Wer sich als Stadtbewohner dem Juradorf Le Noirmont auf der Regionalstrasse über Tramelan und Les Breuleux nähert, geniesst die Ruhe der weitläufigen Weiden in den Franches Montagnes. Es ist gleichzeitig die richtige Einstimmung auf den Besuch des kleinen, aber feinen Uhrenherstellers Paul Picot. Die schmucke Fabrik aus dem Jahre 1900 steht mitten im Dorf gegenüber der Mairie, der Gemeindeverwaltung. Ihre schmalen Räume mit den doppelreihigen Fensterfronten haben der Uhrmacherei von jeher als Werkstattateliers gedient. Dass das Anfang der 1970er Jahre leer stehende Haus im Jahr 1976 wieder seinem ursprünglichen Zweck zugeführt werden konnte, ist ein Glücksfall.
Retter wahrer Werte
Es war die alte Uhrmacherkunst, die dem heute 70-jährigen Italiener Mario Boiocchi vorschwebte, als er sich mitten in der schwersten Krise der Schweizer Uhrenindustrie mit einer Hand voll erfahrener Uhrmacher zusammenschloss. Als erfolgreicher Importeur von Schweizer Uhren nach Italien lag ihm alles daran, das jahrhundertealte Kunsthandwerk helvetischer Uhrmacherei wenigstens in einem kleinen Kreis zu retten. Während sich der Uhrenwelthandel von den mechanischen auf die Quarz-Uhren zu verlegen begann, nutzte er die Gunst der Stunde und kaufte mechanische Uhrwerke zusammen und bewahrte so einen grossen Teil vor deren Vernichtung.
Bei der Namenssuche seiner 1976 gegründeten Société des Montres wurde Boiocchi im 18. Jahrhundert bei Paul Picot fündig, der im Jura-Bogen zu den Pionieren der Uhrmacherkunst zählte. Bis zum heutigen Tag werden in den Ateliers Paul Picot mit zum Teil ursprünglichen mechanischen Werken, aber auch mit Automatikwerken von ETA als Basis und zusammengekauften Einzelteilen wie Gehäuse, Zifferblätter, Zeiger usw. komplette Uhren zusammengesetzt und fertig bearbeitet. Dadurch konnte sich in der Umgebung von Le Noirmont das frühere so genannte Verlagssystem bis heute erhalten und die Existenz zahlreicher kleiner Zulieferbetriebe sichern.
Von den insgesamt 30 Mitarbeitenden bei Paul Picot sind 18 als Uhrmacherinnen und Uhrmacher tätig. Wie anno dazumal sind ihre Einzelarbeitsplätze gegen die Fensterfront hin gerichtet nicht etwa der schönen Aussicht wegen, sondern um die bis 300 und mehr winzigen Teile bei möglichst guten Lichtverhältnissen zu einem mechanischen Gesamtuhrwerk zusammenzusetzen. In den über mehrere Ebenen verteilten Ateliers herrscht beim Ausschmücken (Gravieren) von Basiswerken, beim Ausbauen mit zusätzlichen Komplikationen, beim Etablieren kompletter Uhren oder bei den Kontrollarbeiten Ruhe. Hektik wäre hier fehl am Platz, Genauigkeit geht über alles.
Kontrollen und Nachkontrollen verschlingen einen beachtlichen zeitlichen Aufwand und damit Kostenanteil. Auf die internen Qualitätskontrollen (Stunden-, Gangreserve- und Wasserdichtigkeitskontrollen) folgt bei den Chronometern die Werkkontrolle bei der COSC in La Chaux-de-Fonds (Contrôle Officiel Suisse des Chronomètres). Vor dem Einpacken und Versand erfolgt zusätzlich eine genaue Kontrolle in ästhetischer Hinsicht (Kratzer). Nichts wird dem Zufall überlassen, jede der jährlich rund 10000 von Hand etablierten Uhren verlässt Le Noirmont mehrfach kontrolliert in alle Welt.
