130 295. Eine Zahl, akribisch nachgeführt auf der Website der amerikanischen IT-Fachzeitschrift «Industry Standard», drückt das ganze Malaise der New Economy aus. Es ist die Anzahl der Mitarbeiter, die Internetfirmen rund um den Globus zwischen Dezember 1999 und Mitte Juli 2001 entlassen haben.
Man könnte auch andere Zahlen nehmen. 330 etwa. Das ist, laut dem Brancheninformationsdienst www.webmergers.com, die Anzahl der Dotcoms, die in den ersten sechs Monaten dieses Jahres weltweit ihre Tore geschlossen haben; neunmal mehr als im Vorjahr. Oder 71, der Prozentsatz der Unternehmen, die in den letzten beiden Jahren an die Börse gekommen sind und deren Börsenkurs nun unter dem Ausgabepreis liegt. Oder eine letzte: drei Billionen. So viel Aktienvermögen wurde in Dollars weltweit durch den Niedergang der Technologietitel seit April 2000 vernichtet.
Die Internetrevolution: nur ein Sturm im Wasserglas, entfacht von windigen Investmentbankern und übereifrigen Unternehmensberatern? Die New Economy: von der Wiege im Silicon Valley direkt in den Abfallkübel der Geschichte? Das Internet werde die Wirtschaft auf den Kopf stellen, hiess das allgemeine Kredo noch vor einem Jahr. Alte Weisheiten seien nicht mehr gültig, in der New Economy gälten andere Regeln, hiess es allerorts und – wir geben es gerne zu – auch hier. Was ist heute davon übrig geblieben? Ein kritischer Blick zurück auf die ehemals neuen Paradigmen der Internetwirtschaft.
These 1: Wer nicht online geht, geht unter
Das Internet ist keine Option. Es ist ein Muss. Jedes Unternehmen muss schleunigst online gehen und seine Geschäftsprozesse so weit als möglich an das Netz der Netze anpassen.
Realität: In England, um nur ein Beispiel zu nennen, sind heute etwa 60 Prozent aller Unternehmen online. Die anderen 40 Prozent haben trotzdem überlebt. Inzwischen sind selbst die Consultingfirmen zurückhaltender. «Mit diesem Schlagwort ist heute niemandem gedient», sagt Daniel Schlegel, Partner bei Accenture Schweiz. «Man muss genau überprüfen, welcher nachhaltige Nutzen sich damit erzielen lässt.» Der kann in Industrien, deren Produkte sich leicht digitalisieren und damit durch eine Datenleitung schicken lassen, gewaltig sein: Banken und Versicherungen können es sich bereits heute nicht mehr leisten, abseits zu stehen, bei Medien und Reisevermittlern nimmt der Druck zu. Bei Dienstleistungen, wo ein direkter Kundenkontakt nötig ist (wie im Restaurant oder beim Coiffeur), bringt das Internet kaum etwas. Für die meisten anderen Branchen gilt: Wenn einer vorprescht, wird die Konkurrenz irgendwann nachziehen.
Fazit: Wer nicht online geht, kann trotzdem überleben. Je nach Branche allerdings mit mehr oder weniger grossen Nachteilen gegenüber der vernetzten Konkurrenz.
These 2: Die Dotcoms fressen die alteingesessenen Anbieter
Nur die Start-ups wissen, wie man die neue Technologie richtig einsetzt. Die alteingesessenen Anbieter haben wegen ihrer starren Strukturen, ihrer nicht virtuellen und damit kapitalintensiven Aktiva und ihrer Trägheit gewaltige Wettbewerbsnachteile. Früher oder später werden sie von den Dotcoms überrollt.
Realität: Geschafft haben es nur wenige – der Internetprovider AOL hat das Medienhaus Time Warner übernommen, eBay hat mehrere Auktionshäuser gekauft. Ansonsten regieren noch immer die gleichen Anbieter. Die grössten Onlinebanken respektive -broker der Schweiz heissen nicht Consors oder Swissquote, sondern Credit Suisse und UBS. Sie haben ihre Vorteile gegenüber den Start-ups konsequent ausgenutzt: bestehende Beziehungen zu Kunden und Lieferanten, starke Marken, erfahrene Mitarbeiter und funktionierende Infrastrukturen.
Der Weg ins Netz mag etwas länger gewesen sei als bei den Dotcoms, dafür ist der Erfolg nachhaltiger. Der Mischkonzern General Electric etwa stellt die Geschäftsprozesse seiner mehreren Hundert Tochterunternehmen scheibchenweise auf das Internet um. So spart man inzwischen über eine Milliarde Dollar pro Jahr. «Die Old Economy hat sich schrittweise an das Machbare herangetastet. Die New Economy hat den grossen Sprung gewagt und sich dabei meist verkalkuliert», sagt Accenture-Berater Schlegel.
Inzwischen existieren immer weniger reine Internetfirmen. Wer noch nicht vom Markt verschwunden ist, versucht, auch in der physischen Welt einen Pfeiler aufzubauen: Amazon hat gewaltige Logistikcenter, die gegen Entgelt auch anderen Unternehmen nutzen können; der Onlinebroker E-Trade ist durch Akquisitionen zu mehreren Finanzberatungszentren gekommen. Die Aufteilung in New und Old Economy ist damit möglicherweise bald Geschichte. Bereits heute spricht man lieber von One Economy, Real Economy, True Economy oder Networked Economy.
Fazit: Die Zukunft dürfte den traditionellen Unternehmen gehören, welche die Methoden der New Economy begriffen haben und richtig umsetzen.
These 3: Internetjahre sind Hundejahre
Durch das Internet fliessen Informationen in und zwischen Unternehmen schneller und direkter als jemals zuvor. Entsprechend zügiger können Entscheide getroffen werden. Ein Internetjahr zählt so viel wie sieben Jahre in der traditionellen Wirtschaft. Also fressen nicht die Grossen die Kleinen, sondern die Schnellen die Langsamen.
