Geografisch gesehen reicht Osteuropa vom Ural und dem Kaukasus im Osten bis zu einer willkürlich gezogenen Grenzlinie im Westen, die der Ostgrenze Deutschlands, Österreichs und Italiens entspricht. Jüngeren Datums ist die Gewohnheit, mit diesem Namen Länder zu bezeichnen, die einst kommunistischen Regimen oder direkter sowjetischer Kontrolle unterlagen, was zuvor unter dem Oberbegriff Ostblock zusammengefasst wurde.
Die Länder dieser Region haben viele Gemeinsamkeiten. Ihre Sprachen entstammen fast ausnahmslos slawischen Dialekten, wodurch sich die Bürger der meisten Länder grenzüberschreitend beinahe in ihrer Muttersprache verständigen können. Noch bezeichnender für die heutige wirtschaftliche Lage ist allerdings, dass alle diese Länder während Jahrzehnten kommunistisch waren, denn darin liegt der Hauptgrund für den wirtschaftlichen Rückstand gegenüber Westeuropa.
EU-Beitritt öffnet Tore
Unter dem Begriff Osteuropa werden vor allem Länder zusammengefasst, die letztes Jahr der EU beigetreten sind. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die anderen Länder im Osten Europas weniger attraktiv sind. Im Gegenteil, sie bergen unter Umständen sogar noch grössere Chancen, da sie in einer früheren Phase ihrer Entwicklung stehen.
Investoren verwenden nach wie vor auch das Wort Schwellenländer, wenn sie von dieser Region sprechen. Seit der EU-Erweiterung im Mai 2004 muss jedoch mindestens ein Teil dieser Länder irgendwo zwischen den Schwellenländern und den Industrieländern eingeordnet werden. Wirtschaftlich gesehen sind sie zweifellos Schwellenländer, aber wenn man die politische Stabilität und Sicherheit zum Massstab nimmt, besteht kaum ein Unterschied zu Deutschland oder Frankreich.
Mit dem Beitritt zur Europäischen Union gelten auch für sie europäisches Recht und europäische Rechtsakte. Überdies zeigen sich die Regierungen dieser Länder äusserst entschlossen, die eigene Währung möglichst bald durch den Euro zu ersetzen. Damit verpflichten sie sich, bestimmte Vorgaben bezüglich Haushaltsdefizit und Inflationsrate zu erfüllen. Genau das, was der Anleger erwartet.
Osteuropa verzeichnet einen bedeutenden Zufluss an ausländischem Kapital. Dahinter steckt die Absicht, seine Wettbewerbsfähigkeit auf den globalen Märkten mit gleicher Qualität, aber tieferen Preisen zu steigern. Osteuropa bietet hoch qualifizierte Arbeitskräfte mit gutem Ausbildungsniveau zu weit geringeren Kosten. Grund dafür ist die relativ hohe Arbeitslosenquote. Diese liegt im Durchschnitt bei 10% und in Ländern wie Polen und Kroatien gar zwischen 17 und 18%. Dies ist auf den Übergang vom Kommunismus zum Kapitalismus zurückzuführen, als zahlreiche unrentable Unternehmen in Konkurs gingen. Wo Arbeitsplätze rar sind, steigt die Wertschätzung der Arbeit und halten sich die Forderungen nach Lohnerhöhungen in Grenzen.
Der durchschnittliche Monatslohn liegt in Polen bei rund 1000 Fr., der Mindestlohn bei rund 300 Fr. In den baltischen Staaten beträgt der Durchschnittslohn gar nur 450 bis 600 Fr. Dies stellt einen echten Wettbewerbsvorteil gegenüber westlichen Ländern dar. Nicht weniger günstig als die Lohnverhältnisse sind die Steuerverhältnisse. In zahlreichen dieser Länder liegen die Unternehmenssteuern bei 15 und 16%. Natürlich kann Osteuropa nicht mit Asien Schritt halten, aber es verfügt über zwei Dinge, die für ausländische Investoren wichtig sind. Erstens: Eine hohe Produktionsqualität und die Möglichkeit, das Produkt mit dem Etikett «Made in EU» zu versehen. Zweitens: Hohe Flexibilität dank kurzer Transportwege. Die Firmen im Westen können kleine Losgrössen fertigen und sie schnell ausliefern. Dies ermöglicht ihnen, schnell auf neue Markttrends zu reagieren.