Den Heimmarkt erobern
Klein, aber fein steht das artisanale Uhrenunternehmen Paul Picot heute da, welches von Italien über den Mittleren Osten bis nach Japan und in die USA besser bekannt ist als dort, wo seine Produkte hergestellt werden. Mit dem neuen Managing Director Eric Oppliger wird sich das nun ändern; der Schweizer Markt steht zuoberst auf seiner Prioritätenliste. Der in La Chaux-de-Fonds Aufgewachsene war zeitlebens in der Uhrenbranche tätig.
Vor einem Jahr stand er vor der Wahl, bis zur Pensionierung in seiner gut dotierten Führungsposition zu bleiben oder nochmals eine neue Herausforderung anzunehmen. Mit 58 Jahren entschloss er sich für Letzteres und gleichzeitg «Back to the roots». Im Heimmarkt Schweiz sieht er für handgefertigte Swiss-made-Uhren mit oder ohne Komplikationen zu vernünftigen Preisen ein Potenzial. Dies umso mehr, als Designer wie Ateliers in der Lage seien, auch ästhetisch schöne Damenuhren zu kreieren und herzustellen.
Das aktuelle Verhältnis 80:20 für Herren-/Damenuhren will Oppliger gezielt zu Gunsten der Damenwelt erhöhen. Die neue Herbstkollektion Firshire 2000 Large Arabic ist eine Erweiterung der im Jahre 2000 eingeführten Firshire-Kollektion in Tonneau-Form und kommt Ende November in die Fachgeschäfte. Sie überzeugt in Design und Ausführung und bestätigt die hohe Uhrmacherkunst Paul Picots. Nicht zuletzt ihrer attraktiven Farbpalette in Hell-, Dunkelblau und Rosa wegen dürfte die Kollektion manches Frauenherz höher schlagen lassen. Speziell schön sind die Zifferblätter, guillochiert oder mit Perlmuttbesatz, mit den grossen ganz mit Diamanten besetzten arabischen Ziffern 3, 6, 9 und 12, die erstmals in den Paul-Picot-Ateliers gefertigt worden sind.
Jurassisches Erbe
Obwohl das Unternehmen erst 1976 gegründet worden ist, finden sich unter den vier umfangreichen Uhren-Kollektionen auch Zeugen früherer Uhrmacherkunst, die Paul Picot heute in streng limitierten Auflagen herstellt. So etwa die anspruchsvoll gestaltete Rattrapante Atelier 310 mit Mondphase und Vollkalender und einem mechanischen Werk aus den 1940er Jahren oder das Modell Firshire 1937 mit einem speziell bearbeiteten Werk aus dem Jahre 1937. Mit solchen Meisterstücken besinnt man sich in Le Noirmont auf den Pionier Paul Picot aus dem 18. Jahrhundert. «Seine komplett von Hand gefertigten Uhren zeugten von einer hohen Individualität», erzählt Oppliger und ist stolz, mit den auf der «Basel 2003» präsentierten COSC-geprüften Chronometer-Chronographen Majestic an diese Tradition anschliessen zu können.
Die Majestic in Tonneau-Form ist eine perfekte Kombination von Technologie und Design. Ihr charakteristisches Merkmal ist eine asymmetrische Kerbe auf der Lünette gegenüber der vorstehenden Krone. Das gibt der Uhr das gewisse Etwas und macht sie unverkennbar einmalig. Sie ist mit drei unterschiedlichen Werken und in verschiedenen Materialien ab 8500 Fr. erhältlich. Es ist eine Uhr für Kenner, geschaffen für die Modelllinie Les Connaisseurs. Als Referenzprodukt helvetischer Uhrmacherkunst bezeichnet Oppliger die Technicum einen Chronographen mit grossen Komplikationen: Schleppzeiger, analoge Anzeigen für Gangreserve und Datum.
Le Noirmont
Gastronomie wie die Uhren: Perfekt
Dem Juradorf hoch über dem Doubs, unmittelbar vor der französischen Grenze gelegen, geht der Ruf guter Gastronomie voraus. Dass dort der 18-Gault-Millau-Punkte-Koch Georges Wenger in seinem gleichnamigen Gastrotempel Gäste von nah und fern verwöhnt und unten am Doubs bei seinem Bruder Ferraris und Porsches mit Basler oder Zürcher Kennzeichen parken, hat mit der gleichen Eigenschaft zu tun, die auch in der Uhrmacherei unerlässlich ist: Perfektion von A bis Z. (sr)