Kritik und Unverständnis am derzeit teuersten Medikament der Welt zu hören, ist für Alice Huisman (42) Alltag. Als Chefin von Novartis Gene Therapies Schweiz verantwortet sie seit Februar unter anderem die neue Gentherapie Zolgensma gegen die lebensbedrohende spinale Muskelkrankheit (SMA). Der Preis: 2,1 Millionen Franken.
Wenn sich die Holländerin dafür starkmacht, dass die neuartige Gentherapie in der Schweiz offiziell zugelassen wird, hat sie auch die Kinder in den USA vor Augen, die bereits seit fünf Jahren mit Zolgensma behandelt werden. «Diese Kinder, deren Lebenserwartung keine zwei Jahre betrug, starten inzwischen ganz normal die Schule», sagt sie im Interview auf dem Novartis Campus in Basel. Huismans Augen strahlen.
Schon in jungen Jahren von Genetik fasziniert
Eigentlich ermöglicht die Therapie ein Wunder. Aber Huisman ist zu sehr Wissenschaftlerin, um von Wundern zu sprechen. Vor allem weiss sie als Genetik-Spezialistin genau, welcher Fehler bei welchem Gen die schlimme Krankheit verursacht.
Die Genetik hat sie schon als Teenager in Bann gezogen hat. «Im Biologieunterricht lernte ich, dass ich Gene mit mir herumtrage, die mein Wesen bestimmen. Das hat mich nicht mehr losgelassen», erklärt sie. Sie studierte dann in London Genetik. Ausgerechnet in ihrem Abschlussjahr hätten Forscher die erste grosse Landkarte des menschlichen Genoms erstellt.
In ihren Jobs bei Novartis in England, Italien, den USA und in der Schweiz erlebte sie den Quantensprung in der Genetik seither hautnah. «Während es für die Entschlüsselung des menschlichen Genoms zehn Jahre und 3 Milliarden US-Dollar brauchte, können heute die bis zu 25'000 Gene innert Wochen für weniger als 1000 Franken entziffert werden», führt Huisman aus.
In der Schweiz sind vier Gentherapien auf dem Markt
Gleichzeitig entwickelten Firmen wie die Novartis-Tochter Gene Therapies erstmals Gentherapien. Von der Behörde zugelassen in der Schweiz sind bisher vier.
Allein Novartis Gene Therapies hat sechs weitere Gentherapien in der Pipeline. Sie kommen gegen seltene Motoneuron-Krankheiten zum Einsatz – diese beeinträchtigen über das zentrale Nervensystems die Kontrolle der Muskeln. «Noch befinden wir uns mit Gentherapien in der Pionierphase, doch wir glauben, sie künftig breit einsetzen zu können», sagt Huisman.
Doch während Zolgensma in den USA schon zugelassen ist, steht in der Schweiz immer noch das Okay der Heilmittelbehörde Swissmedic aus. Wieso hinkt die Schweiz hinterher? «Vieles, was wir jetzt machen, wurde vorher noch nie gemacht. Die Prozesse sind neu, aber nicht langsam», sagt Huisman. Sie erlebe die Schweizer Behörden als sehr konstruktiv.
Novartis will Crowdfunding für Medikamente verhindern
Trotzdem, in der Schweiz ist noch weit und breit keine nachhaltige Finanzierungslösung für solche teuren Gentherapien in Sicht. Etliche verzweifelte Eltern von Babys mit SMA in der Schweiz sahen sich gezwungen, das Geld für die Therapie mittels Crowdfunding zu sammeln. In der Schweiz können Ärzte beantragen, noch nicht zugelassene Therapien im Off-Label-Use einzusetzen.
Die Not dieser Familien setzt Huisman zu: «Ich kann mir fast nicht vorstellen, wie es für Eltern ist, zuerst die Krankheit des Kindes verdauen zu müssen. Und sich dann noch gezwungen zu fühlen, selber Geld zu sammeln für die Therapie.»
Novartis wolle das vermeiden und sei deshalb mit Hochdruck daran, das Produkt für Kinder bis zwei Jahre überall auf der Welt zu registrieren und nationale Rückerstattungslösungen zu finden. Nur so könnten Crowdfunding-Fälle verhindert werden, betont Huisman. Auf Märkten ohne Zulassung hätte das sogenannte Managed Access Programm das Crowdfunding eindämmen können. Über das Programm verloste Novartis seit Februar 100 Zolgensma-Therapien.
Schweizer Kinder sollen auf Alternativen ausweichen
Kinder in der Schweiz sind für die Verlosung seit dem Sommer nicht mehr zugelassen. Pro Jahr kommen hierzulande rund acht Kinder mit der Krankheit auf die Welt. Novartis hat das Programm auf die Kritikwelle überarbeitet, wie Huisman sagt. Vor allem, dass es zu breit gestaltet sei, sei bemängelt worden.
Neu werde das Programm auf Kinder beschränkt, die überhaupt keinen Zugang zu SMA-Medikamenten hätten – das hätten Patientenorganisationen gefordert. «Da es in der Schweiz neben Zolgensma gut zugängliche alternative Medikamente gibt, erwarten wir aus der Schweiz keine Bewerbungen mehr», führt Huisman aus.
Gesundheitssystem muss bei Finanzierung über Bücher
Im Sommer erzielte Novartis mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) immerhin eine Übergangslösung für die Finanzierung der Therapie. Das BSV, das für Geburtsgebrechen bis zum 21. Altersjahr aufkommt, übernimmt bei neu diagnostizierten Kindern seither die Therapie mit Zolgensma, wenn der Arzt es als beste Wahl sieht.
Wegen des hohen Preises braucht es für Zolgensma, aber auch andere und künftige Gentherapien sowieso neue Preis- und Bezahlmodalitäten. Sobald Swissmedic grünes Licht gibt, will Novartis mit den Schweizer Behörden Preismodelle besprechen. «Möglich sei zum Beispiel eine gestaffelte Bezahlung oder ein Preis, abhängig vom Resultat», erklärt Huisman.
Der Nutzen ist laut Huisman im Fall von SMA ziemlich klar – die betroffenen Kinder hatten früher eine Lebenserwartung von nur zwei Jahren. Weiter: «Jetzt sehen wir eine Generation von Kindern mit SMA, die ganz neuen Perspektiven hat.»
Huisman fordert neue Regeln für seltene Krankheit
Glaubt Huisman, dass man festlegen kann, was ein Menschenleben wert ist? Das sei eine philosophische, ethische Frage, findet sie. Theoretisch sei es möglich. Aber ob man das als Gesellschaften tun möchte, sei eine Frage des öffentlichen Diskurses und eine grosse Herausforderung für das Gesundheitswesen.
Was für Huisman nicht zur Debatte steht, ist die Notwendigkeit, SMA hierzulande auch in die Frühgeborenen-Tests aufzunehmen. Die frühzeitige Behandlung machen den grössten Unterschied für die Prognose der Kinder. In den US-Staaten mit SMA-Frühtests zeigten Therapien in den ersten sechs Wochen, dass sich die Kinder ganz normal wie andere Kinder entwickeln. Huisman: «Das wollen wir auch in der Schweiz ermöglichen.»
Dieser Artikel erschien zuerst beim «Blick» mit dem Titel: «Nur für die Finanzierung hat sie kein Rezept».