moooi, der derzeit wohl trendigsten Möbelkollektion. Da gibt es Fellsofas, Schreibsekretäre mit gedrechselten Beinen, ornamentreiche Diwandecken und eine weichgerundete Kommode, die fast aus Versailles stammen könnte. Es fehlen nur Dekorleisten und Schnörkelgriffe. Dafür ist sie rundum mit einer veritablen Velourstapete überzogen, mit zierlichen Ranken und Blumenamphoren.

Gestriges von heute

Wem all das zu gewagt erscheint und zu bald vielleicht wieder von gestern, der kann jetzt auch unverfremdetes «Gestern-Design» kaufen, gezeichnet von heutigen Designern und hergestellt von trendbewussten Herstellern. Zum Beispiel einen beige bezogenen Backsessel mit braunem Bücherregal von Casamilano. Oder einen filigranen Holzgestellsessel à la 1960er Jahre bei Zanotta. Als Überlebensgarant mit Wert und Wirkung schlechthin erweisen sich sowieso immer die echten Klassiker der Moderne. Die Stücke von Marcel Breuer bis Charles Eames, von Eileen Gray bis Charlotte Perriand aus den Original-Editionen. Aufregend, hip und trendy sind sie heute nicht mehr das waren sie einmal. Aber sie überzeugen langfristig mit ihren Qualitäten und ihrer Ausstrahlung.