Es wird berichtet, Pascal Couchepin habe den Vita-Parcours in Martigny jeweils vom Ziel her in Angriff genommen und sich von dort in Richtung Start aufgemacht. Die umgekehrte Route habe ihm aus gesundheitlichen Gründen besser behagt, sagt der Innenminister und zupft sich seine Krawatte zurecht. Nur schwerlich kann man sich den 100-Kilo-Mann mit den langen, im Gespräch oft weit ausholenden Armen im verschwitzten Jogginganzug vorstellen. In Martigny freilich sagen sie, er habe den Parcours vom Ziel zum Start aus wahlstrategischen Gründen gewählt, um sich so den anderen Waldläufern von Auge zu Auge als Bürgermeister zu empfehlen.

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Dem Prinzip, grundsätzlich gegen den Strom zu schwimmen, ist Pascal Couchepin auch nach seinem 1998 erfolgten Wechsel vom Bürgermeister- ins Bundesratsamt treu geblieben. Was bei seinen Mitarbeitern zuweilen kalte Schweissausbrüche auslöst und seiner Partei gelegentlich unerwarteten Ärger beschert. Etwa dann, wenn er die Erhöhung des Rentenalters auf 67 ankündigt, ohne dies mit seinen Parteigetreuen abgesprochen zu haben. Oder wenn Couchepin vor Kommissionen oder dem Parlament spontan eine Idee lanciert, von der selbst seine engsten Mitarbeiter noch nie etwas gehört haben.

«Le long», wie ihn die Walliser seiner stattlichen Grösse von einem Meter neunzig wegen nennen, hat sich seit der Wahl von Christoph Blocher in den Bundesrat überraschenderweise zum mächtigsten Magistraten des Siebnergremiums aufgeschwungen. Statt sich, wie vor allem von Wirtschaftskreisen erhofft, als zuverlässiger Partner einer von Blocher angeführten SVP/FDP-Viererbande einbinden zu lassen, gilt der 63-jährige Walliser heute in bürgerlichen Kreisen als «unberechenbar», wie es der Zürcher SVP-Nationalrat Toni Bortoluzzi diplomatisch ausdrückt. Hatten die SVP und der rechte FDP-Flügel anfänglich gehofft, Couchepins neoliberale Gesinnung in Wirtschaftsfragen verhelfe den beiden SVP-Bundesräten und dem treu bürgerlichen Hans-Rudolf Merz gegenüber SP und CVP zu einer Mehrheit, so entpuppt sich der Walliser zur Freude der Linken immer wieder als wertkonservativer Etatist, der sich nicht vor den Karren blinder Reformeiferer spannen lässt. Und der im Bundesrat so geschickt taktiert, dass er selbst seine gewieftesten Gegner austrickst.

Etwa dann, wenn es ihm gelingt, selbst einen SVP-Halbbundesrat davon zu überzeugen, das Gesuch für einen EU-Beitritt in Brüssel liegen zu lassen, statt es auf Wunsch Blochers zurückzuziehen. «Da ist Couchepin in seinem Element. Wenn er unter Druck steht, läuft er zu Hochleistung auf», kommentiert Peter Bodenmann diesen Schachzug seines langjährigen Walliser Politgegners. «Christoph Blocher hat danach wahrscheinlich nicht mehr gewusst, in welchem Kino er sitzt», so Bodenmann. «Schade nur, dass Couchepin zu selten unter Druck gesetzt wird.» Couchepin lacht laut auf, ein hohes, gellendes Lachen, das so gar nicht zum Staatsmann im edlen Zwirn passt: «Das ist eine klassische Boshaftigkeit Bodenmanns, vielleicht sollte ich dies aber auch als Kompliment verstehen.»