Realität: Letztes Jahr brauchte der weltgrösste Routerhersteller, Cisco, für seinen Geschäftsabschluss einen Tag, heute nur noch eine Stunde. Generell werden die Lebenszyklen der Produkte und die Reaktionszeiten immer kürzer. Dennoch ist Geschwindigkeit nicht alles: Die Schweizer Softwarehäuser Miracle und Complet-e haben sich zu Tode gerannt, weil sie mit unausgereiften Produkten auf den Markt kamen. Andere Beispiele (wie das oben erwähnte Onlinebanking-Geschäft von UBS und CS) zeigen jedoch, dass auch der Fast Follower, der von den Fehlern des Ersten lernt, Erfolg haben kann. Und generell gilt, dass technologische Änderungen in der Regel mit viel Zeitaufwand implementiert werden müssen, dass aber vor allem der Mensch Zeit braucht, um sich an neue Umstände zu gewöhnen.
Fazit: Tatsache ist, dass das Internet die wirtschaftlichen Abläufe massiv beschleunigt hat.
These 4: Das Internet ist der Tod der Händler
Über die eigene Website kann ein Produzent seine Ware direkt an den Endkunden verkaufen. Teure Zwischen- und Detailhändler braucht es dann nicht mehr.
Realität: Nur wenige Unternehmen verkaufen im grossen Stil direkt. Computerhersteller Dell ist das berühmteste Beispiel. Bei den meisten anderen überwiegt die Angst, das bestehende Händlernetz zu brüskieren. Deswegen vertreiben sie nur einige ausgewählte Produkte direkt über das Netz, wie der Konkurrent Compaq. Quer durch alle Branchen verfolgen die meisten Unternehmen heute einen Multikanalansatz, bei dem das Internet nur eine Ergänzung zu den bestehenden Vertriebskanälen ist: So verzichten die Geldinstitute weiterhin nicht auf ihre Bankfilialen, und die Autohersteller wickeln Internetbestellungen über ihr Händlernetz ab.
Das heisst nicht, dass alles beim Alten bleibt. Amazon etwa braucht keinen Buchgrosshandel, sondern übernimmt diese Funktion selber. Ricardo hat Flohmärkte im Prinzip überflüssig gemacht. Quer durch alle Branchen gilt: Reine Kistenschieber haben es schwer. Sie müssen zusätzliche Wertschöpfung (zum Beispiel Beratung) bieten, wollen sie ihre Existenzberechtigung nicht verlieren. Doch dafür entstehen neue Zwischenhandelsstufen – zum Beispiel Internetagenturen wie Airline Direct oder Beyoo, die Flugtickets verschachern.
Fazit: Es gab immer Händler, es wird immer Händler geben. Auch wenn es nicht zwangsweise immer die gleichen sind.
These 5: Virtuelle Marktplätze ersetzen traditionelle Kundenbeziehungen
Statt über traditionelle Lieferanten kaufen Unternehmen ihre Rohstoffe und Vorprodukte auf virtuellen Marktplätzen ein. Den Zuschlag erhält der Anbieter mit dem jeweils günstigsten Preis. So kann jeder Zulieferer von DaimlerChrysler werden.
Realität: In den letzten fünf Jahren haben über 1500 virtuelle Marktplätze aufgemacht. 125 sind schon wieder zu, darunter auch der bisher wohl bekannteste virtuelle Vermittler, Chemdex. Am erfolgreichsten ist noch der Energiemarktplatz Enron. Die meisten anderen klagen über ein geringes Handelsaufkommen. Es ist das klassische Huhn-und-Ei- Problem: Sind Angebot und Nachfrage auf einem elektronischen Marktplatz klein, dann haben die grossen Player kein Interesse, ihre Ein- und Verkäufe dort abzuwickeln. Also bleibt die Liquidität auch weiterhin gering.
Die Zurückhaltung ist erklärbar: «Ein technisches Verfahren kann die langfristige Zusammenarbeit zwischen Kunden und Lieferanten nicht ersetzen», sagt Julien Levy, Gastprofessor für E-Business an der französischen Kaderschmiede Insead. Kommt hinzu, dass sich Unternehmen auf Grund uneinheitlicher technischer Standards häufig nur mit grossem Aufwand an verschiedene Marktplätze anschliessen können. Und spätestens, wenn ein Gut von strategischer Bedeutung für das eigene Produkt ist, hat niemand Lust, die Einkaufsquelle mit der Konkurrenz zu teilen. Bei Commodities wie Büropapier oder auf dem Spotmarkt (zum Beispiel für Rohstoffe) ist die Akzeptanz deutlich höher.
Fazit: Virtuelle Marktplätze werden heute häufig nur noch als Ergänzung zu bestehenden Kanälen gesehen.
These 6: Der Kunde ist endlich König
Der Konsument kann die Preise jeglicher Güter quer durch den Cyberspace vergleichen. Überleben kann nur, wer dem Kunden ein optimales Preis-Leistungs-Verhältnis bietet.
Realität: Die Fülle an Onlineinformationen über Produkte, Dienstleistungen und deren Preise ist in der Tat enorm. Der Kunde ist König im Datenmeer – und droht darin zu ertrinken. Zudem sind viele der Informationen wertlos. Was nützt es dem Kunden zu wissen, dass der gewünschte Einbauherd in Washington am billigsten wäre, wenn er ihn in Bern braucht? Online-Vergleichsdienste wie Comparis, Berne Byte Bears oder für Finanzfragen Moneyshelf sind da nur ein Tropfen auf den heissen Stein.
Fazit: Der Kunde kann sich zwar umfassend informieren, der Aufwand bleibt aber gewaltig.
These 7: Die perfekte Konkurrenz
Das Internet erhöht die Transparenz sowie die Anzahl Anbieter und Nachfrager. Das führt tendenziell zum Traum jedes Volkswirtschaftlers, zur perfekten Konkurrenz. Als Folge zerfallen die Preise, und die Gewinne tendieren gegen null.
Realität: Das Internet hat die Transparenz nur teilweise erhöht (siehe These 6). Zudem werden auf dem World Wide Web nicht beliebig viele neue Anbieter und Nachfrager zu relevanten Marktteilnehmern (siehe These 9). Die Konkurrenz ist weiterhin nicht perfekt.
