Bodyguard ist längst kein Traumjob mehr. Kaum Bewegung, schlechte Bezahlung, stickige Luft. Es sei denn, man darf Alex Karp beschützen. Der Chef der kalifornischen Software-Firma Palantir hatte sich vor sechs Jahren beim WEF in Davos so sehr in seinem Bewegungsdrang eingeengt gefühlt, dass er sich kurzerhand eine Langlauf-Lehrerin nahm. Es war eine Erweckung: Karp spult heute mehr als 4500 Kilometer pro Jahr auf Langlauf-Ski ab, im Sommer trainiert er auf Roller-Ski.
Doch es gab da ein Problem. Karps Firma berät fast jede Regierung der westlichen Welt bei der Verbrechensbekämpfung und unterstützte auch die CIA bei der Suche nach Osama Bin Laden. Er braucht Personenschutz – und fahndete deshalb nach Personal mit ganz spezieller Sozialisierung: Bodyguards mit professionellen Langlauf-Künsten. Er fand sie in Norwegen bei der Spezialeinheit Beredskapstroppen. Seitdem verfolgen zwei norwegische Sicherheitskräfte mit ausgeprägter Langlauf-Gabe den 51-Jährigen. «Meine Mitarbeiter liegen mir eben am Herzen», lacht Karp.
Die geheimnisumwittertste Firma
Osama Bin Laden? Terrorbekämpfung? CIA? Keine Frage: Karp führt die geheimnisumwittertste Firma des Silicon Valley und damit wohl der gesamten Software-Welt. Artikel mit ihm sind eine Rarität, mal gibt es hier ein Zitat, mal dort eine Erwähnung, wenn ein Terroranschlag vereitelt oder – profaner – ein Geldwäscher gefasst wurde.
Fast alle westlichen Geheimdienste nutzen die Software von Palantir, seit einigen Jahren setzen auch immer mehr Unternehmen auf die hochspezialisierten Datenprogramme aus Palo Alto – CS-Chef Tidjane Thiam etwa lobt öffentlich die gute Zusammenarbeit, auch Swiss-Re-Chef Christian Mumenthaler vertraut seit kurzem auf die Datenprofis. Doch schnell keimt da der Generalverdacht: Palantir arbeite im Auftrag dunkler Mächte wie der CIA oder spioniere die Mitarbeiter ihrer Auftragsfirmen aus. Der Mann, der 250 Tage im Jahr für seine Firma um die Welt reist, lächelt dann nur: «Wir wollen Leben retten.»
Natürlich, im Silicon Valley muss es immer um das ganz Grosse gehen, profanes Geldverdienen reicht nicht, auch wenn es doch gerade hier vor allem darum geht. Doch «Don’t be evil», das legendäre Google-Motto, hat längst seine Unschuld verloren. Die unrühmliche Rolle des Social-Media-Riesen Facebook bei der Trump-Wahl und dem Brexit-Entscheid, die Macho-Kultur des geschassten Uber-Chefs Travis Kalanick, die Selbstdemontage des Joint-rauchenden Tesla-Egomanen Elon Musk oder die Allmachtsfantasien des Datengiganten Google: Der Anspruch der moralischen Überlegenheit klingt schal. Palantir ist da anders: Keine wohlfeilen Mission Statements, keine tönerne Überhöhung. «Wir sind da eher europäisch», betont Karp. «Wir meinen ernst, was wir sagen.»
Google für die B2B-Welt
Die Zentrale hat dann auch nichts von den Protzbauten der Silicon-Valley-Titanen. Drei Stockwerke in einem Zweckbau mit karger Backstein-Fassade am Rande von Palo Alto, es gibt nicht einmal ein Namensschild. Die legendäre Garage von David Hewlett und Bill Packard, Keimzelle des Silicon Valley und heute ein Museum, liegt gerade 800 Meter entfernt, zur anderen Seite ist es genauso nah zum Stanford-Campus. «Die Züge sind nicht so gut wie in der Schweiz», lacht Shyam Sankar auf der Terrasse im dritten Stock, als der Vorortzug mit hoher Dezibel-Zahl vorüberrauscht.
Karp ist gegen Trump – doch anders als viele Silicon-Valley-Firmen will er die Zusammenarbeit mit der Regierung nicht reduzieren.
In einer normalen Firma würde man ihn wohl Chief Operating Officer nennen – bei ihm laufen alle Fäden des Geschäfts zusammen. Doch auf klassische Titel verzichtet die Firma ganz bewusst – 80 Prozent der etwa 2000 Mitarbeiter sind Informatiker und sollen hierarchiefrei arbeiten können. 400 sind es nur noch in der Zentrale, 25 Standorte gibt es bereits, das Durchschnittsalter liegt bei 30 Jahren, die Hälfte arbeitet in Europa, wo das Geschäft am stärksten wächst. Die Start-up-Phase ist vorbei, und da braucht es neben dem Vielflieger und Vordenker Karp eine ordnende Hand – Sankar. Was treibt ihn an? «Ich will mit 80 Jahren meinen Enkeln stolz von meiner sinnvollen Arbeit erzählen können – und das gilt für viele hier.»