Diese Eigenwilligkeit Pascal Couchepins führen langjährige Bekannte des Magistraten auf seine politischen Erfahrungen als liberaler Minderheitspolitiker im von der CVP seit Urzeiten dominierten Wallis zurück. Er sei eben ein Vertreter eines sprachlich zweigeteilten Randkantons, den West- wie Deutschschweizer immer wieder misstrauisch beäugten, sagt Bodenmann. Eines Kantons, dessen Politiker auf eidgenössischer Ebene schwer fassbar seien. Darauf ist auch das grosse Meinungsspektrum über Couchepins politisches Credo zurückzuführen: In Genfs sozialistischen Kreisen gilt er als neoliberaler Turbo, in rechtspopulistischen Zürcher Kreisen wiederum wird er als interventionistischer Etatist verschmäht. Und wurde er früher von den Wallisern als Vasall der Zürcher Wirtschaft beschimpft, werfen ihm heute Zürcher Politiker jeder Couleur vor, er schüre den Anti-Zürich-Reflex.
So gross die Unterschiede in der Wahrnehmung des Walliser Politikers auch sein mögen, sie sind nachvollziehbar, denn nur in wenigen politischen Fragen lässt sich die Trennlinie zwischen Couchepin, dem Liberalen, und Couchepin, dem Etatisten, klar ziehen. Und mit einem Waadtländer hat Couchepin nicht mehr gemein als mit
einem Thurgauer.

Ein Grund für seine politische Haltung liegt bestimmt in seiner Kindheit. Als Sohn aus liberalem Haus musste Couchepin bereits in der Schule seine Gesinnung verteidigen, unterstützt allein von der Mutter, nachdem der Vater im Alter von erst 40 Jahren im Militärdienst einem Herzinfarkt erlegen war. Sein liberales Verständnis beruht auf den Wurzeln der Eidgenossenschaft: Trotz seiner wirtschaftsliberalen Haltung ist Couchepin bis heute wie die liberalen Staatsgründer tief davon überzeugt, dass nur ein intakter Staat das Funktionieren einer gesunden Demokratie garantieren kann.

Wissen muss man auch, dass Couchepin als Halbwaise ohne staatliche Sozialversicherungen wahrscheinlich nie hätte studieren können, wie er vor seiner Wahl in den Bundesrat in einem Interview mit dem Westschweizer Magazin «L’Hebdo» eingestand. Ironie des Schicksals: Sein Vater, der im Jahr der Gründung der AHV gestorben war, hatte diese soziale Institution zu Lebzeiten noch vehement bekämpft. Nur dank der AHV blieb der Familie nach dem Tod des Vaters bittere Armut erspart, Jahre später kamen dann noch Beiträge der Militärversicherung hinzu, die sich lange zu zahlen geweigert hatte. Es sei nicht klar, ob der Herzinfarkt des Vaters mit der Ausübung der militärischen Pflichten etwas zu tun gehabt habe, wurde dieses Zögern von militärischer Seite begründet.

Eigenwilligkeit prägt auch Pascal Couchepins Verhältnis zur CVP, dank der er durch seine harte Opposition im Wallis seine politischen Sporen abverdient hat. Denn längst hat er die Distanz zu seinen langjährigen Gegnern auf ein Minimum abgebaut. So denkt er auf Bundesebene auch mal laut über einen Zusammenschluss von CVP und FDP nach, eine Idee, die er schon vor seiner Wahl in den Bundesrat propagiert hat. Freilich ohne seine Eigenständigkeit zu verlieren, wie er dies schon vor Jahren bewiesen hat, als er gegen den Widerstand seiner Partei wie auch der CVP nicht davor zurückschreckte, sich für Peter Bodenmann als Walliser SP-Regierungsrat einzusetzen.

Auch im Bundesrat verhilft Couchepin der Linken gelegentlich zu einer Mehrheit, ganz nach dem Prinzip des Züngleins an der Waage. Doch während er seine neue Machtfülle in der Exekutive geschickt einsetzt, bekundet er innerhalb seines eigenen Departements grosse Mühe. «Mässig» sei sein Leistungsausweis, urteilt etwa die Basler SP-Ständerätin Anita Fetz, der Departementswechsel habe sich nicht gelohnt. «Couchepin hat vor allem die gesundheits- und sozialpolitischen Dossiers völlig unterschätzt. Und bis heute will er nicht einsehen, dass es für Veränderungen in diesem Bereich mehrheitsfähige Lösungen braucht», sagt die Politikerin, die als Mitglied der ständerätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit eng mit Couchepins Dossiers vertraut ist. Selbst politische Verbündete, die ihn sonst loben, werfen ihm vor, dass er seine Dossiers nur ungenügend kenne oder dass ihm die Sensibilität für Sozial- und Gesundheitsfragen grösstenteils fehle. «Seine kraftvolle Art ist im Volkswirtschaftsdepartement besser zur Geltung gekommen», urteilt etwa die Ausserrhoder FDP-Nationalrätin Marianne Kleiner-Schläpfer.

