BILANZ: Wie schafft es ein Bauernbub aus dem Solothurner Jura zum «Entrepreneur of the Year» und zum weltweit respektierten Computerbauer?

Anton Gunzinger: Bereits als Bub hat mich alles Elektrische fasziniert; mit sieben Jahren brachte ich Lampen zum Leuchten. Ich wollte Erfinder werden.

Sie sind ETH-Professor und Unternehmer – weil Sie sich nicht entscheiden konnten?

Ich lernte Radioelektriker. Mein Gewerbelehrer, damals Schweizer Schachmeister, riet mir, ans Poly zu gehen. Ich wusste gar nicht, wovon er sprach. Ich besuchte das Technikum in Biel und wechselte an die ETH. Zuerst liebäugelte ich mit einer Akademikerkarriere, aber im Innersten bin ich ein Tüftler. Mein Ziel ist es, etwas zusammenzubauen, das am Ende des Tages funktioniert und einen Nutzen bringt. Nur Theorie oder nur ein Lehrstuhl wäre mir zu wenig. Meine Lehrtätigkeit an der ETH Zürich ist heute eher ein Hobby.

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Kommen Sie heute auf Ihre Rechnung?

Und wie. Im Herzen bin ich Unternehmer. Wir produzieren massgeschneiderte Lösungen. Wir verstehen uns als «Boutique» für spannende, anspruchsvolle Problemstellungen.

Tönt teuer.

Wir können und wollen nicht mit Ingenieuren in Asien mithalten, die für einen Bruchteil unserer Saläre arbeiten. Um das zu kompensieren, liefern wir höchste Qualität und setzen auf grosse Zuverlässigkeit. Kürzlich haben wir das Funksystem der Rettungsflugwacht designt, damit der Heli-Pilot per Knopfdruck mit Spital, Krankenwagen und Rega-Zentrale reden kann, ohne lange Funkfrequenzen suchen zu müssen. Dann haben wir für die SBB ein System gebaut, das überhitzte Bremsbeläge von Güterwagen erkennt, sogenannte Heissläufer oder Festbrenner. So können schwere Unfälle bzw. Entgleisungen vermieden werden.

An der Supercomputing Conference 1992, der Weltmeisterschaft der schnellsten Computer, wurden Sie Zweiter. Das war der Startschuss für Ihr Unternehmertum.

Unser Rechner war eine kleine Weltsensation, weil wir quasi einen «Desktop-Supercomputer» präsentierten. Mit dieser Auszeichnung im Gepäck dachte ich mir: Wir sind gut, jetzt legen wir los.

Anfänglich waren Sie ein schlechter Unternehmer. Ihr grösster Fehler?

Ich dachte, ich müsse den Verkauf an einen Profi delegieren, suchte eine ungeeignete Person aus und vertraute ihr Geld an. Heute bin ich dankbar, dass ich solche Fehler 1993 machte, als die Firma noch klein war. Wenn ich heute Fehlinvestitionen dieser Art tätigen würde, kämen sie ziemlich teuer zu stehen, weil die Beträge gewachsen sind.

Entmutigen liessen Sie sich nicht.

Nein. Wenn die grossen Fehler am Anfang passieren, kann man noch rechtzeitig daraus lernen. Damals gab es an unseren Hochschulen noch keine Managementkurse oder Hilfestellungen für Start-ups. Man stürzte sich als Ingenieur ohne Management-Vorkenntnisse ins Getümmel.

Im ersten Jahr hatten Sie 500 000 Franken Schulden, bei einem Jahresumsatz von 30 000 Franken. Wie macht man das?

Ganz einfach: Man rechnet falsch und geht hohe Risiken ein. Dem Gunzinger von damals würde ich heute sehr geringe Überlebenschancen geben. Das Verrückte war, dass ich als früherer ETH-Doktorand und dann Assistenzprofessor gar kein Geld hatte, als ich meine Firma gründete. Als ich mich von meinem Geschäftspartner trennte, musste ich, um seine Aktien zu übernehmen, einen Kleinkredit aufnehmen und mich völlig überschulden. Eigentlich hätte ich die Bilanz deponieren müssen, aber da ich nichts vom Obligationenrecht Artikel 725 wusste, habe ich es nicht getan.

Jetzt stürzt sich der hochdekorierte Hochleistungsrechner-Experte auf die Energiewende. Keine Nummer zu gross?

Mich treibt eine zentrale Frage um: Können wir unseren Wohlstand mit zehnmal weniger nicht erneuerbarer Energie halten? Gleichen Wohlstand bei fünfmal kleinerem ökologischem Fussabdruck? Diese Fragen sind spannend und sinnvoll. Und vielleicht kann man damit sogar Geld verdienen. Es geht um Nachhaltigkeit und um Fairness, auch unseren Enkeln und Urenkeln gegenüber.

