Wenn am kommenden 24. April, einem Samstag, die Aktionäre der AG für die Neue Zürcher Zeitung zur GV ins Zürcher Kongresshaus strömen, wird es sein wie immer. Als wärs ein zweites Sechseläuten – nur verzichten die rund 1500 Kapitalgeber der Zeitung auf Trachtenkleider. Wie die Zünfter blickt das Haus NZZ auf eine gloriose bürgerliche Vergangenheit zurück, als der Freisinn noch die Macht im Staate und die NZZ ihr politisches Sprachrohr war.
Tempi passati: Die Zünfte sind längst zu Folklorevereinen verkommen. Und die NZZ? Sie leidet am Niedergang der Freisinnig-Demokratischen Partei der Schweiz, und die Schwindsucht der Partei knabbert am publizistischen Selbstverständnis der Zeitung. Was bleibt, ist Ritual: Hugo Bütler, Vorsitzender der NZZ-Gruppenleitung und seit knapp einem Jahrzehnt Schriftleiter des Blatts, pflegt im Kreis der Aktionäre eine weitschweifende Rede zu halten. Nicht selten schlägt der publizistische Kopf des Hauses dabei einen Bogen von der grossen weltpolitischen Bühne zu Skandälchen im heimischen Hinterland. Böse Zungen behaupten, der Chef feile an der GV-Ansprache länger als an jedem Leitartikel. Im zweiten Teil der Klassenzusammenkunft der Aktionäre dürfen sich sogar NZZ-Redaktoren zu den honorigen Kapitalgebern gesellen, und wer es in der redaktionellen Hackordnung weit genug gebracht hat, dem winkt möglicherweise sogar ein Platz neben einem Bundesrat.
Ein grosses Privileg, denn schliesslich ist hier eine exklusive Gesellschaft versammelt – im Normalfall betuchte Damen und Herren: Eine der insgesamt 4000 Aktien kostet derzeit rund 90 000 Franken; Ende 2000 war das Papier noch knapp eine viertel Million Franken wert. Geld allein genügt freilich nicht: Die richtige politische Gesinnung muss schon sein, ein Parteibuch der FDP oder zumindest ein schriftliches Bekenntnis zu liberalem Gedankengut. Dann ist ein Eintrag ins Aktienregister möglich und Selbstbeschränkung Pflicht: Kein Kapitalgeber darf mehr als 40 der Titel in seinem Besitz halten. Tradition geht hier über Profitdenken.
An der letztjährigen Generalversammlung, als VR-Präsident Conrad Meyer in diesem Kreise einen Konzernverlust von knapp 50 Millionen Franken bekannt geben musste, meldeten sich drei Aktionäre zu Wort. Sie geisselten nicht etwa die tiefroten Zahlen oder den Dividendenverzicht, sondern äusserten Besorgnis darüber, ob angesichts dieses Verlustes die Qualität der Publizistik im Hause erhalten bleiben könne. Das ehrt die Fragesteller, und doch zielt das Statement der Aktionäre haarscharf am Kern der Probleme vorbei. Die Krise des Hauses ist nicht primär finanzieller Natur, und Conrad Meyer wird an der kommenden Aktionärsversammlung denn auch ein markant besseres Konzernergebnis vorweisen können. Die Krise liegt tiefer, ist politischer und kultureller Art.
Die NZZ pflegte einst den Habitus des einzigen Weltblattes im Land; bis zu Beginn der Neunzigerjahre war sie die wichtigste politische Publikation, das Zentralorgan des wirtschaftlichen Establishments, das sich politisch meist in der FDP organisierte. Zwischen Partei und Zeitung bestand über Jahrzehnte eine symbiotische Beziehung, das Blatt fungierte als eigentlicher Think-Tank für die FDP. «Die Positionen der NZZ», sagt ein ehemaliges Schwergewicht der Partei, «haben wir meist unreflektiert übernommen.»
Dieser Gleichschritt zwischen Partei und Publizistik kam aus dem Takt, als mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges die geopolitischen Gewichte ins Rutschen gerieten. Der Ost-West-Gegensatz und der Kampf zwischen sozialistischer und kapitalistischer Ideologie, einst Stoff Seiten füllender Abhandlungen in NZZ-Leitartikeln und politischer Kitt im FDP-Lager, hatten als gemeinsames Sinn stiftendes Element plötzlich ausgedient. Seither kämpft die Partei gegen den drohenden Absturz in die Bedeutungslosigkeit und die Zeitung gegen den Verlust ihrer Stellung als politisches Leitmedium für das staatstragende Bürgertum.
