Herr Bodson, Sie waren bei EMI Music, bei Amazon und bei Sainsbury’s Argos, bevor Sie zu Novartis kamen. Ihr Eindruck: Wo steht die Biotech-Industrie in Sachen Big Data und Digitalisierung?
Bertrand Bodson: Man spürt, dass grosse Veränderungen auf uns zukommen; man spürt es überall. Daten, Forschung und Technologie finden zueinander. Die Märkte, in denen ich früher gearbeitet habe, haben wesentliche Veränderungen durchgemacht, und nun zeigen sich dieselben Zeichen im Gesundheitsbereich, wo Unternehmen wie Google, Microsoft und Amazon in diesen Bereich vordringen. Amazon macht einige ihrer Server fit für die Gesundheitsindustrie. Microsoft arbeitet an Technologien im Bereich Cloud Computing und künstlicher Intelligenz. Google ist schon lange im Gesundheitssektor aktiv. Zudem gibt es viele interessante Startups. Es ist viel in Bewegung, und ich freue mich darauf, zu sehen, was wir bei Novartis dank Daten und Digitalisierung erreichen können.
Eines Ihrer ersten Projekte war ein AI-Tool für Verkaufsleute. Worum geht es?
Unsere 20'000 Pharmareferenten interagieren mehr als 100'000 Mal pro Tag mit Ärzten. Ziel ist es, ihnen KI-gestützte prädiktive Analyseinstrumente zur Verfügung zu stellen, die den «bestmöglichen nächsten Schritt» vorschlagen. So soll die Zeit, die Pharmareferenten zusammen mit den Ärzten verbringen, so individuell und nützlich wie möglich gestaltet werden.
Alle sprechen von Big Data und Digitalisierung bei Forschung und Entwicklung. Warum gingen Sie als erstes das Marketing an?
Als ich im Januar anfing, stellte ich bald fest, dass unsere digitale Transformation die ganze Organisation einschliessen muss, das heisst Forschung und Entwicklung, Produktion und Vertrieb. Nun war es einfach so, dass in Produktion und Vertrieb mehr Potenzial an der Oberfläche sichtbar war, das genutzt werden kann. Zudem stehen über die nächsten drei Jahre zwölf grosse Produktlancierungen auf dem Plan. Ziel ist es, Datenwissenschaft und digitale Technologien zu nutzen, um diese Medikamente viel schneller auf den Markt zu bringen und ein besseres Kundenerlebnis zu ermöglichen.
Wie weit sind Sie mit der Implementierung?
Wir rüsten bereits in sechs Ländern Pharmareferenten aus, die auf die zwei Schlüsselmarken Entresto und Cosentyx spezialisiert sind, nämlich in den USA, Japan, China, Spanien, Frankreich und Deutschland. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, bis Ende des nächsten Jahres 10'000 Pharmareferenten mit dem System auszustatten.
Ihr Flaggschiff-Projekt bei Forschung und Entwicklung ist Sense, eine Plattform zur 1:1-Überwachung klinischer Studien. Woher kam die Inspiration?
Das Team liess sich von der Luftfahrtindustrie inspirieren, wo die Flugsicherung gleichzeitig komplexe Flugpläne und Operationen steuern muss. Das war sehr eindrücklich. Bei Sense geht es darum, riesige Datenmengen an einem Ort zusammenzuführen, sodass die Teams Herausforderungen in klinischen Studien früh vorhersehen können. Welche Spitäler haben bisher keine Patienten registriert? Liegen wir im Zeitplan? Die Teams können dann auf intuitive und benutzerfreundliche Weise auf diese Informationen zugreifen, auch auf dem morgendlichen Arbeitsweg.
Was ist das Ziel?
Ziel ist es, die Medikamentenentwicklung effizienter zu machen, die Risiken zu minimieren und die Zeit bis zur Markteinführung zu verkürzen. Zurzeit kostet die Entwicklung eines neuen Medikaments 2,5 Milliarden Dollar und dauert zwölf Jahre. Dies ist nicht nachhaltig. Wir müssen Probleme besser voraussehen, und wir beobachten bereits, dass dies geschieht. Die Diskussionen im Team sind schon viel schneller und dynamischer geworden. Die Tatsache, dass all diese Diskussionen überhaupt stattfinden, ist schon fantastisch. Ich bin besonders stolz auf das Team, denn es ist ein grossartiges Beispiel dafür, wie passionierte Menschen echten Unternehmergeist zeigen.
Immer mehr Informationen kommen heute aus der wirklichen Welt und nicht aus den klinischen Studien. Ist es denkbar, Real World Evidence in Sense zu integrieren?
Ja, das ist denkbar. Wir arbeiten zurzeit daran, alle Studiendaten aus der Vergangenheit zusammenzuführen und um Informationen aus dem Praxisalltag zu ergänzen. Wir führen jedes Jahr mehr als 500 klinische Studien durch und verfügen über mehr als zwei Millionen Patientenjahre an Studiendaten. Zudem legen wir zunehmend Gewicht auf Daten aus dem realen Praxisalltag und fordern unsere Teams dazu auf, so oft wie möglich zuerst Sekundärdaten zu verwenden. Zusammen repräsentiert dies ein riesiges Datenkapital, das wir besser verwerten können, um neuartige Endpunkte und neue Patientengruppen zu finden und die Art, wie wir Medikamente entwickeln, neu zu denken.