Die Software mag zur anspruchsvollsten der Datenwelt zählen, doch das Geschäftsmodell ist simpel: Die gigantischen Datenberge von Ermittlern und Firmen zu ordnen und nach auffälligen Mustern zu durchforsten – und dadurch Verbrechen zu bekämpfen und Abläufe zu verbessern. Denn bislang ist die grosse Big-Data-Saga kaum mehr als ein Hype: Nur die wenigsten Firmen wissen mit ihren Datenbergen wirklich etwas anzufangen. Hier setzt Palantir an. Sauber eingerahmt hängen die Artikel über prominente Erfolgsfälle mit Palantir-Unterstützung an der Wand: Die Ermittlungen gegen den Finanzbetrüger Bernie Madoff etwa oder den Aufbau der Aviatik-Plattform Skywise des Flugzeugbauers Airbus. Palantir will die Suchmaschine für die Regierungs- und Firmenwelt werden – eine Art Google für die B2B-Welt.
Die Mitarbeiter hören den Vergleich mit dem Datenriesen jedoch ungern, weil sie sich von den Grossfirmen abheben wollen, und seit sich Karp mehrfach mit den «Dracula-Firmen», wie er sie nennt, angelegt hat («sie schaffen Mikrogemeinden und zerstören den gesellschaftlichen Zusammenhalt»), gilt er bei den Grossen im Silicon Valley als Outcast. Und natürlich ist er für sie ein Zwerg: 800 Millionen Dollar Umsatz dürften es dieses Jahr werden, nächstes Jahr ist die Milliarde im Visier, und erstmals soll auch ein Gewinn ausgewiesen werden – doch derartige Zahlen liegen für Google (über 100 Milliarden Umsatz) oder Facebook (45 Milliarden) unter der Wahrnehmungsschwelle.
Dennoch tut Palantir den Riesen weh: Bei der Rekrutierung der Top-Programmierer. Denn viele Schnelldenker reizt die Perspektive einer Firma mit wirklicher Mission und Börsengang-Option mehr als die hochdotierte Arbeit bei einem hierarchischen Grosskonzern, der sich mit trivialen Werbedollars finanziert. Der Palantir-Auslese-Prozess gilt als härter als jener bei Google, nur ein Prozent der Bewerber kommen durch. Wer mit einem Palantir-Shirt über den Stanford-Campus läuft, wird häufig angesprochen – in der Programmierer-Szene gilt die Firma derzeit als heisseste Adresse. Die letzte Bewertungsrunde 2015 taxierte sie auf 20 Milliarden Dollar – nach Uber und Airbnb gilt Palantir seitdem als das drittwertvollste unter den derzeit etwa 60 Silicon-Valley-Unicorns, jenen Firmen mit einer Bewertung von mehr als einer Milliarde Dollar.
Zwei Contrarians
Der Anfang war hart. Der deutschstämmige Investor Peter Thiel, einer der erfolgreichsten Anleger der High-Tech-Enklave, wollte sich nach der Gründung des Bezahldienstes Paypal vor russischen Hackern schützen und suchte nach einer passenden Software. Schnell wurde daraus eine Geschäftsidee: In den Jahren nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wuchs vor allem auf der amerikanischen Regierungsseite der Bedarf nach hoch spezialisierter Datensoftware zur Terrorbekämpfung. Thiel und Karp hatten zusammen Jura in Stanford studiert und sich stets befruchtet: Hier der Libertär Thiel, der als einziger Vertreter des High-Tech-Tals Donald Trump offen unterstützt, dort der bekennende Alt-Linke Karp, aufgewachsen in der Ostküsten-Metropole Philadelphia, laut Eigenbeschreibung «Sohn zweier Hippies», lebenslanger Demokrat. «Unsere Gegensätze machen den Reiz unserer Beziehung aus», blickt Karp auf die 25-jährige Freundschaft zurück.
Und so gründete der Contrarian Thiel mit seinem Antipoden-Freund Karp und zwei weiteren Palo-Alto-Mitstreitern 2003 eine Firma, die wiederum ein Kontrastprogramm zum Silicon Valley bildete. Denn wenn etwas dort als uncool galt, dann war es Arbeit für die Regierung. Nicht nur wegen der Erfolgsaussichten. «Investoren haben uns explizit gewarnt: Im Regierungsgeschäft ist kein Geld zu holen, lasst die Finger davon», erinnert sich Karp. Vor allem: Auch bei der Rekrutierung war es schwierig. Viele Informatiker haben eine anarchische Ader, und Regierung bedeutet für sie vor allem Regulierung und Steuern.