Ein Preiszerfall liess sich bisher nur in jenen Branchen feststellen, in denen ein markanter Anteil der Gesamtumsatzes über das Netz abgewickelt wird. Börsengeschäfte etwa kosteten den Kleinanleger früher ein paar Hundert Franken, heute wird ein Onlineauftrag für 30 Franken ausgeführt. Im Handel ist die kritische Masse noch nicht erreicht. Selbst bei Büchern, einem der grössten Umsatzträger im Netz, ist nach US-Studien weder der Durchschnittspreis gefallen, noch haben sich die Preise angeglichen. Eine Frage der Zeit, meint Accenture-Berater Schlegel. «Sobald das Internet als Kaufmedium breit akzeptiert ist, wird der Preiszerfall einsetzen.»
Immerhin: Eine Studie von UBS Warburg zeigt, dass in den Branchen mit Internetwettbewerb (Kleider, Möbel, Freizeit, Kommunikation) deutlich geringere Preissteigerungen eingetreten sind als in Branchen ohne Internetbedrohung (wie dem öffentlichen Verkehr, Restaurants, Bildungswesen oder der Tabakindustrie). «Das spricht dafür, dass sich mit einem grösseren und transparenteren Markt tatsächlich so etwas wie vollständige Konkurrenz einstellt», sagt Klaus Wellershof, Chefökonom bei der UBS Warburg. Und das bedeutet letztlich auch niedrigere Gewinne für die Unternehmen.
Fazit: Dank dem Internet ist man der perfekten Konkurrenz ein Stück näher gekommen. In den meisten Branchen ist man davon aber noch weit entfernt.
These 8: Das Ende der festen Preise
Der Fixpreis hat ausgedient. Der Wert eines Gutes wird über eine Versteigerung jedes Mal neu definiert.
Realität: Die Anbieter haben kein Interesse, sich mit niedrigen Auktionspreisen selbst zu schaden. Entsprechend lauwarm ist ihre Bereitschaft, die eigenen Produkte auf diese Weise zu verkaufen. Auch die Konsumenten rennen nicht in Scharen in die virtuellen Auktionshäuser. Der Kunde weiss nämlich bis zum Schluss nicht, ob er das gewünschte Gut auch wirklich bekommt. Zudem ist die Preisfindung nur ein kleiner Teil des Kaufprozesses. Der mögliche Preisvorteil steht dann in einem Missverhältnis zum Zeitaufwand – dauern Auktionen doch Stunden, Tage oder gar Wochen. «Die Kunden sind viel traditioneller, als man angenommen hat», erklärt Bruno von Rotz, Berater bei Cambridge Technology Partners, die Zurückhaltung. «Von den Early Adaptors hat man auf das Verhalten der Gesamtbevölkerung geschlossen. Das war ein Fehler.»
Was stimmt: Die Anbieter variieren ihre Preise stärker als früher. Schliesslich müssen sie, statt neue Preislisten zu drucken, nur noch eine Zahl in der Onlinedatenbank ändern. Die Frage, wann ein Flugticket am günstigsten ist, war noch nie so schwer zu beantworten wie im Onlinezeitalter.
Fazit: Dank Internet sind die Preise variabler als in der Offlinezeit. Beliebig variabel sind sie aber nicht.
These 9: Entfernungen spielen keine Rolle mehr
Das Internet macht Distanzen bedeutungslos. Jeder Anbieter kann weltweit agieren.
Realität: Die Entfernung spielt nach wie vor eine Rolle. Wohl lässt sich die ganze Welt im Netz erreichen. Doch haben die meisten Anbieter unterschätzt, wie schwierig es ist, eine effiziente und kostengünstige Distribution aufzubauen. Prominente Start-ups wie der Heimtierzubehörhändler Pets.com, der Hobbygärtner-E-Shop Garden.com sowie jüngst die E-Tailer Le Shop in Deutschland und Webvan in den USA fanden deswegen auf dem Dotcom-Friedhof die letzte Ruhe. Je grösser die Distanz ist, desto höher ist der Aufwand, den entsprechenden Markt zu bewerben. Dann ist es besonders schwierig, das Vertrauen der Kunden zu gewinnen. «Auch in der New Economy ist es ein wesentlicher Erfolgsfaktor, vor Ort präsent zu sein», sagt Accenture-Partner Schlegel.
Fazit: Entfernungen mögen nicht mehr ganz so relevant sein wie früher. Mehrheitlich wird der Markt aber immer lokal bleiben.
These 10: Produkte aller Art lassen sich dank dem Internet massschneidern
Dank dem Internet kann jeder Konsument ein bestehendes Produkt nach den eigenen Vorstellungen gestalten oder neue kreieren.
Realität: Ausser den beiden klassischen Beispielen Dell und Cisco haben nur wenige Anbieter diese Idee realisiert. Bei Nike können Schuhe in den verschiedensten Farben und mit individuellem Schriftzug bestellt werden – allerdings nur auf dem amerikanischen Markt. Wenig erfolgreich war die Automobilbranche: Opel hat in drei Monaten gerade mal 60 Autos über das Internet verkauft; Fiat in sechs Monaten 2. Auch in den USA wurden von 17,4 Millionen Neuwagen lediglich 20 000 oder ein Promille online geordert. In den meisten anderen Branchen sind die Produzenten auf Grund ihrer internen Strukturen und Abläufe noch gar nicht in der Lage, Massenprodukte zu individualisieren. «Das dürfte bei den meisten kommen. Es ist nur eine Frage der Zeit», prognostiziert Balz Wyss, Internetexperte bei der US-Softwarefirma Real Networks.
Fazit: Das individualisierte Angebot ist für Anbieter und Konsumenten noch ungewohnt.
These 11: Small is beautiful – traditionelle Unternehmensstrukturen werden aufgebrochen
Die Hierarchien verlieren an Bedeutung, da dank dem vereinfachten Informationsfluss über das Internet nicht mehr zentral entschieden werden muss. Aus schweren Tankern werden wendige Schnellboote. Am Ende zerfallen die Unternehmen in lockere Gruppen von Freiberuflern (E-Lancer): Statt fixer Anstellung kommt man fallweise für Projekte zusammen.