Welche Vorteile versprechen Sie sich von einer besseren Verwertung der Daten?
Wir verwalten mehr Daten als je zuvor und diese sind komplexer als früher. Wir konzentrieren uns darauf, schneller und genauer zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. In der Forschung hat die Beschleunigung durch die Datenwissenschaft die Möglichkeit eröffnet, Erkenntnisse zu gewinnen und Muster zu finden, deren Entdeckung ausserhalb der traditionellen menschlichen Fähigkeiten liegt. Es ist ein aufregendes Gebiet und wir sind begierig darauf, es weiter zu erkunden. Deshalb haben unsere Datenwissenschaftler sich mit dem Technologie-Start-up PathAI zusammengetan, um einem KI-System beizubringen, dieselben Muster zu sehen, die ein Pathologe sieht. Dies ist Bestandteil umfassenderer Bemühungen bei Novartis, Daten und Digitaltechnologien wirksam einzusetzen, sodass die Entwickler von Medikamenten ihre Wirkstoffe schneller auf den Markt bringen können – dazu fühlen wir uns zutiefst verpflichtet.
Worin bestehen die Unterschiede zwischen Retail und Tech – also den Industrien, wo Sie vorher waren – und Biotech?
Im Einzelhandel sehen Sie am nächsten Tag, ob eine Massnahme wirksam ist oder nicht. Dies ist in der Biotechnologie anders, denn die Zyklen sind länger. Im Einzelhandel dreht sich zudem alles ausschliesslich um die Kunden. Ich ermutige unsere Digitalteams, Patienten und Ärzte zu treffen, wo immer diese sind. Zudem sollen sie vermehrt darüber nachdenken, wie Daten und Digitalisierung für relevantere Kundenerlebnisse genutzt werden können – von der Zusammenarbeit mit Firmen wie Pear Therapeutics zur Entwicklung digitaler Therapieformen für Suchtkranke bis hin zur Erkundung neuer Arten, auf medizinisches Fachpersonal zuzugehen.
Novartis ist zahlreiche Kooperationen mit Tech-Unternehmen und Startups eingegangen in den vergangenen Jahren. Wird das so bleiben oder sind Sie daran, diese Kompetenzen im Haus aufzubauen?
Wir tun beides. Ich glaube fest daran, dass Partner uns helfen können, unsere digitale Transformation zu beschleunigen. Es gibt Gebiete, in denen Start-ups ganz einfach mehr Erfahrung haben. Nehmen Sie die Cloud-Infrastruktur als Beispiel. Es ergibt für uns keinen Sinn, hier eigene Plattformen aufzubauen. Gleichzeitig erweitern und stärken wir unsere internen Kapazitäten. Zurzeit arbeiten ungefähr 1000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bereich Daten und Digital, einschliesslich 250 Datenwissenschaftler, die im Novartis Institute of Biomedical Research (NIBR), unserer globalen Forschungsorganisation, tätig sind. In meinem Team haben wir mit Raj Patil kürzlich einen neuen Head of Data Strategy engagiert. Er hat zuvor für Google und in der Bankenbranche gearbeitet. Shahram Ebadollahi, unser neuer Head of Data Science and AI, war «Employee Number One» bei IBM Watson Health, bevor er vor zwei Monaten zu uns stiess. Es geht darum, unsere internen Mitarbeitenden und unsere fundierte Forschungskompetenz durch externe Ressourcen zu verstärken, die über Erfahrung im Umgang mit der digitalen Transformation verfügen.
Sie selbst leben und arbeiten in Basel. Wo werden Sie diese Kapazitäten aufbauen?
Es ist ein Mix. Ich bin zusammen mit meinem Team hier. Das Sense-Team ist hier. Wir haben aber auch grössere Kapazitäten im Bereich Data und Digital in Dublin. Und wir sind in Boston, wo sich im Umfeld des MIT der wahrscheinlich wichtigste Talent-Pool befindet. Ausserdem haben wir weitere Kapazitäten in Indien. Der Schlüssel liegt darin, immer dahin zu gehen, wo man die besten Mitarbeitenden findet.
Was hat es mit Biome auf sich, Ihrer Startup-Initiative?
Biome entstammt dem Bedürfnis, besser mit Start-ups und dem Health-Tech-Ökosystem insgesamt in Kontakt zu treten. Biome ist ein digitales Innovationslabor mit einer Reihe offener Innovationsfragen, die Start-ups und Business-Sponsoren zusammenbringen. Die Business-Sponsoren bieten Mentoring, anonymisierte Datensätze, massgeschneiderte Studienpläne und die Gelegenheit, Validationsstudien im klinischen Setting durchzuführen, sodass wir zusammen skalierbare digitale Lösungen entwickeln können.