BILANZ: Herr Odier, haben Sie den «Dringenden Aufruf» gegen die Durchsetzungsinitiative unterschrieben?
Patrick Odier*: Nein. Aber die Bankiervereinigung hat Geld gesprochen für die Nein-Kampagne, und ich engagiere mich persönlich. Erstens in meiner Funktion als Verbandspräsident, da alles, was die Rechtssicherheit angreift, negative Folgen für unseren Wirtschaftsstandort hat. Und zweitens auch als Bürger, weil diese Initiative unsere Prinzipien der Demokratie missachtet und zwei Kategorien von Bürgern schafft. Das ist inakzeptabel und unwürdig.

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Economiesuisse, wo Sie Vizepräsident sind, hatte offenbar für Ihre Argumentation kein Gehör. Weshalb engagiert sich der Verband nicht?
Economiesuisse kann nicht alles machen und musste eine Auswahl treffen. In den nächsten zwei, drei Jahren werden wir über rund 30 Vorlagen abstimmen. Das ist einfach zu viel.

Das ist unsere direkte Demokratie.
Nein, das ist ein Missbrauch unseres direktdemokratischen Systems, und das ausgerechnet von den grössten Parteien, die ihre Ideen auch über den Bundesrat und das Parlament einbringen könnten. Jetzt wird für jedes neue Anliegen gleich eine Initiative gestartet. Doch die Schweiz ist keine Insel. Wir können nicht so tun, als könnten wir alles selbst neu erfinden und anders machen als der Rest der Welt. Wir treiben den Sonderfall auf die Spitze.

Der Schweiz geht es sehr gut. Wieso sollte sie sich dem Ausland anpassen?
Wir heben uns tatsächlich in vielen Punkten positiv von anderen Ländern ab. Aber das ist das Resultat lang debattierter, langfristig orientierter und nachhaltiger Lösungen. Und nicht von kurzfristigen Befindlichkeitsentscheiden. Derzeit untergraben wir mit allzu emotionalen Reaktionen die Basis unseres Erfolgs: die Offenheit der Schweiz und die guten Beziehungen zu Europa. Das ist gefährlich, ja gar ein Eigentor.

Die EU steckt in der Krise. Viele glauben, sie könnte zerbrechen.
Schadenfreude ist hier nicht angebracht. Wenn es Europa schlecht geht, ist das auch schlecht für die Schweiz. Unser Land ist von Europa abhängig, wir brauchen den Handel mit Europa, wir brauchen die Zuwanderung aus Europa. Ohne Europa können wir nicht erfolgreich sein.Wir verdienen zwei von drei Franken im Aussenhandel mit Europa. Wir sind auf die bilateralen Verträge angewiesen.

Diese sind derzeit aber gefährdet.
Deshalb müssen wir jetzt eine Lösung finden für die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative, dann ein institutionelles Rahmenabkommen abschliessen und zuletzt allenfalls neue sektorielle Abkommen aushandeln. Und auch wenn die Dossiers nacheinander abgehandelt werden, müssen wir jetzt schon anfangen, über nächste Schritte zu debattieren. Eine Vogel-Strauss-Politik ist fehl am Platz.

Können wir nicht einfach nur die Zuwanderungsfrage klären?
Nein, die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative ist kein Endziel, das ist nur eine Erschwernis für den Dialog mit Europa. Wir haben ein Problem kreiert, das müssen wir jetzt lösen. Aber gleichzeitig müssen wir schon einen Schritt weiter denken, daran führt kein Weg vorbei. Das Rahmenabkommen wird kommen, das kann man jetzt nicht totschweigen.

Wieso sind Sie so sicher?
Weil wir dieses brauchen – nicht nur weil wir weitere bilaterale Abkommen mit der EU abschliessen wollen, sondern weil wir nur so die existierenden wichtigen Abkommen retten können. Diese müssen immer wieder an die neusten Entwicklungen angepasst werden. Ohne Rahmenabkommen besteht die Gefahr, dass diese Verträge letztlich auf der Strecke bleiben.

Sagen Sie das nicht nur, weil Sie ein Dienstleistungsabkommen wollen?
Natürlich haben wir ein grosses Interesse daran. Das Fehlen eines solchen Abkommens zeigt heute schon Wirkung: Derzeit findet die Entwicklung der Finanzbranche im Ausland statt, nicht mehr in der Schweiz. Das ist eine grosse Gefahr für die zukünftigen Jobs, die nicht mehr hier geschaffen werden. Aber wenn das noch lange andauert, dann wird es auch eine Gefahr für die heute existierenden Jobs und somit für den Wohlstand der Schweiz. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.