Realität: Die Hierarchien werden tatsächlich flacher. Früher war die typische Führungsspanne einer Führungskraft fünf bis sieben Mitarbeiter, heute empfehlen die Unternehmensberater sieben bis neun. Dabei werden immer mehr Entscheidungen an der Basis getroffen. «Die Unternehmen der Old Economy sind kaum noch dieselben Unternehmen, die sie einmal waren. Sie sind nicht mehr monolithische, vertikal integrierte Organisationen. Sie bestehen zunehmend aus weit gehend autonomen Einheiten», sagt der amerikanische Zukunftsforscher Alvin Toffler. Kleiner sind die Unternehmen deswegen nicht geworden – warum sollten sie auch, denn Grössenvorteile spielen in der Wirtschaft nach wie vor eine wesentliche Rolle. Auch sind die E-Lancer in der Arbeitswelt kaum zu finden. Zum einen ist das berufliche Sicherheitsbedürfnis spätestens seit der Internetflaute wieder gewachsen. Zum anderen sind auch die sozialen Aspekte eines festen Arbeitsplatzes wichtig.
Fazit: Durch das Internet konnten die Unternehmen Entscheidungskompetenz nach unten delegieren. Dadurch sind die Betriebe zwar flexibler, aber nicht kleiner geworden.
These 12: Das Ende der Konjunkturzyklen
Dank dem Internet steigt die Produktivität, und das bei tiefer Inflation. So können die Zinsen niedrig bleiben, was zusätzliches Wachstum ermöglicht. Also steigen die Aktienkurse weiter – eine greenspansche Glücksspirale, die den endlosen Aufschwung verheisst.
Realität: In der Tat erlebte die Wirtschaft der USA die längste Boomphase der Geschichte: ungebrochenes Wachstum seit 1991. Der kommerzielle Durchbruch des Internets 1996 liess die Produktivität auf fast 3 Prozent steigen, nach 1,4 Prozent zwischen 1975 und 1995. Doch nun rutscht das Land mit der stärksten Internetverbreitung möglicherweise in eine Phase des Nullwachstums. Europa droht das gleiche Schicksal. Und im ersten Quartal des laufenden Jahres wurde in den USA sogar ein Produktivitätsrückgang verzeichnet. «Das Wachstum der Produktivität korreliert stark mit dem Wirtschaftswachstum», erklärt Warburg-Chefökonom Wellershof den Zusammenhang. Schliesslich muss mehr gearbeitet werden, wenn die Auftragsbücher voll sind.
Die neuesten Untersuchungen zeigen, dass der Produktivitätsanstieg durch das Internet minimal sein dürfte. The Brookings Institution kommt auf 0,2 bis 0,4 Prozent in den nächsten fünf Jahren. Bisher hat hauptsächlich die IT-Industrie selber profitiert. Für die anderen Branchen spielt möglicherweise die Zeitverzögerung eine Rolle: «Softwaresysteme zur betrieblichen Steuerung haben die Produktivität gesteigert, das Internet noch nicht», sagt Elmar Wiederin, Schweizer Chef der Boston Consulting Group (BCG). «Der Produktivitätsschub durch das Internet und die Digitalisierung der internen Prozesse wird erst kommen.» Momentan schlagen noch die gewaltigen Kosten für den Aufbau der IT-Systeme zu Buche.
Fazit: Wie stark die Produktivität durch das Internet wirklich steigt, lässt sich noch nicht sagen. Aktuell flacht das Internet aber die Konjunkturzyklen keineswegs ab oder setzt sie gar ausser Kraft.
Das Ergebnis ist ernüchternd: Nur wenige Paradigmen der New Economy, welche die Wirtschaftswelt dramatisch hätten verändern sollen, sind eingetroffen. Und wenn, dann meist erst ansatzweise. Die Kernannahme, dass das Internet das Leben der Menschen auf den Kopf stellen würde, erweist sich bislang als unzutreffend. Das Internet ist kein Business, keine Economy, keine Industrie, sondern ein Medium. Eines, das die Kommunikation extrem vereinfacht, verbilligt und beschleunigt. Nicht mehr und nicht weniger.
Als solches revolutioniert das Netz jene In-dustrien, die hauptsächlich von Kommuni-kation abhängen, wie die Finanz- oder die Medienwelt. Andere Wirtschaftszweige profitieren ebenfalls von der neuen Technologie, zum Beispiel durch bessere Verknüpfung mit Kunden und Lieferanten. Aber bis sich ihr Geschäftsumfeld revolutioniert, wird es noch Jahre dauern. Der Grund ist ein zutiefst menschlicher: «Es ist eine riesige Managementaufgabe, die Leute im Geschäftsleben an etwas Neues zu gewöhnen, solange das Alte noch funktioniert», sagt BCG-Chef Wiederin. Gleiches gilt für den privaten Umgang mit dem Internet: «Erst in zehn Jahren wird sich das markant ändern, denn dann werden Konsumenten mit dem Internet aufgewachsen sein», sagt Insead-Professor Levy.
Die Evangelisten der New Economy unterlagen dem klassischen Perspektivfehler: «Die kurzfristigen Folgen werden überschätzt, die langfristigen unterschätzt», sagt Guy de Panafieu, Chef des französischen IT-Konzerns Bull. Bei der Erfindung des Flugzeugs dachte man auch, bald werde jeder mit seinem persönlichen Propeller zur Arbeit oder zum Einkaufen fliegen. Aber die Globalisierung, die durch das Flugzeug eingeleitet wurde, hat niemand kommen sehen.
Ähnliches gilt für das Internet. Täglich werden über sieben Millionen neue Websites aufgeschaltet. Inzwischen dürfte das Total bei fünf Milliarden liegen. Der technische Fortschritt wird sein Übriges tun: Je mehr sich Breitbandanschlüsse auch daheim durchsetzen, desto mehr Zeit wird der Surfer im Internet verbringen, dort einkaufen, spielen oder sich weiterbilden. Und die Zahl der mobilen Surfer wird mit den neuen Mobilfunkgenerationen noch zunehmen – bereits heute gibt es weltweit deutlich mehr Handys als Computer. Und mehr Surfer bedeuten mehr Kunden und damit grössere Erfolgsaussichten für Geschäftsideen, die heute im Internet vielleicht noch zum Scheitern verurteilt wären.
An der Sprengkraft des Internets für die Wirtschaftswelt ändert sich trotz der gegenwärtigen Depression wenig. «Genauso gut hätte man in den Dreissigerjahren des 19. Jahrhunderts sagen können, dass die Industrialisierung vorbei ist, weil ein paar Textilfabriken in Manchester Bankrott gegangen sind», sagt Futurologe Toffler. Am Ende überdauerte das Industriezeitalter 250 Jahre.