«Wir mussten damals Leute finden, die sich gegen den gängigen Silicon-Valley-Geist auflehnten», erinnert sich Sankar. «Das war nicht einfach.» Thiel investierte etwa 35 Millionen Dollar, zwei Millionen steuerte der Venture-Capital-Arm der CIA bei. Den Firmennamen wählte Thiel aus seinem Lieblings-Buch «Herr der Ringe»: Dort sind Palantir die «sehenden Steine», und noch heute befindet sich direkt neben Karps Büro eine grosse Wandtafel mit der Aufschrift «Save the Shire». Das Auenland – Shire – ist die Heimat der bedrängten Hobbits in J.R.R. Tolkiens Roman.
Comic-Held Karp
Die Anti-Mainstream-Kultur durchzieht die Firma noch heute. Thiel ist Republikaner und als Chairman der Firma eine Art Aushängeschild, und als Trump zu Beginn seiner Amtszeit ein Einreiseverbot für Muslime verhängte, war der Zweckbau in Palo Alto dann doch nicht unscheinbar genug, um eine Demonstration zu verhindern. Innerhalb des Gebäudes verstrickten sich die Mitarbeiter in heftige Diskussionen, ob sie weiter für Regierungsinstitutionen wie NSA oder CIA arbeiten wollten.
Doch auch wenn er sich gegen Trump stellt, will Karp die Zusammenarbeit etwa mit dem Pentagon nicht abbrechen – anders als Google, Amazon oder Microsoft: «Wenn wir dazu beitragen können, dass amerikanische Soldaten nach Hause kommen, müssen wir das tun – ganz egal, wer im Weissen Haus sitzt.» Wie stark der Geist des Widerspruchs in der Kultur verankert ist, zeigt sich exemplarisch bei der Beschriftung der Sitzungszimmer des Londoner Büros, mit 600 Mitarbeitern heute der grösste Palantir-Sitz: Die Mitarbeiter suchten extra urbritische Namen, die die Amerikaner nicht aussprechen können – Leicester oder Worcester.
Doch die Unkonventionalität kann auch zu weit gehen: Mit der CS hatte Palantir vor drei Jahren das Joint Venture Signac gegründet. Die Idee war die Kommerzialisierung von Risiko-Modellen zur Eigenkapital-Messung der Banken. Doch im Frühjahr wurde das Projekt stillschweigend begraben. «Unsere jungen Freidenker kamen mit der traditionellen Bankhierarchie nicht klar», räumt Karp ein. Für Compliance-Projekte arbeitet Palantir aber weiter mit der CS zusammen.
Er selbst ist der Inbegriff des Freidenkers: Neben Langlauf praktiziert er begeistert Tai-Chi, jeden Tag mindestens 30 Minuten, dann müssen selbst CEOs warten. Nach dem Studium in Stanford verbrachte er seine prägenden Jahre in Frankfurt, wo er beim linken Strukturtheoretiker Jürgen Habermas studierte – auf Deutsch, die Muttersprache seiner Grossmutter. Dazu ist er begeisterter Fan von Comics, mit Vorliebe aus Frankreich, und einer seiner französischen Mitarbeiter liess sogar einen Comic anfertigen. Einsamer Held: Alex Karp.
Was macht die Software von Palantir so speziell? Eigentlich ist sie in einem Bereich unterwegs, der in der Software-Szene als wenig sexy gilt: Palantir betreibt Datenintegration – die Software sorgt dafür, die stetig steigenden und oft chaotisch angelegten Datenmengen der Kunden intelligent zu verknüpfen und zu strukturieren. Bei der Verbrechensbekämpfung geht es zum Beispiel darum, die Datenbanken von Telekomverbindungen, Autodiebstählen und Verdächtigen-Profilen so geschickt zu kombinieren, dass neue Erkenntnisse entstehen. Palantir Gotham nennt sich diese Software, die nach vier Jahren Entwicklung 2008 an den Start ging – das Periodensystem ist noch gross im Haupsitz ausgestellt.