Produktionsverlagerung als Chance
Immer häufiger ist zu beobachten, dass Produktionsanlagen aus dem Westen nach Osteuropa verlagert werden. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Automobilbranche. In den Fabriken Osteuropas wird sieben Tage die Woche rund um die Uhr gearbeitet, d. h. es sind keine teuren Überstunden zu bezahlen. Dabei buhlen die politischen Verantwortungsträger mit immer vorteilhafteren Bedingungen um die Gunst der Investoren. Franzosen und Deutsche arbeiten 1440 Stunden im Jahr, Slowaken, Tschechen und Polen dagegen fast 2000 Stunden. In den Fabriken des Westens liegen die Stundenlöhne bei fast 65 Fr., bei Volkswagen Slovakia bei 8 Fr. Es gibt bald keinen Autobauer mehr, der keine Produktionsanlagen in Osteuropa betreibt, und schon 2006 werden dort über 2,3 Mio Fahrzeuge vom Fliessband rollen. All dies trägt dazu bei, das Handelsdefizit dieser Länder zu verringern. 1998 machten die polnischen Autoausfuhren 6,4% der Gesamtausfuhren aus. Heute sind es 15,5%, und ihr Wert liegt bei 11,5 Mrd Dollar. In den anderen Branchen dürfte die Entwicklung nach dem gleichen Muster verlaufen. Für Osteuropa spricht ferner, dass asiatische Firmen auf der Flucht vor hohen Abgaben und Kontingentierung begonnen haben, einen Teil ihrer Produktion in die billigsten EU-Länder zu verlagern.
Dies bleibt für die makroökonomischen Daten nicht ohne Folge. 2004 wuchs das Bruttoinlandsprodukt um 5%, und das dürfte die nächsten zehn Jahre so weitergehen. Der Unterschied zwischen den 15 alten und den zehn neuen Mitgliedern der EU ist gewaltig. So beträgt der Anteil der Länder, die der EU 2004 beigetreten sind, an der gesamten EU-Bevölkerung 16%, beim BIP sind es dagegen nur 5%. Natürlich hängt das Wachstum dieser Region von der Wirtschaftslage in ganz Europa ab, und jede Beschleunigung, vor allem in Deutschland, würde das Wachstum in Osteuropa mächtig ankurbeln. Doch selbst wenn die 15 Länder des alten Europa einer Rezession entgegengingen, könnte dies dieser Region langfristig helfen, weil sich der Prozess der Produktionsverlagerung zwecks Kostensenkung beschleunigen würde.
Infrastruktur mit Nachholbedarf
Einer der grössten Wachstumstreiber der Region wird der Aufbau einer Infrastruktur sein. Zu Zeiten des Kommunismus wurde dieser Bereich vernachlässigt. Die Länder benötigen Investitionen in Strassen und Brücken, öffentliche Verkehrsmittel und alle Arten von Umweltschutzbauten. Polen etwa, nur ein Fünftel kleiner als Deutschland, hat ganze 400 km an Autobahnen. Im Haushalt der EU sind die Gelder dafür bereits bereitgestellt. Trotz allem wird das hier geschilderte Paradies nicht ewig bestehen. Von Zeit zu Zeit werden einige dieser Länder volkswirtschaftliche oder politische Probleme zu lösen haben. Aber dennoch ist Osteuropa ein fruchtbarer Boden für schnelles Wachstum in den nächsten Jahren.
Andrzej Blachut, CFA, Fondsmanager, Clariden Eastern Europe Equity Fund, Zürich.