Nachhaltigkeit – ein Allerweltswort.

Ich bin in der Welt herumgekommen und stelle fest: Wir leben in der Schweiz im Paradies. Die Möglichkeiten, die das Land bietet, sind sensationell. Die nächsten Generationen sollen dieselben Chancen haben wie wir. Dazu will ich einen Beitrag leisten.

Was wollen Sie da mit Computern und Software beitragen?

Stichwort dezentrale Energieproduktion, intelligente Netze. Da spielt IT eine wesentliche Rolle.

Sie hausieren mit dem Schlagwort «Plan B oder Faktor 10». Weshalb?

Es geht darum, den Verbrauch von nicht erneuerbaren Ressourcen und den CO2-Ausstoss um den Faktor 10 zu verringern. Bereits vor Fukushima fragte ich mich, ob gleicher Lebensstandard mit zehnmal weniger Ressourcenverbrauch machbar ist. Dann kam die Energiewende dazu.

Weshalb gerade Faktor 10?

Wer Computer zusammenbaut und Software entwickelt, beschäftigt sich nicht mit drei oder dreissig Prozent. Der redet von Faktoren, von Faktor 5 oder Faktor 10. Das Gesetz des Intel-Co-Gründers Gordon Moore besagt: In der Computertechnologie verdoppelt sich die Leistungsfähigkeit innert 18 bis 24 Monaten, also um den Faktor 2. Das wollte ich auf die Energie übertragen; da schlummert ein extremes Potenzial.

Konkret?

Heute können wir Häuser bauen, die sechsmal weniger Heizenergie benötigen als der Standard von 1976. Mit einer Wärmepumpe kann noch einmal Faktor 3 bis 5 an Primärenergie eingespart werden, also zusammen Faktor 15 bis 30 bei gleichem Lebensstandard.

Leben Sie energieeffizient?

Ich versuche es. In bin mit Fahrrad, öV und Elektroscooter unterwegs. Ich bin Vegetarier, verbrenne allerdings die Energie, die ich durch den Fleischverzicht einspare, mit dem Fliegen wieder. Im Moment isoliere ich das Haus meiner Eltern, ich baue eine Fotovoltaik-Anlage und eine Wärmepumpe ein. Am Ende entsteht daraus ein Plus-Energie-Haus.

Ihr Auto?

Ich habe keines.

Kürzlich standen Sie neben einem roten Tesla Roadster, einem Sportwagen, der über 100 000 Franken kostet.

Das ist das Elektroauto der Firma, es steht auch unseren Mitarbeitern zur Verfügung.

Sie behaupten: «Wir können die Schweiz voll mit erneuerbarer elektrischer Energie versorgen.» Im Internet schrieb einer: «Selten so einen Schwachsinn gelesen.»

Ein anderer wollte mich nach Rumänien ausschaffen. Im Ernst: Heute glauben sogar Exponenten von Swissmem und Economiesuisse, dass dieser Plan funktionieren könnte. Der Streitpunkt sind die Kosten. Die Wirtschaft geht davon aus, dass die volkswirtschaftlichen Kosten zu hoch sind. Doch unsere Berechnungen zeigen, dass die Stromversorgung aus Kernenergie im Vergleich zu Solar- und Windenergie sowie Biomasse volkswirtschaftlich etwa gleich teuer ist. Rechnet man noch Risiko und Entsorgung mit ein, ist die Kernenergie am teuersten.

Sie gehen von einem neuen Benzinpreis von 11.62 Franken aus, also Faktor 5. Eine Energiewende mit tiefen volkswirtschaftlichen Kosten sieht anders aus.

Es geht um volle Kostenwahrheit in der Mobilität. Die Strasseninfrastruktur sollte nicht mehr subventioniert werden. Heute werden via Benzinpreis nur die Kosten der Nationalstrassen abgedeckt. Bei voller Kostenwahrheit läge der Benzinpreis bei fünf bis sechs Franken, und die Steuern könnten um 20 bis 40 Prozent gesenkt werden. Doch zusätzlich sollten wir unser Mobilitätsverhalten ändern: 1960 sassen im Schnitt 2,4 Menschen in einem Auto, heute sind es 1,1 Personen. Zudem wogen die Autos damals im Schnitt 700 Kilo, heute sind es 1,4 Tonnen. Mit anderen Worten: Heute muss viermal so viel Masse pro Person bewegt werden. Ein Elektro-Smart oder ein Tesla verbraucht fünf- bis zehnmal weniger Energie als das heutige Durchschnittsauto. Wenn wir genügend Zeit geben für die Umstellung, hat jeder die Möglichkeit, beim nächsten Autokauf ein sparsames und somit kostengünstigeres Modell zu wählen, etwa ein Elektroauto. Wenn wir noch unser Mobilitätsverhalten anpassen, werden wir ohne grosse Komforteinbusse um den Faktor 10 weniger Energie brauchen und insgesamt für Mobilität weniger Geld ausgeben.