Nach den USA erschloss sich Palantir den skandinavischen Markt, heute arbeiten Ermittler in ganz Westeuropa mit der Software. Zentraler Baustein: der Fokus auf die Datensicherheit. Der Zugang ist höchst restriktiv, und vor allem: In jedem Land sind die Vorschriften anders, und damit es keinen Missbrauch gibt, hat Karp von Anfang an die totale Rückverfolgung aller Analyse-Schritte einbauen lassen – Datenverstösse lassen sich dadurch schnell entdecken. Damit war er seiner Zeit voraus: Nachdem die EU ihre Datenvorschriften dieses Jahr massiv verschärft hat, soll jetzt auch in den USA die Privatsphäre deutlich besser geschützt werden. Google, Facebook & Co. haben das Thema lange ignoriert, jetzt müssen sie nach all den Skandalen nachziehen. Palantir ist schon da.
Vorbild Dario Cologna
Doch natürlich dauerte es nach den Anfangserfolgen nicht lange, bis die Frage nach einer besseren Kommerzialisierung aufkam. Das Gründerteam um Thiel und Karp hatte in mehreren Finanzierungsrunden seinen Anteil auf unter 50 Prozent gesenkt, und das knappe Dutzend Silicon-Valley-Investoren wollte Geld sehen – und das lag vor allem in der Unternehmenswelt. Palantir konzentrierte sich zunächst auf Banken und wollte dort über das Produkt «Metropolis» Software gegen Finanzbetrug verkaufen. Doch das Programm war zu kompliziert, zudem nutzte es den Banken nicht im Kerngeschäft.
«Metropolis ist gescheitert», räumt Karp dann auch freimütig ein. Erst das neue Produkt «Foundry» brachte den Durchbruch: «Hier helfen wir Firmen massiv, indem wir ihre Datenmengen strukturieren und Abläufe deutlich effizienter gestalten.» Airbus etwa hatte die Auslieferung von 50 Flugzeugen pro Jahr versprochen, schaffte aber nur 32. Die Analyse von Foundry legte die Schwachstellen der Lieferkette so klar offen, dass Airbus die Planziele erreichte. Oder im Autogeschäft: Durch Foundry kann die Zahl defekter Modelle bei einer Rückrufaktion so klar eingegrenzt werden, dass deutlich weniger Autos betroffen sind als früher.
Etwa 100 Unternehmenskunden zählt Palantir, mehr als 70 Prozent der Einnahmen stammen bereits aus dem Firmengeschäft und – überraschend – zwei Drittel davon aus Europa. Denn allen europäischen Minderwertigkeitskomplexen – inklusive schweizerischer – zum Trotz stehen die Europäer der Digitalisierung laut Karp deutlich aufgeschlossener gegenüber als die Amerikaner: «In Europa ist mehr Fachwissen und weniger Marketing an der Spitze zu finden – das hilft uns.»
Ein Börsengang könnte 36 bis 41 Milliarden Dollar bringen – nur Uber wäre im Silicon Valley bei einem IPO höher bewertet.
Dass die Investoren da auf einen Gang an die Börse drängen, liegt auf der Hand. «Ein Börsengang ist ein Thema, weil unsere Investoren es wollen», bestätigt Karp. Nach dem Metropolis-Flop, der noch dadurch befeuert wurde, dass ein Mitarbeiter von J.P. Morgan die Software tatsächlich zur Ausspionierung der Bank-Mitarbeiter genutzt hatte, bewertete Morgan Stanley die Firma nur noch mit sechs Milliarden Dollar, allerdings ohne Einblick in die Zahlen.
Auch drückte die Verquickung in den Skandal um die britische Datenfirma Cambridge Analytica aufs Image – ein Mitarbeiter hatte sich privat dort angedient, wurde dann aber sofort freigestellt, als Karp davon erfuhr. Doch das Tief ist überwunden: Kürzlich öffnete Palantir gegenüber Morgan Stanley etwas die Bücher, und besonders die anvisierte jährliche Wachstumsrate von 40 Prozent überzeugte die Investment Banker – sie errechneten einen sportlichen Firmenwert von 36 bis 41 Milliarden Dollar. Damit wäre Palantir nach Uber (120 Milliarden) die zweithöchstbewertete nichtkotierte Silicon-Valley-Firma. Thiel hält als grösster Einzelaktionär noch über zehn Prozent, Karp liegt bei etwa acht Prozent.
«Ich brauche das Geld nicht», lacht Karp, «aber für unsere Mitarbeiter wäre ein Börsengang sicher motivierend.» Jeder von ihnen hält Aktien. Doch die Transparenz würde steigen, genauso wie der Druck, das hohe Wachstum auch zu liefern, und die Freiheitsgrade des Gründer-CEO würden weiter sinken. Als Ausgleich hilft da nur eines: Langlauf. Einmal stand er schon bei einem Rennen in Davos neben seinem grossen Vorbild: Dario Cologna. Sein Traum? Einmal mit ihm allein auf der Loipe zu stehen: «Diese Technik von ihm: Einmalig.»
Dieser Text erschien in der November-Ausgabe 11/2018 der BILANZ.