Filmkritik gehört in der Regel nicht zu den Kernkompetenzen einer Wirtschaftszeitung. Aber wenn das Schweizer Fernsehen dem grössten privaten Arbeitgeber der Schweiz 51 Minuten Sendezeit widmet, dann ist genaues Hinschauen angesagt. Vor allem auch dann, wenn der Staatssender seinen Dokumentarfilm «Das System Migros – wie es zum grossen Abbau kam» recht reisserisch so auslobt: «Missmanagement, Ineffizienz, Sololäufe.»
Das Interesse ist damit natürlich geweckt. Die Ankündigung drückt auf einen orangen Knopf, den in diesem Land jede und jeder irgendwo auf und in sich trägt. Die Vermutung: Oha, da knöpft sich jemand ein nationales Heiligtum vor!
Die wahren Insider sind nicht im Bild
Das Timing für den Film ist gut gewählt. Just im Jubeljahr der Migros, die sich zu ihrem hundertsten Geburtstag in «Merci» umbenennt, will ein Dokumentarfilm zeigen, warum der Schweizer Gigant am Wanken ist und sich im grössten Ab- und Umbau seiner Geschichte befindet. Der Anspruch lautet wie bei jedem guten Dokumentarfilm: Zusammenhänge zeigen. Hinter die Kulissen schauen. Betroffene, Insider, Erklärerinnen auffahren.
Leider klappt Letzteres nicht wirklich. Diejenigen, die tatsächlich etwas erlebt und gemacht (und eventuell auch verbockt) haben in und mit der Migros, die das System selber geprägt haben und von ihm enttäuscht und ausgespuckt wurden, tauchen im Bild nicht auf. Wo es dem Filmteam gelingt, mit solchen Leuten zu sprechen, werden diese in einer «Aktenzeichen XY»-Ästhetik gezeigt, ihre Erkenntnisse werden mit nachgesprochenen Stimmen übermittelt. Am meisten Klartext liefert nicht ein Migros-Mensch, sondern ein ehemaliges Coop-Kadermitglied. Wir lernen: Mit der Migros will es sich in diesem Land niemand verscherzen, der auch nur minimalste Spurenelemente von orangem Blut aufweist. Im M-Land herrscht eine Art M-Omertà. Der Film vermittelt dies in einer düsteren Ästhetik. Durch eine Art ewige Novembertristesse wabert die bange Botschaft: Gehen hier bald die Lichter aus? Game over, Migros?
Gelebte M-Realität im Bürobiotop
Was dem Film gut gelingt, oft auch im harten Gegenschnitt zur landesweit bekannten Migros-Werbefröhlichkeit: das komplexe System des Konzerns aufzuzeigen. Die gelebte M-Realität in anonymen Grossraumbürobiotopen. Die Schwerfälligkeit eines Giganten, der sich bis heute zehn schwierig zu koordinierende Einzelzellen leistet, in denen die Konkurrenz längst schon viel einfacher und schneller unterwegs ist. Eine Firma, die sich verschiedene Parlamente leistet, die dann aber nie mitreden dürfen, wenn die Zeiten und Massnahmen hart werden. Starke Momente hat der Streifen, wenn Migros-Urgestein Jules Kyburz (im Lacoste-Pulli) zwar wenig zur heutigen Migros sagt, aber seine Augen – in einem Gesicht wie eine Landkarte – alles sagen. Oder wenn man dabei ist, wie Migros-Manager Guido Rast – Präsident der neuen Supermarkt AG – durch die Filialen schreitet und erklärt, wie man das Genossenschaftsgewusel besser koordinieren will.
Natürlich knöpft sich der Streifen auch die zahlreichen Auslandabenteuer der Migros vor. Doch statt die aktuell heiklen Operationen wie die teure deutsche Supermarktkette Tegut und den ungewissen Europa-Feldzug von Galaxus zu beleuchten, reisen wir mit in die USA, wo die Migros-Industrie eine verhältnismässig unbedeutende Schokoladenfabrik versenkt hat. Der Migros-Gesamtkontext ist heute von Franken-Beträgen in Milliarden, nicht in Millionen bestimmt. Zu diesem schwach relevanten US-Beitrag kommt es wohl nur, weil hier endlich jemand bereit war, vor die Kamera zu treten. Und weil das Filmteam die Migros-Welt nur durch die Brisant-Brille betrachten mag.