Der öV deckt seine Kosten nicht.

Richtig. Mit dem begrenzten Gut «Verkehr» muss ökonomischer umgegangen werden. Auch der öV muss um den Faktor 2 teurer werden. In der Schweiz steht vergleichsweise wenig Fläche für Mobilität zur Verfügung. Ein Autofahrer benötigt hundertmal mehr Mobilitätsfläche als ein Fussgänger, zehnmal mehr als ein Fahrradfahrer und vier- bis sechsmal mehr als ein öV-Benutzer. Wir verbrauchen in der Schweiz dreimal mehr Fläche für Mobilität als für Wohnen, Arbeiten und Freizeit zusammen. Deshalb müssen Gemeingüter wie Fläche, CO2 oder Stille abgegolten werden. Daher der Benzinpreis von zwölf Franken pro Liter.

Umstritten ist auch Ihre Forderung, mit Solartechnologie 12 bis 18 Gigawatt zu produzieren. Heute sind es 0,3 Gigawatt.

Nein, 0,6 Gigawatt oder 600 Megawatt.

Trotzdem: Ihre Steigerung ist nur mit gigantischen Subventionen möglich.

Ich bin kein Freund von Subventionen. Wir benötigen faire Preise. Bei der Kernenergie sollen auch Risiko und Entsorgung einbezogen werden; dann kommt die Fotovoltaik ohne Subventionen aus.

Economiesuisse geht von einem Wohlstandsverlust von 25 Prozent aus, wenn wir aus der Atomenergie aussteigen.

Es gibt nur wenige Leute, die diese Zahlen bestätigen. Die Herstellung von erneuerbarer Energie ist wesentlich billiger geworden: Im Jahr 2000 – darauf basieren die Rechnungen von Economiesuisse – kostete eine Kilowattstunde Solarenergie 76 Rappen; heute liegen wir um Faktor 5 bis 10 tiefer. Bei der elektrischen Energie müssen nur die 40 Prozent Kernenergie substituiert werden; die 60 Prozent Wasserkraft werden durch den Atomausstieg nicht tangiert. Für den Endverbraucher kommen zusätzlich die Netzkosten dazu, was den Preis verdoppelt. Der Einfluss der substituierten Energie auf den Endpreis ist daher sehr gering. Ich kann nicht nachvollziehen, wie wir 25 Prozent unserer Arbeitsplätze verlieren sollten. Wir wollen nicht zurück in die Höhle.

Sie schlagen vor, in den Bergen 40 Quadratkilometer Fläche mit Sonnenkollektoren zu versehen. Auf dem Jungfraujoch?

Es muss nicht das Jungfraujoch sein, aber vielleicht andere Berge. Vielleicht sehen Panels in einer Bergwand oder an einer Lawinenverbauung gar nicht so schlimm aus. Wir haben herausgefunden, dass optimale Orte in den Alpen denselben Wirkungsgrad haben wie Solarpanels in der Sahara. Abgesehen davon: Wir haben 1200 Quadratkilometer Strassen und 400 Quadratkilometer Hausdächer, da wären 40 Quadratkilometer Solarpanels verkraftbar. Wir setzen daneben auch auf Wasserkraft, Biomasse und Windparks.

Sie fordern 2000 Windparks, doch bei jedem Windrad formiert sich Widerstand.

Wir müssen uns entscheiden. Wir können nicht den Atomausstieg beschliessen und zugleich Solarpanels und Windräder verbieten. Sonst können wir jetzt schon aufhören. Es gibt keinen Gratis-Lunch.

Was kommt nach Ihrem «Faktor 10»?

Damit habe ich genügend Arbeit bis zur Pensionierung. Dann habe ich meinen Job getan – ausser es fällt mir eine weitere Aufgabe zu.

Der Praktiker
Anton Gunzinger (56) ist ein weltweit ausgezeichneter Computer-Bauer. 1994 kürte ihn «Time Magazine» zu einem der 100 kommenden Leader. Gunzinger doziert am Institut für Elektronik der ETH Zürich über angewandte Computer-Architektur. Gleichzeitig führt er im Zürcher Technopark die Firma Supercomputing Systems SCS. Sie beschäftigt rund 80 Ingenieure.