Kritik wischt Pascal Couchepin nonchalant vom Tisch. «Deutschschweizer sind oft zu harmoniebedürftig, ich politisiere aber lieber mit Fakten, die dem einen oder anderen eben nicht behagen.» Kritisiert ihn etwa der von Schweizer Grossfirmen finanzierte Think-Tank Avenir Suisse, dass er im Vergleich zu Deutschland oder Österreich bei den Reformen im Sozialbereich versagt habe, gibt sich der Innenminister gelassen. «Ich brauche keine Studie von Avenir Suisse, um so einen Vergleich vorzunehmen. Schauen Sie doch mal mit offenen Augen nach Deutschland! Behaupten Sie dann immer noch, dass deren Rezepte überzeugen?» Drum könne er die Studie auch nicht ernst nehmen. Sagt es und rutscht auf dem Stuhl noch etwas nach hinten, den visionären Blick zur Decke gerichtet.

Nur: Auch wenn die Analyse von Avenir Suisse Äpfel mit Birnen vergleicht, hat Couchepin keinen Grund, sich gelassen zurückzulehnen. Während seiner Ära scheiterte nicht nur die 11. AHV-Revision, sondern auch die Revision des Krankenversicherungsgesetzes. Auch die anstehende Revision der Invalidenversicherung ist wenig Erfolg versprechend. Und seit er im Gesundheitswesen eine Politik der kleinen Schritte eingeleitet hat, decken ihn Interessenvertreter von Krankenkassen, Patienten, Ärzteschaft wie auch von Kantonen reihenweise mit Kritik ein. Das mag zwar in der Natur der Sache liegen, wenn man es in einem Dossier mit einer Unzahl von völlig heterogenen Interessengruppen zu tun hat, doch geht die Kritik weit darüber hinaus.

Selbst die CVP, der er vor knapp einem Jahr noch Heiratsavancen signalisiert hatte, griff ihn an ihrem Parteitag im Oktober mit aller Vehemenz an. Wie im Finanzdepartement von Hans-Rudolf Merz herrsche auch bei Couchepin Reformstau, der das Wirtschaftswachstum hemme, musste sich der Innenminister Kritik von CVP-Präsidentin Doris Leuthard gefallen lassen. Die soziale Sicherheit sei eine unsichere Grossbaustelle, und die Revision der Krankenversicherung sei nach einem ersten Scheitern inzwischen nur noch ein Sammelsurium von Einzelvorschlägen.

Zumindest in der Kulturpolitik hat Couchepin mittlerweile Flagge gezeigt, indem er ihm wenig genehme und von seiner Vorgängerin eingesetzte Kulturverwalter durch eigene Vertrauensleute ersetzt hat. Ob an der Spitze der Pro Helvetia, des Bundesamtes für Kultur oder der Filmförderung – überall sind Couchepins Getreue eingezogen, alles liberal gesinnte Westschweizer. Und nachdem zwei Jahre lang wegen mangelnder Positionierung über das Kulturverständnis des Kulturministers gerätselt worden war, verblüffte er seine Kritiker heuer mit klaren Zielen. Bisweilen heisst es gar, dies sei das einzige Dossier, für das sich der vor allem in historischen Themen und in klassischer Literatur belesene Magistrat erwärmen könne. Und in Zürcher Kreisen kommt gar der Verdacht auf, er wolle die Kulturpolitik in seinem Amt gewissermassen monopolisieren, seit verschiedene Vertreter seines Departements unverhohlen und wider jede politische Tendenz für eine Eingliederung der Pro Helvetia oder auch des Landesmuseums in ihr Amt lobbyieren. Verwundert rieben sich die Privatisierungsbefürworter die Augen, als bekannt wurde, die vom Bundesrat beschlossene Teilprivatisierung der Musée-Suisse-Gruppe mit dem Landesmuseum an der Spitze sei begraben worden. Und dies, obwohl Couchepin selber in den vergangenen Jahren nicht müde wurde, das lasche Privatisierungstempo in den Departementen seiner Bundeshauskollegen zu kritisieren.