Beide, Partei wie Zeitung, verharren in Ratlosigkeit: «Die alten Denkschemen wirken nach», sagt eine ehemalige FDP-Leitfigur über Leibblatt und Partei, «alles wird noch immer nach den alten Lagern aufgeteilt.» Als im vergangenen Herbst die SVP an den Urnen einen Erdrutschsieg errang, wurde im Hause NZZ die Parole ausgegeben, «es wäre wieder einmal Zeit, im Blatt eine Debatte zum Liberalismus zu führen», wie ein Redaktor berichtet. Dies in der Zeitung, die sich einst als Speerspitze des Liberalismus verstand.
FDP und NZZ sind zu einer unheiligen Allianz mutiert, endgültig sichtbar für das ganze Land, seit Exponenten des Verwaltungsrates der honorigen Zeitung in den Strudel des Swissair-Konkurses gerissen wurden.
Hannes Goetz etwa, langjähriger Aufsichtsrat an der Falkenstrasse und als einstiger Präsident der nationalen Airline massgeblich verantwortlich für die grösste Pleite in der Schweizer Wirtschaftsgeschichte, sass bis im April 2002 im NZZ-Verwaltungsrat. Eric Honegger, FDP-Politiker, Bundesratssohn und zweitletzter Präsident der Airline, hatte weniger Fortüne. Am 10. März 2001 veröffentlichte die NZZ ein Interview mit Honegger, das in den Leserbriefspalten als das identifiziert wurde, was es offensichtlich auch war: als Versuch, den eigenen Präsidenten im eigenen Blatt weisszuwaschen. Genützt hat es wenig – kurz darauf trat Honegger als Präsident bei Swissair und NZZ zurück. Die persönlichen Beziehungen zu den Wirtschaftsexponenten der FDP hatten sich für das Blatt endgültig zur Hypothek ausgewachsen.
Das haben die Strategen an der Falkenstrasse mittlerweile erkannt: Still und leise werden die Bande zum traditionellen FDP-Wirtschaftsestablishment gelöst, und der Organismus der NZZ wird von oben her mit Frischzellen infiltriert. Es war Ulrich Bremi, als ehemaliger NZZ-Präsident und FDP-Vordermann so etwas wie die Personifizierung der Symbiose von Zeitung und Partei, der mit Conrad Meyer eine von der Vergangenheit unbelastete Figur in den Aufsichtsrat holte. Meyer, der nach dem abrupten Abgang des Präsidenten Eric Honegger das personelle Vakuum an der NZZ-Spitze zu füllen hatte, ist weniger ein Homo politicus. Der Professor für Betriebswirtschaftslehre und Direktor des Instituts für Rechnungswesen und Controlling an der Universität Zürich ist ein in erster Linie ökonomisch denkender Kopf. Dass die jahrzehntelang unterhaltene und zum Dogma erstarrte mentale Connection zur ehemals staatstragenden Partei nun aufgebrochen werden soll, gehört wohl zu seinem Pflichtenheft, und es ist kaum Zufall, dass zumindest im VR-Gremium die Säkularisation des Blattes kaum mehr Widerspruch provoziert.
Es passt ins Bild, dass der erste Entscheid des neuen Präsidenten auch in dieser Hinsicht Signalwirkung hatte: die Lancierung der «NZZ am Sonntag» im Jahre 2002. Seither tobt der Kulturkampf zwischen Haupt- und Schwesterblatt, und die Falken an der Falkenstrasse gehen in Position: «Die Geschäftsleitung glaubt offenbar nicht mehr an die NZZ», meint ein Redaktor, «und setzt lieber auf die Sonntagsausgabe.» Ältere Edelfedern im Hauptblatt fürchten, die neue publizistische Stimme im eigenen Hause könnte sonntags politische Positionen aufweichen, die werktags noch eisern verteidigt werden.
Beispiel Gerhard Schwarz: Der Ressortleiter der gewichtigsten Wirtschaftsredaktion des Landes pflegt das ökonomische Dogma, dass eine steigende Staatsquote Gift sei für eine prosperierende wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Im vergangenen November kam es in dieser Frage zum Sündenfall: Die «NZZ am Sonntag» rückte einen Artikel über eine OECD-Studie ins Blatt, der gemäss Länder mit einer massiv höheren Staatsquote ein deutlich dynamischeres Wirtschaftswachstum auswiesen als die heimische Volkswirtschaft. Die Sonntagsausgabe polemisierte gar ausdrücklich gegen «die fundamentalistische Denkweise der Anti-Etatisten». Wenn diese nämlich Recht hätten, müsste ein Land wie Schweden «eigentlich längst bankrott, seine Bewohner verhungert sein». In Wahrheit weise das Land jedoch beträchtliche Wachstumsraten aus.
