Müsste ich im Einzelfall einen Entscheid fällen, der meine Firma betrifft, so wäre ich ohnehin von Gesetzes wegen verpflichtet, in den Ausstand zu treten», sagt Gisèle Girgis, Mitglied der Migros-Geschäftsleitung und Leiterin des Departements Personal, Kulturelles, Soziales und Freizeit. Sie übernimmt kommenden September den Posten der Delegierten für die wirtschaftliche Landesversorgung der Schweiz (BWL) im Volkswirtschaftsdepartement. Sie sehe keinen Interessenkonflikt.

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Obwohl mit Girgis nun eine Partei des Schweizer Lebensmittel-Duopols die Schirmherrschaft der wirtschaftlichen Landesversorgung übernimmt, gibt man sich bei Konkurrentin Coop gelassen. «Vor zehn Jahren waren die Pflichtlager noch immens wichtig, doch heute haben sie ihre Bedeutung verloren», sagt Felix Wehrle, Coop-Informationschef. Sie seien ein alter Zopf. Heute dürfte noch knapp ein Viertel von dem gelagert werden, was vor einem Jahrzehnt noch in die Lager gehörte.

Abgegolten durch den Bund, führen die beiden Detailhändler so genannte Pflichtlager für Güter, die in einer Krise knapp werden. Bisher sollten diese Lager für Nahrungsmittel wie auch jene für Öl, Benzin und andere Rohstoffe einen Viermonatsverbrauch garantieren. Girgis ist in dem Public-Private-Partnership die Vermittlerin zwischen der Landesversorgung und der Privatwirtschaft.

Der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse stellt sich hinter die Wahl von Girgis. Rudolf Walser, Geschäftsleitungsmitglied von Economiesuisse, sagt: «Frau Girgis ist sich sicher bewusst, dass ihre Entscheidungsunabhängigkeit und damit ihre Akzeptanz in der Wirtschaft nur dann gegeben ist, wenn sie ihren Auftrag in völliger Unabhängigkeit durchführt.»

Pflichtlager verlieren Bedeutung

Laut Walser ist ein sinkender Selbstversorgungsgrad zugunsten der Handelsliberalisierung in Kauf zu nehmen (siehe «Handelszeitung» Nr. 33 vom 17. August 2005). Es gebe keinen numerisch festgelegten Selbstversorgungsgrad, den die Schweizer Landwirtschaft erbringen müsste. Walser: «Es ist nicht so, dass Economiesuisse keine Eigenversorgung mehr will, doch die Eigenversorgung müssen wir durch eigene Leistungen erreichen und nicht durch Massnahmen an der Grenze.»

Angesichts des sinkenden Selbstversorgungsgrads der Schweiz bei der Nahrung (siehe Faktenkasten) müsste das Management der Pflichtlager immer wichtiger werden. Doch dem ist nicht so. Der Bund hat die Ausgaben des BWL seit Anfang Jahr um 1 Mio Fr. gekürzt. Derzeit wird zudem die neue Strategie für das BWL überprüft.

Nach der Straffung der Organisation aufgrund der veränderten politischen und wirtschaftlichen Risikolage in den letzten Jahren erwägt der Bundesrat heute eine vollständige Ausgliederung der Funktionen des BWL in eine selbstständige öffentlich-rechtliche Körperschaft, um das Bundesbudget weniger zu belasten.

Fest steht bereits, dass sich die wirtschaftliche Landesversorgung angesichts der Globalisierung vermehrt auf die Sicherstellung lebenswichtiger Transport- und Kommunikationsinfrastrukturen konzentrieren soll. Details über die künftige Strategie sind Girgis noch nicht bekannt. Girgis : «Der Bundesrat hat im Herbst 2003 eine grundlegend neue Strategie der wirtschaftlichen Landesversorgung verabschiedet, die eine weitgehende Abkehr von der traditionellen Versorgungsphilosophie bedeutet.» Derzeit werde diese Strategie auf ihre Aktualität hin überprüft.

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Fakten: Wirtschaftliche Landesversorgung

Die Verfassungsgrundlage

Laut Bundesverfassung (Art. 102) stellt der Bund die Versorgung des Landes mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen sicher für den Fall machtpolitischer oder kriegerischer Bedrohungen sowie in schweren Mangellagen, denen die Wirtschaft nicht selbst zu begegnen vermag. Er trifft vorsorgliche Massnahmen. Er kann nötigenfalls vom Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit abweichen.

Der Selbstversorgungsgrad

der Schweiz liegt mit 59% deutliche unter dem internationalen Durchschnitt und ist in den letzten Jahren stets zurückgegangen (siehe Tabelle). 59% heisst: Die Inlandproduktion vermag für 59% der täglich benötigten 2300 Kalorien (eine Richtgrösse) pro Person der Gesamtbevölkerung aufzukommen.

Kosten

Die Organisation der Wirtschaftlichen Landesversorgung kostet den Steuerzahler knapp 1 Fr. pro Jahr. Die Kosten für Pflichtlager werden auf die Verkaufspreise überwälzt und betragen zum Beispiel beim Benzin rund 0,5 Rp. pro l. Für diesen «Versicherungsbeitrag» haben Bevölkerung und Wirtschaft die Gewissheit, in Krisen mit lebensnotwendigen Gütern versorgt zu werden.

Energie

Rund drei Viertel der in der Schweiz verbrauchten Energie werden aus Erdöl und Erdgas gewonnen. Beides müssen wir zu 100% aus dem Ausland importieren.