Mit Kritik an seinen Bundesratskollegen hält Couchepin nicht zurück, schon gar nicht mit Kritik an Christoph Blocher. «Das ist wie bei den Gorillas: Zwei Silberrücken prallen eben gelegentlich aufeinander», beurteilt Ständerätin Fetz diese Gegnerschaft. Mehrheitlich weit radikaler in ihrem Urteil sind da die Westschweizer. Diese feiern ihn nämlich schon seit Jahren als «Anti-Blocher» – ein Image, das ihm heute mehr denn je anhaftet. Verstärkt hat er dieses Bild vor einem Jahr in einem Interview mit der Aussage, Christoph Blochers Haltung sei gefährlich für die Demokratie. «Daran halte ich auch heute noch fest», sagt Couchepin. Eine Aussage, die ihm den Vorwurf eingebracht hat, er sehe in Blocher den Intimfeind. «Vielleicht bin ich von meiner politischen Überzeugung her im bürgerlichen Lager der natürliche Gegner Blochers, aber von Feindschaft kann überhaupt nicht die Rede sein», weist Couchepin den Vorwurf indes weit von sich. Ebenso wie die Vorwürfe aus Blochers Umfeld, Couchepin ziehe im Hintergrund die Fäden, um den Justizminister bei der nächsten Bundesratswahl aus dem Amt zu hieven. «Solche Intrigen sind mir völlig fremd, an solchen Spielen habe ich noch nie teilgenommen», versichert Couchepin.

Das Machtspiel scheint er dennoch zu geniessen, weit mehr als die Mühsal, die sein Amt als Departementsvorsteher mit sich bringt. Als Sozialminister hat er wenig Gespür gezeigt für das Machbare, als Gesundheitsminister stolpert er oft über die kleinen Schritte, und als Kulturminister lässt er sich noch immer nicht recht einordnen. Wirklich glücklich scheint das Parlament mit ihm als Innenminister nicht zu sein. Die Hoffnungen, er korrigiere die Politik des sozialen Ausbaus unter Ruth Dreifuss, haben sich nach der ersten Hälfte der ersten Legislaturperiode längst zerschlagen.

So sind es vor allem die Rechtsbürgerlichen, die sich einen baldigen Rücktritt Couchepins erhoffen, um ihn durch einen ihnen näher stehenden Politiker zu ersetzen. Doch daran glaubt niemand wirklich, steht Couchepin im Jahr 2007 doch zum zweiten Mal ein Präsidialjahr bevor. Auf die Frage, ob er dieses noch antreten werde, antwortet der Politiker mit einem Schulterzucken. Doch dann stützt er sich mit seinem ganzen Gewicht mit beiden Händen auf die Tischplatte, fixiert den Fragesteller und holt zu einer kleinen Lektion in Staatskunde aus: «Wissen Sie, wer mich dann als Bundespräsident beerben würde? Christoph Blocher!» Die Frage, ob er sich Blocher als Bundespräsidenten vorstellen könne, wolle er offen lassen. «Lässt er sich wie angekündigt bei den nächsten Wahlen nochmals als Nationalrat aufstellen, wird er voraussichtlich auch gewählt werden. Und lässt er sich als Nationalrat vereidigen, muss er bis zur zehn Tage später stattfindenden Bundesratswahl als Bundesrat zurücktreten. Dann beginnt das ganze Prozedere von vorne. Wird Christoph Blocher dann wieder in den Bundesrat gewählt, muss er als neu gewählter Bundesrat wieder hintanstehen und voraussichtlich weitere drei bis vier Jahre warten, bis er automatisch ins Amt des Bundespräsidenten gehievt wird.»

Sein eigener Rücktritt scheint damit an sein Prinzip gekoppelt zu sein, das er schon bei seinen Vita-Parcours-Läufen in Martigny angewendet hat. Nur dass er darauf zu hoffen scheint, dass dieses Prinzip diesmal auf seinen grossen politischen Gegner zutrifft: zurück zum Start.