Mit dem orangen Riesen will man es sich nicht verscherzen.
Tektonisch verändernde Fälle von Migros-Missmanagement sind auch hier nicht zu erwarten. Im ganzen Film wird Altbekanntes gekonnt und anschaulich umgesetzt. Die schwierige Struktur. Ein Unternehmen, das sich aus der internen Lähmung lösen will und zur Heilung der Migros-Sklerose mit ungewohnt harter Remedur einfährt. Die Ungewissheit der Angestellten, die doch hinter einer der beliebtesten Marken der Schweiz stehen. Der Film ist stärker darin, Macht und Midlife-Crisis der Migros zu zeigen, als wirklich neue und relevante Milliardenflops zu dokumentieren. Immerhin traut er sich, ein nationales Heiligtum kritisch zu beleuchten. Ein M härter, quasi.
Soll man sich den Migros-Dokumentarfilm anschauen? Ja. Soll man sich sehr viel Neues und Migros-Weltveränderndes davon erhoffen? Nein. Darf man ein Sittenbild einer Hundertjährigen erwarten? Ja.
Der SRF-Dokumentarfilm «Das System Migros» kommt am 30. Januar 2025 um 20.10 Uhr zur Erstausstrahlung und ist online hier verfügbar.
2 Kommentare
Ich weiss aus eigener Erfahrung, wie es sich ANFÜHLT bei Firmen wie der Migros, Coop, Lidl und deren Tochterfirmen zu arbeiten. Diese Doku hat meine persönlichen Erfahrungen nur bestätigt. Für mich war es nie ganz klar, wieso man in der Migros zum Teil 14h Tage arbeiten musste, wieso das ganze Team konstant Angst ausstrahlte (keiner hat jemals wirklich die Meinung gesagt, es wurde nie über den "Boss" gelästert, Änderungen in den Abläufen wurden einfach hingenommen - keiner wollte undankbar wirken). Die UNIA Broschüren lagen halb versteckt direkt vor dem Büro des Chefs aus. Keiner hat sich getraut, so eine in die Hand zu nehmen.
Die internen Abläufe waren lächerlich ineffizient. Viele, besonders die jüngeren Mitarbeiter versteckten sich oft regelrecht. Für einige war es ein "Zeit absitzen". So haben es auch die Lehrlinge (Fachmärkte ausgenommen) empfunden. Als ob man drei Jahre lernen müsste um zu wissen wie man ein Brot in den Ofen schiebt, eine fault Frucht erkennt oder ein kaputtes Joghurt aufwischen kann.
Die Rayon-Leiter hingegen, waren oft überarbeitet und haben sich kaum Pausen gegönnt. Auffällig war auch, wie einfach es war vom Lehrling zum Filialleiter zu kommen. Es schien so, als ob man keinen Input von Aussen, keine besser qualifizierten, sondern loyale Arbeiter in der Führung haben wollte.
Ich könnte noch so vieles schreiben. Jedoch ist mein Faxit simpel: Im Vergleich zu ähnlichen Firmen regierte mehr Angst, die fehlende Effizienz wurde versucht mit veralteten Lösungsstrategien zu bekämpfen und die Hierarchien (Organigramm) war undurchsichtig, unfair und leider nicht flach, wie es heutzutage eigentlich angestrebt wird.
Das Schweizer Fernsehen sollte besser mal einen Film drehen mit den hier erwähnten reisserischen Themen : Missmanagement, Ineffizienz und Sololäufe, beim Schweizer Radio und im eigenen TV-Haus, das könnte eine ganze Serie hergeben, nicht nur einen 50 minütigen Streifen.