Die New Economy ist tot, lang lebe die New Economy!
Man könnte auch andere Zahlen nehmen. 330 etwa. Das ist, laut dem Brancheninformationsdienst www.webmergers.com, die Anzahl der Dotcoms, die in den ersten sechs Monaten dieses Jahres weltweit ihre Tore geschlossen haben; neunmal mehr als im Vorjahr. Oder 71, der Prozentsatz der Unternehmen, die in den letzten beiden Jahren an die Börse gekommen sind und deren Börsenkurs nun unter dem Ausgabepreis liegt. Oder eine letzte: drei Billionen. So viel Aktienvermögen wurde in Dollars weltweit durch den Niedergang der Technologietitel seit April 2000 vernichtet.
Die Internetrevolution: nur ein Sturm im Wasserglas, entfacht von windigen Investmentbankern und übereifrigen Unternehmensberatern? Die New Economy: von der Wiege im Silicon Valley direkt in den Abfallkübel der Geschichte? Das Internet werde die Wirtschaft auf den Kopf stellen, hiess das allgemeine Kredo noch vor einem Jahr. Alte Weisheiten seien nicht mehr gültig, in der New Economy gälten andere Regeln, hiess es allerorts und – wir geben es gerne zu – auch hier. Was ist heute davon übrig geblieben? Ein kritischer Blick zurück auf die ehemals neuen Paradigmen der Internetwirtschaft.
These 1: Wer nicht online geht, geht unter
Das Internet ist keine Option. Es ist ein Muss. Jedes Unternehmen muss schleunigst online gehen und seine Geschäftsprozesse so weit als möglich an das Netz der Netze anpassen.
Realität: In England, um nur ein Beispiel zu nennen, sind heute etwa 60 Prozent aller Unternehmen online. Die anderen 40 Prozent haben trotzdem überlebt. Inzwischen sind selbst die Consultingfirmen zurückhaltender. «Mit diesem Schlagwort ist heute niemandem gedient», sagt Daniel Schlegel, Partner bei Accenture Schweiz. «Man muss genau überprüfen, welcher nachhaltige Nutzen sich damit erzielen lässt.» Der kann in Industrien, deren Produkte sich leicht digitalisieren und damit durch eine Datenleitung schicken lassen, gewaltig sein: Banken und Versicherungen können es sich bereits heute nicht mehr leisten, abseits zu stehen, bei Medien und Reisevermittlern nimmt der Druck zu. Bei Dienstleistungen, wo ein direkter Kundenkontakt nötig ist (wie im Restaurant oder beim Coiffeur), bringt das Internet kaum etwas. Für die meisten anderen Branchen gilt: Wenn einer vorprescht, wird die Konkurrenz irgendwann nachziehen.
Fazit: Wer nicht online geht, kann trotzdem überleben. Je nach Branche allerdings mit mehr oder weniger grossen Nachteilen gegenüber der vernetzten Konkurrenz.
These 2: Die Dotcoms fressen die alteingesessenen Anbieter
Nur die Start-ups wissen, wie man die neue Technologie richtig einsetzt. Die alteingesessenen Anbieter haben wegen ihrer starren Strukturen, ihrer nicht virtuellen und damit kapitalintensiven Aktiva und ihrer Trägheit gewaltige Wettbewerbsnachteile. Früher oder später werden sie von den Dotcoms überrollt.
Realität: Geschafft haben es nur wenige – der Internetprovider AOL hat das Medienhaus Time Warner übernommen, eBay hat mehrere Auktionshäuser gekauft. Ansonsten regieren noch immer die gleichen Anbieter. Die grössten Onlinebanken respektive -broker der Schweiz heissen nicht Consors oder Swissquote, sondern Credit Suisse und UBS. Sie haben ihre Vorteile gegenüber den Start-ups konsequent ausgenutzt: bestehende Beziehungen zu Kunden und Lieferanten, starke Marken, erfahrene Mitarbeiter und funktionierende Infrastrukturen.
Der Weg ins Netz mag etwas länger gewesen sei als bei den Dotcoms, dafür ist der Erfolg nachhaltiger. Der Mischkonzern General Electric etwa stellt die Geschäftsprozesse seiner mehreren Hundert Tochterunternehmen scheibchenweise auf das Internet um. So spart man inzwischen über eine Milliarde Dollar pro Jahr. «Die Old Economy hat sich schrittweise an das Machbare herangetastet. Die New Economy hat den grossen Sprung gewagt und sich dabei meist verkalkuliert», sagt Accenture-Berater Schlegel.
Inzwischen existieren immer weniger reine Internetfirmen. Wer noch nicht vom Markt verschwunden ist, versucht, auch in der physischen Welt einen Pfeiler aufzubauen: Amazon hat gewaltige Logistikcenter, die gegen Entgelt auch anderen Unternehmen nutzen können; der Onlinebroker E-Trade ist durch Akquisitionen zu mehreren Finanzberatungszentren gekommen. Die Aufteilung in New und Old Economy ist damit möglicherweise bald Geschichte. Bereits heute spricht man lieber von One Economy, Real Economy, True Economy oder Networked Economy.
Fazit: Die Zukunft dürfte den traditionellen Unternehmen gehören, welche die Methoden der New Economy begriffen haben und richtig umsetzen.
These 3: Internetjahre sind Hundejahre
Durch das Internet fliessen Informationen in und zwischen Unternehmen schneller und direkter als jemals zuvor. Entsprechend zügiger können Entscheide getroffen werden. Ein Internetjahr zählt so viel wie sieben Jahre in der traditionellen Wirtschaft. Also fressen nicht die Grossen die Kleinen, sondern die Schnellen die Langsamen.
Realität: Letztes Jahr brauchte der weltgrösste Routerhersteller, Cisco, für seinen Geschäftsabschluss einen Tag, heute nur noch eine Stunde. Generell werden die Lebenszyklen der Produkte und die Reaktionszeiten immer kürzer. Dennoch ist Geschwindigkeit nicht alles: Die Schweizer Softwarehäuser Miracle und Complet-e haben sich zu Tode gerannt, weil sie mit unausgereiften Produkten auf den Markt kamen. Andere Beispiele (wie das oben erwähnte Onlinebanking-Geschäft von UBS und CS) zeigen jedoch, dass auch der Fast Follower, der von den Fehlern des Ersten lernt, Erfolg haben kann. Und generell gilt, dass technologische Änderungen in der Regel mit viel Zeitaufwand implementiert werden müssen, dass aber vor allem der Mensch Zeit braucht, um sich an neue Umstände zu gewöhnen.