Ihre Branche aber ist in dieser Frage gespalten: Nicht alle Banken wollen ein solches Abkommen, und die Versicherer wollen es explizit nicht.
Ich finde, wir sollten zuerst wissen, wie ein solches Abkommen aussehen könnte. Aber dafür müssten wir endlich einen Dialog mit der EU starten. Doch leider besteht hierzulande die Tendenz, viel zu schnell alles als unmöglich zu taxieren. Als Exportindustrie können wir uns eine solche Haltung schlicht und einfach nicht mehr leisten.

Nochmals: Wie wollen Sie die Leute von mehr EU überzeugen, vor allem jetzt, da diese wegen der Flüchtlingskrise selbst vor einer Zerreissprobe steht?
Eineinhalb Millionen Flüchtlinge sind für Europa nicht das Problem. Das Problem ist das Chaos, das herrscht. Was es vor allem braucht, ist eine bessere Logistik, eine bessere Organisation. Dazu könnte die Schweiz einen Beitrag leisten, umso mehr, als internationale Akteure wie das UNHCR und das IKRK hier ihren Sitz haben. Und wir könnten auch aus der Schweiz heraus mehr tun in dieser Frage.

Woran denken Sie?
Es braucht jetzt eine Zusammenarbeit von allen, von der Regierung über die Parteien und Nichtregierungsorganisationen bis zur Wirtschaft. Auch diese muss Bereitschaft signalisieren, einen Beitrag zu leisten – auch aus humanitären Gründen. Eine Lösung habe ich auch nicht, aber wir müssen jetzt den Dialog eröffnen. Wir machen schon heute vieles richtig: bei der Integration, der Pflicht, eine Landessprache zu erlernen, und bei der Unterscheidung von echten Flüchtlingen und Wirtschaftsflüchtlingen. Aber wir können auch noch besser werden: Es wäre sicher intelligenter, wir würden die Hürden zum Arbeitsmarkt für Flüchtlinge abbauen, statt diesen armen Menschen 1000 Franken abzuknöpfen, wenn sie ankommen. Aber das ist eine Besonderheit der Schweizer Bürokratie, die ich sogar bereit bin zu akzeptieren, wenn alles andere in Gang kommt.

Schimpfen über die Bürokratie ist in Mode, auch wenn Wirtschaftsführer dies meist nicht in Zusammenhang mit der Flüchtlingspolitik tun.
Die wachsende Bürokratie ist tatsächlich ein grosses Problem. Wenn wir hier nicht bald einen Kurswechsel einschlagen, drohen die Unternehmen an Auflagen zu ersticken.

Was schlagen Sie vor?
Wir sollten eine unabhängige Instanz schaffen, die – möglichst früh – jede neue Regulierung daraufhin prüft, ob das gewünschte Ziel damit erreicht wird und ob der daraus gewonnene Nutzen für die Gesellschaft sich noch immer rechtfertigen lässt, wenn man die daraus entstehenden Kosten ebenfalls berechnet. Und natürlich muss diese Instanz auch Vorschläge machen, welche unnötigen Regelungen wieder abgeschafft werden könnten.

In den Fokus der Regulierungskritiker geraten derzeit das Finanzdienstleistungs- und das Finanzinstitutsgesetz. Die Stimmen aus SVP und FDP, welche die Vorlagen an den Bundesrat zurückweisen wollen, mehren sich.
Das wäre fatal. Erstens brauchen wir einen moderneren, sinnvollen Anlegerschutz. Und zweitens braucht es einen einzigen Standard für unseren Beruf. Es ist deshalb richtig, dass unabhängige Vermögensverwalter einer angemessenen Aufsicht unterstellt werden. Sonst droht Missbrauch.

Sie plädieren für weniger Regulierung, doch sobald Sie davon profitieren, wollen Sie mehr Regulierung. Ist das nicht ein Widerspruch?
Es geht nicht darum, ganz auf Regulierungen zu verzichten, sondern, wo nötig, intelligent zu regulieren. Wir sind in der Schweiz nicht so perfekt, dass wir es uns leisten können, überhaupt keine neuen Regulierungen vorzunehmen. Wichtig ist, dass wir nicht weiter gehen als die internationalen Standards und keinen schädlichen Swiss Finish betreiben.

*Patrick Odier (60) präsidiert seit 2009 die Bankiervereinigung. Der Genfer studierte in seiner Heimatstadt und in Chicago Wirtschafts- und Finanzwissenschaften und trat 1982 bei der Privatbank Lombard Odier ein, seit 1986 ist er Teilhaber, seit 2014 Verwaltungsratspräsident. Odier ist verheiratet, Vater von drei Kindern und wohnt im Kanton Genf.