In jedem anderen Verlag wäre eine ideologische Vielfalt Teil der publizistischen Strategie. Die NZZ jedoch tut sich schwer damit. Als die «Wochenzeitung» Gerhard Schwarz zum Geschriebenen im Sonntagsblatt befragte, donnerte er zurück, ihn habe die Kernaussage des Artikels nicht überzeugt. Dass diese auf einer wissenschaftlichen Studie fusse, stimmte ihn keineswegs milder: «Ich bin nicht so empiriegläubig wie viele moderne Ökonomen», meinte der NZZ-Wirtschaftschef, «für mich sind es eher grundsätzliche Werte, die mich beim Schreiben leiten. Die Gesetze des Marktes, von Angebot und Nachfrage, sind der Kern der Ökonomie. Sie gelten ziemlich universal.» Deutlicher hätte der Platzhirsch Schwarz den Newcomern im Hause die Leviten kaum lesen können.
Er befindet sich in guter Gesellschaft. Einen scharfen Verweis gab es nur wenige Wochen später, und diesmal war es Beat Brenner (Kürzel: bb.), ein Urgestein in der NZZ-Wirtschaftsredaktion, der die «NZZ am Sonntag» ins Visier nahm. Das Blatt hatte berichtet, die niederländische Rabobank werde ihre Beteiligung an der Basler Privatbank Sarasin abstossen. Kaum war der Artikel erschienen, titelte bb. in der Montagsausgabe: «Spekulation ohne handfeste Basis». Brenner brachte quasi ein offizielles Dementi zu Papier, indem er sich auf ein Telefongespräch mit dem Sarasin-Präsidenten Georg Kreyer berief. Deutlicher hätte Brenner die Kollegen kaum ins Leere laufen lassen können.
Die Giftpfeile, abgefeuert von der Falkenstrasse in Richtung Mühlebachstrasse, wo die «NZZ am Sonntag» ihren Redaktionssitz hat, zeugen von einem Kulturkampf in den Redaktionsstuben. Weiter oben freilich, im Verwaltungsrat, haben kommerzielle Interessen den weltanschaulichen Debatten längst den Rang abgelaufen. Vor allem, seit mit Conrad Meyer kein Partei-Exponent mehr als Präsident amtet. Für den obersten Verantwortlichen war die Lancierung der «NZZ am Sonntag» auch keine ideologische, sondern eine strategische Frage, das Haus NZZ am lukrativen sonntäglichen Anzeigenmarkt partizipieren zu lassen.
Ähnlich pragmatisch sehen das andere NZZ-Verwaltungsräte, die in jüngster Zeit im Gremium Einsitz genommen haben. Allesamt sind sie weniger von der rückwärts gewandten NZZ-Tradition imprägniert als von einem vorwärts blickenden Marktverständnis geleitet – Konrad Hummler etwa, geschäftsführender Teilhaber der Privatbank Wegelin & Co., seit 2001 Mitglied im Verwaltungsrat, oder auch Olivier Burger, Besitzer der 120 Jahre alten Bekleidungsfirma PKZ, seit vergangenem Jahr im Aufsichtsrat. Und während der Kulturkampf in den Gängen der Redaktionen noch tobt, denken die Exponenten in den obersten Etagen in ganz anderen Dimensionen. Nachdem sich die «NZZ am Sonntag» besser entwickelt hat als im Businessplan vorgesehen, das Verlustloch beim Berner «Bund» nach dem mehrheitlichen Verkauf an die Berner Espace Media gestopft ist, bleibt ein entscheidender Schritt zu tun: dem ehrwürdigen Hause, in dem neben dem Traditions- und dem Sonntagsblatt auch Regionalblätter («St. Galler Tagblatt» oder «Neue Luzerner Zeitung») samt dazugehörenden Druckereien, Radiostationen und Lokal-TV vereinigt sind, eine zukunftsweisende personelle Führungsstruktur zu verpassen.
Seit einem halben Jahr ist ein Ausschuss des Verwaltungsrats damit beschäftigt, für den breit diversifizierten Konzern die passende Organisationsform für die Zukunft zu entwerfen. Sicher scheint, dass der Chefredaktor der NZZ, der traditionellerweise den Vorsitz der Gruppenleitung innehat, dannzumal an Einfluss einbüssen wird und einem operativen Konzernchef wird weichen müssen.
Den aktuellen Stelleninhaber Hugo Bütler wie auch dessen Alter Ego, Verlagschef Marco de Stoppani, beide knapp 60-jährig, tangieren diese Szenarien wohl nicht mehr. Die neue Zeit in der Geschäftsleitung wird erst dann eingeläutet, wenn beide in Ehren in Pension entlassen sind. Dann, vernimmt man aus den obersten Gefilden des Hauses, ist der NZZ-Konzern gebaut. Und dann, so ist zu vermuten, ist dem Kulturkampf in den unteren Gefilden der Sauerstoff entzogen.