Fazit: Tatsache ist, dass das Internet die wirtschaftlichen Abläufe massiv beschleunigt hat.
These 4: Das Internet ist der Tod der Händler
Über die eigene Website kann ein Produzent seine Ware direkt an den Endkunden verkaufen. Teure Zwischen- und Detailhändler braucht es dann nicht mehr.
Realität: Nur wenige Unternehmen verkaufen im grossen Stil direkt. Computerhersteller Dell ist das berühmteste Beispiel. Bei den meisten anderen überwiegt die Angst, das bestehende Händlernetz zu brüskieren. Deswegen vertreiben sie nur einige ausgewählte Produkte direkt über das Netz, wie der Konkurrent Compaq. Quer durch alle Branchen verfolgen die meisten Unternehmen heute einen Multikanalansatz, bei dem das Internet nur eine Ergänzung zu den bestehenden Vertriebskanälen ist: So verzichten die Geldinstitute weiterhin nicht auf ihre Bankfilialen, und die Autohersteller wickeln Internetbestellungen über ihr Händlernetz ab.
Das heisst nicht, dass alles beim Alten bleibt. Amazon etwa braucht keinen Buchgrosshandel, sondern übernimmt diese Funktion selber. Ricardo hat Flohmärkte im Prinzip überflüssig gemacht. Quer durch alle Branchen gilt: Reine Kistenschieber haben es schwer. Sie müssen zusätzliche Wertschöpfung (zum Beispiel Beratung) bieten, wollen sie ihre Existenzberechtigung nicht verlieren. Doch dafür entstehen neue Zwischenhandelsstufen – zum Beispiel Internetagenturen wie Airline Direct oder Beyoo, die Flugtickets verschachern.
Fazit: Es gab immer Händler, es wird immer Händler geben. Auch wenn es nicht zwangsweise immer die gleichen sind.
These 5: Virtuelle Marktplätze ersetzen traditionelle Kundenbeziehungen
Statt über traditionelle Lieferanten kaufen Unternehmen ihre Rohstoffe und Vorprodukte auf virtuellen Marktplätzen ein. Den Zuschlag erhält der Anbieter mit dem jeweils günstigsten Preis. So kann jeder Zulieferer von DaimlerChrysler werden.
Realität: In den letzten fünf Jahren haben über 1500 virtuelle Marktplätze aufgemacht. 125 sind schon wieder zu, darunter auch der bisher wohl bekannteste virtuelle Vermittler, Chemdex. Am erfolgreichsten ist noch der Energiemarktplatz Enron. Die meisten anderen klagen über ein geringes Handelsaufkommen. Es ist das klassische Huhn-und-Ei- Problem: Sind Angebot und Nachfrage auf einem elektronischen Marktplatz klein, dann haben die grossen Player kein Interesse, ihre Ein- und Verkäufe dort abzuwickeln. Also bleibt die Liquidität auch weiterhin gering.
Die Zurückhaltung ist erklärbar: «Ein technisches Verfahren kann die langfristige Zusammenarbeit zwischen Kunden und Lieferanten nicht ersetzen», sagt Julien Levy, Gastprofessor für E-Business an der französischen Kaderschmiede Insead. Kommt hinzu, dass sich Unternehmen auf Grund uneinheitlicher technischer Standards häufig nur mit grossem Aufwand an verschiedene Marktplätze anschliessen können. Und spätestens, wenn ein Gut von strategischer Bedeutung für das eigene Produkt ist, hat niemand Lust, die Einkaufsquelle mit der Konkurrenz zu teilen. Bei Commodities wie Büropapier oder auf dem Spotmarkt (zum Beispiel für Rohstoffe) ist die Akzeptanz deutlich höher.
Fazit: Virtuelle Marktplätze werden heute häufig nur noch als Ergänzung zu bestehenden Kanälen gesehen.
These 6: Der Kunde ist endlich König
Der Konsument kann die Preise jeglicher Güter quer durch den Cyberspace vergleichen. Überleben kann nur, wer dem Kunden ein optimales Preis-Leistungs-Verhältnis bietet.
Realität: Die Fülle an Onlineinformationen über Produkte, Dienstleistungen und deren Preise ist in der Tat enorm. Der Kunde ist König im Datenmeer – und droht darin zu ertrinken. Zudem sind viele der Informationen wertlos. Was nützt es dem Kunden zu wissen, dass der gewünschte Einbauherd in Washington am billigsten wäre, wenn er ihn in Bern braucht? Online-Vergleichsdienste wie Comparis, Berne Byte Bears oder für Finanzfragen Moneyshelf sind da nur ein Tropfen auf den heissen Stein.
Fazit: Der Kunde kann sich zwar umfassend informieren, der Aufwand bleibt aber gewaltig.
These 7: Die perfekte Konkurrenz
Das Internet erhöht die Transparenz sowie die Anzahl Anbieter und Nachfrager. Das führt tendenziell zum Traum jedes Volkswirtschaftlers, zur perfekten Konkurrenz. Als Folge zerfallen die Preise, und die Gewinne tendieren gegen null.
Realität: Das Internet hat die Transparenz nur teilweise erhöht (siehe These 6). Zudem werden auf dem World Wide Web nicht beliebig viele neue Anbieter und Nachfrager zu relevanten Marktteilnehmern (siehe These 9). Die Konkurrenz ist weiterhin nicht perfekt.
Ein Preiszerfall liess sich bisher nur in jenen Branchen feststellen, in denen ein markanter Anteil der Gesamtumsatzes über das Netz abgewickelt wird. Börsengeschäfte etwa kosteten den Kleinanleger früher ein paar Hundert Franken, heute wird ein Onlineauftrag für 30 Franken ausgeführt. Im Handel ist die kritische Masse noch nicht erreicht. Selbst bei Büchern, einem der grössten Umsatzträger im Netz, ist nach US-Studien weder der Durchschnittspreis gefallen, noch haben sich die Preise angeglichen. Eine Frage der Zeit, meint Accenture-Berater Schlegel. «Sobald das Internet als Kaufmedium breit akzeptiert ist, wird der Preiszerfall einsetzen.»
