Im Herbst 2015 stand Pierin Vincenz, dieser Tausendsassa aus der Surselva, geadelt mit dem Titel des Banker of the Year, gefragt bei Funk und Fernsehen, gefürchtet bei der Konkurrenz, bewundert vom Publikum, an seinem Lieblingsort – im gleissenden Scheinwerferlicht. In der «Lokremise» in St. Gallen feierte er seinen Abgang als Chef der Raiffeisen-Gruppe, und die Genossenschaftsbank überreichte ihrem langjährigen Chef eine «Dank- und Denk-Schrift», die es locker ins Genre einer Hagiografie schafft.
«Was die Heiligen für die katholische Kirche bedeuten, ist Pierin Vincenz bis zu einem gewissen Grade für die Schweizer Finanzbranche», fabulierte einer der Festschriftautoren, der es wissen musste: Pirmin Bischof, Ständerat der christlichen CVP, heute Die Mitte.
Im Januar 2022 steht der Belobigte und Gesalbte nicht mehr auf der Bühne, sondern am Pranger. Der 65-Jährige muss in zwei Wochen in Zürich vor die Strafrichter. Ein Spektakel, zweifellos. Der Gerichtsfall des Jahrzehnts.
Weil der Saal im Bezirksgericht zu eng wäre, wird der Strafprozess gegen Vincenz und sechs weitere Beschuldigte im Zürcher Volkshaus verhandelt. Die Staatsanwaltschaft hat durchgeladen: Die Klageschrift umfasst 364 Seiten, dazu 550 Ordner mit Dokumenten. Der Prozess gegen Vincenz et al. wird die grösste Materialschlacht vor einem Schweizer Gericht seit dem Swissair-Prozess vor 15 Jahren. Und es ist abzusehen: Bis die Causa abgeschlossen ist, werden Jahre ins Land ziehen. Vincenz wird dann über siebzig Jahre alt sein.