Immerhin: Eine Studie von UBS Warburg zeigt, dass in den Branchen mit Internetwettbewerb (Kleider, Möbel, Freizeit, Kommunikation) deutlich geringere Preissteigerungen eingetreten sind als in Branchen ohne Internetbedrohung (wie dem öffentlichen Verkehr, Restaurants, Bildungswesen oder der Tabakindustrie). «Das spricht dafür, dass sich mit einem grösseren und transparenteren Markt tatsächlich so etwas wie vollständige Konkurrenz einstellt», sagt Klaus Wellershof, Chefökonom bei der UBS Warburg. Und das bedeutet letztlich auch niedrigere Gewinne für die Unternehmen.
Fazit: Dank dem Internet ist man der perfekten Konkurrenz ein Stück näher gekommen. In den meisten Branchen ist man davon aber noch weit entfernt.
These 8: Das Ende der festen Preise
Der Fixpreis hat ausgedient. Der Wert eines Gutes wird über eine Versteigerung jedes Mal neu definiert.
Realität: Die Anbieter haben kein Interesse, sich mit niedrigen Auktionspreisen selbst zu schaden. Entsprechend lauwarm ist ihre Bereitschaft, die eigenen Produkte auf diese Weise zu verkaufen. Auch die Konsumenten rennen nicht in Scharen in die virtuellen Auktionshäuser. Der Kunde weiss nämlich bis zum Schluss nicht, ob er das gewünschte Gut auch wirklich bekommt. Zudem ist die Preisfindung nur ein kleiner Teil des Kaufprozesses. Der mögliche Preisvorteil steht dann in einem Missverhältnis zum Zeitaufwand – dauern Auktionen doch Stunden, Tage oder gar Wochen. «Die Kunden sind viel traditioneller, als man angenommen hat», erklärt Bruno von Rotz, Berater bei Cambridge Technology Partners, die Zurückhaltung. «Von den Early Adaptors hat man auf das Verhalten der Gesamtbevölkerung geschlossen. Das war ein Fehler.»
Was stimmt: Die Anbieter variieren ihre Preise stärker als früher. Schliesslich müssen sie, statt neue Preislisten zu drucken, nur noch eine Zahl in der Onlinedatenbank ändern. Die Frage, wann ein Flugticket am günstigsten ist, war noch nie so schwer zu beantworten wie im Onlinezeitalter.
Fazit: Dank Internet sind die Preise variabler als in der Offlinezeit. Beliebig variabel sind sie aber nicht.
These 9: Entfernungen spielen keine Rolle mehr
Das Internet macht Distanzen bedeutungslos. Jeder Anbieter kann weltweit agieren.
Realität: Die Entfernung spielt nach wie vor eine Rolle. Wohl lässt sich die ganze Welt im Netz erreichen. Doch haben die meisten Anbieter unterschätzt, wie schwierig es ist, eine effiziente und kostengünstige Distribution aufzubauen. Prominente Start-ups wie der Heimtierzubehörhändler Pets.com, der Hobbygärtner-E-Shop Garden.com sowie jüngst die E-Tailer Le Shop in Deutschland und Webvan in den USA fanden deswegen auf dem Dotcom-Friedhof die letzte Ruhe. Je grösser die Distanz ist, desto höher ist der Aufwand, den entsprechenden Markt zu bewerben. Dann ist es besonders schwierig, das Vertrauen der Kunden zu gewinnen. «Auch in der New Economy ist es ein wesentlicher Erfolgsfaktor, vor Ort präsent zu sein», sagt Accenture-Partner Schlegel.
Fazit: Entfernungen mögen nicht mehr ganz so relevant sein wie früher. Mehrheitlich wird der Markt aber immer lokal bleiben.
These 10: Produkte aller Art lassen sich dank dem Internet massschneidern
Dank dem Internet kann jeder Konsument ein bestehendes Produkt nach den eigenen Vorstellungen gestalten oder neue kreieren.
Realität: Ausser den beiden klassischen Beispielen Dell und Cisco haben nur wenige Anbieter diese Idee realisiert. Bei Nike können Schuhe in den verschiedensten Farben und mit individuellem Schriftzug bestellt werden – allerdings nur auf dem amerikanischen Markt. Wenig erfolgreich war die Automobilbranche: Opel hat in drei Monaten gerade mal 60 Autos über das Internet verkauft; Fiat in sechs Monaten 2. Auch in den USA wurden von 17,4 Millionen Neuwagen lediglich 20 000 oder ein Promille online geordert. In den meisten anderen Branchen sind die Produzenten auf Grund ihrer internen Strukturen und Abläufe noch gar nicht in der Lage, Massenprodukte zu individualisieren. «Das dürfte bei den meisten kommen. Es ist nur eine Frage der Zeit», prognostiziert Balz Wyss, Internetexperte bei der US-Softwarefirma Real Networks.
Fazit: Das individualisierte Angebot ist für Anbieter und Konsumenten noch ungewohnt.
These 11: Small is beautiful – traditionelle Unternehmensstrukturen werden aufgebrochen
Die Hierarchien verlieren an Bedeutung, da dank dem vereinfachten Informationsfluss über das Internet nicht mehr zentral entschieden werden muss. Aus schweren Tankern werden wendige Schnellboote. Am Ende zerfallen die Unternehmen in lockere Gruppen von Freiberuflern (E-Lancer): Statt fixer Anstellung kommt man fallweise für Projekte zusammen.
Realität: Die Hierarchien werden tatsächlich flacher. Früher war die typische Führungsspanne einer Führungskraft fünf bis sieben Mitarbeiter, heute empfehlen die Unternehmensberater sieben bis neun. Dabei werden immer mehr Entscheidungen an der Basis getroffen. «Die Unternehmen der Old Economy sind kaum noch dieselben Unternehmen, die sie einmal waren. Sie sind nicht mehr monolithische, vertikal integrierte Organisationen. Sie bestehen zunehmend aus weit gehend autonomen Einheiten», sagt der amerikanische Zukunftsforscher Alvin Toffler. Kleiner sind die Unternehmen deswegen nicht geworden – warum sollten sie auch, denn Grössenvorteile spielen in der Wirtschaft nach wie vor eine wesentliche Rolle. Auch sind die E-Lancer in der Arbeitswelt kaum zu finden. Zum einen ist das berufliche Sicherheitsbedürfnis spätestens seit der Internetflaute wieder gewachsen. Zum anderen sind auch die sozialen Aspekte eines festen Arbeitsplatzes wichtig.
Fazit: Durch das Internet konnten die Unternehmen Entscheidungskompetenz nach unten delegieren. Dadurch sind die Betriebe zwar flexibler, aber nicht kleiner geworden.
These 12: Das Ende der Konjunkturzyklen
Dank dem Internet steigt die Produktivität, und das bei tiefer Inflation. So können die Zinsen niedrig bleiben, was zusätzliches Wachstum ermöglicht. Also steigen die Aktienkurse weiter – eine greenspansche Glücksspirale, die den endlosen Aufschwung verheisst.
Realität: In der Tat erlebte die Wirtschaft der USA die längste Boomphase der Geschichte: ungebrochenes Wachstum seit 1991. Der kommerzielle Durchbruch des Internets 1996 liess die Produktivität auf fast 3 Prozent steigen, nach 1,4 Prozent zwischen 1975 und 1995. Doch nun rutscht das Land mit der stärksten Internetverbreitung möglicherweise in eine Phase des Nullwachstums. Europa droht das gleiche Schicksal. Und im ersten Quartal des laufenden Jahres wurde in den USA sogar ein Produktivitätsrückgang verzeichnet. «Das Wachstum der Produktivität korreliert stark mit dem Wirtschaftswachstum», erklärt Warburg-Chefökonom Wellershof den Zusammenhang. Schliesslich muss mehr gearbeitet werden, wenn die Auftragsbücher voll sind.
Die neuesten Untersuchungen zeigen, dass der Produktivitätsanstieg durch das Internet minimal sein dürfte. The Brookings Institution kommt auf 0,2 bis 0,4 Prozent in den nächsten fünf Jahren. Bisher hat hauptsächlich die IT-Industrie selber profitiert. Für die anderen Branchen spielt möglicherweise die Zeitverzögerung eine Rolle: «Softwaresysteme zur betrieblichen Steuerung haben die Produktivität gesteigert, das Internet noch nicht», sagt Elmar Wiederin, Schweizer Chef der Boston Consulting Group (BCG). «Der Produktivitätsschub durch das Internet und die Digitalisierung der internen Prozesse wird erst kommen.» Momentan schlagen noch die gewaltigen Kosten für den Aufbau der IT-Systeme zu Buche.
Fazit: Wie stark die Produktivität durch das Internet wirklich steigt, lässt sich noch nicht sagen. Aktuell flacht das Internet aber die Konjunkturzyklen keineswegs ab oder setzt sie gar ausser Kraft.
Das Ergebnis ist ernüchternd: Nur wenige Paradigmen der New Economy, welche die Wirtschaftswelt dramatisch hätten verändern sollen, sind eingetroffen. Und wenn, dann meist erst ansatzweise. Die Kernannahme, dass das Internet das Leben der Menschen auf den Kopf stellen würde, erweist sich bislang als unzutreffend. Das Internet ist kein Business, keine Economy, keine Industrie, sondern ein Medium. Eines, das die Kommunikation extrem vereinfacht, verbilligt und beschleunigt. Nicht mehr und nicht weniger.
Als solches revolutioniert das Netz jene In-dustrien, die hauptsächlich von Kommuni-kation abhängen, wie die Finanz- oder die Medienwelt. Andere Wirtschaftszweige profitieren ebenfalls von der neuen Technologie, zum Beispiel durch bessere Verknüpfung mit Kunden und Lieferanten. Aber bis sich ihr Geschäftsumfeld revolutioniert, wird es noch Jahre dauern. Der Grund ist ein zutiefst menschlicher: «Es ist eine riesige Managementaufgabe, die Leute im Geschäftsleben an etwas Neues zu gewöhnen, solange das Alte noch funktioniert», sagt BCG-Chef Wiederin. Gleiches gilt für den privaten Umgang mit dem Internet: «Erst in zehn Jahren wird sich das markant ändern, denn dann werden Konsumenten mit dem Internet aufgewachsen sein», sagt Insead-Professor Levy.
Die Evangelisten der New Economy unterlagen dem klassischen Perspektivfehler: «Die kurzfristigen Folgen werden überschätzt, die langfristigen unterschätzt», sagt Guy de Panafieu, Chef des französischen IT-Konzerns Bull. Bei der Erfindung des Flugzeugs dachte man auch, bald werde jeder mit seinem persönlichen Propeller zur Arbeit oder zum Einkaufen fliegen. Aber die Globalisierung, die durch das Flugzeug eingeleitet wurde, hat niemand kommen sehen.
Ähnliches gilt für das Internet. Täglich werden über sieben Millionen neue Websites aufgeschaltet. Inzwischen dürfte das Total bei fünf Milliarden liegen. Der technische Fortschritt wird sein Übriges tun: Je mehr sich Breitbandanschlüsse auch daheim durchsetzen, desto mehr Zeit wird der Surfer im Internet verbringen, dort einkaufen, spielen oder sich weiterbilden. Und die Zahl der mobilen Surfer wird mit den neuen Mobilfunkgenerationen noch zunehmen – bereits heute gibt es weltweit deutlich mehr Handys als Computer. Und mehr Surfer bedeuten mehr Kunden und damit grössere Erfolgsaussichten für Geschäftsideen, die heute im Internet vielleicht noch zum Scheitern verurteilt wären.
An der Sprengkraft des Internets für die Wirtschaftswelt ändert sich trotz der gegenwärtigen Depression wenig. «Genauso gut hätte man in den Dreissigerjahren des 19. Jahrhunderts sagen können, dass die Industrialisierung vorbei ist, weil ein paar Textilfabriken in Manchester Bankrott gegangen sind», sagt Futurologe Toffler. Am Ende überdauerte das Industriezeitalter 250 Jahre.
Die New Economy ist tot, lang lebe die New Economy!
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