Dieser Moment gehörte nicht Pierin Vincenz, sondern einem anderen – dem Hauptkontrahenten Herbert Scheidt. Am Bankiertag am 15. September, dem grossen 
Stelldichein der Branche, wurde der 
Vontobel-Mann als neuer Präsident der Schweizerischen Bankiervereinigung 
inthronisiert.

Vincenz hätte den Job selber gerne, hiess es in der heissen Phase der Suche nach passenden Kandidaten im Frühling. Die Vertreter der Inlandbanken wirbelten damals eifrig hinter den Kulissen. Doch ausgerechnet Scheidt, Präsident des langjährigen Raiffeisen-Kooperationspartners Vontobel, mit dem sich Vincenz zuletzt so zerstritten hatte, dass sich die Parteien vor Schiedsgericht trafen, wurde zur Galionsfigur des Swiss Bankings erhoben.

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Vincenz winkt ab: Es sei von seiner Seite her gar nie zu einer Kandidatur gekommen, sagt er und lehnt sich im Stuhl zurück. Wenn schon, sei dies höchstens zu seiner Zeit als Raiffeisen-Chef ein Thema gewesen. Man habe im Frühling bei der Frage der Neubesetzung seitens der Inlandbanken vielleicht fürs nächste Mal «ein wenig vorgepfadet», jetzt sei es an dieser Gruppierung, mittelfristig für die Aufgabe des Branchenpräsidenten einen Kandidaten aufzubauen. Als Scheitern sieht er dies nicht: «Ist doch toll, dass eine Diskussion losgetreten wurde.»

Provokateur

Das macht Vincenz immer noch Spass – Diskussionen lostreten, gerne auch mal ein wenig provozieren, bei heiklen Themen Klartext reden, ohne Scheu vor Autoritäten. Wie Ende August, als er die Politik der Nationalbank in Sachen Negativzinsen öffentlich anprangerte – die meisten anderen machen nur die Faust im Sack.

Noch immer sucht er die öffentliche Plattform. Wenn es nichts zu finanzpolitischen Themen zu sagen gibt, dürfen es gerne auch ein paar Aussagen in der «Schweizer Illustrierten» zu seiner schönen Bündner Heimat sein – Vincenz, fotografiert barfuss im Wasser stehend, die Hosen hochgekrempelt.

Herausforderungen an allen Ecken

Und da sind ja dann auch noch seine anderen Jobs, die eifrig zu reden geben. So seine Haupttätigkeit als Verwaltungsratspräsident des Versicherers Helvetia, wohin er kurz nach seinem Abgang bei Raiffeisen wechselte und wo es inzwischen zur Demission des langjährigen CEO kam. Oder bei der Derivatebude Leonteq, wo er ebenfalls als Präsident wirkt und nun erklären muss, warum der Kurs so heftig eingebrochen ist und weshalb der Wert der Beteiligung, die er einst noch für Raiffeisen kaufte, zuletzt so stark an Wert verloren hat.

Herausforderungen an allen Ecken und Enden also – nach einem ruhigen Frührentnerleben tönt das nicht.

Dabei hatte Vincenz vor eineinhalb Jahren, als er im Rahmen seines Rücktritts bei Raiffeisen der «Bilanz» ein Abschiedsgespräch gab, noch betont, wie sehr er sich auf die ruhigen Zeiten freue, und sich als Vorreiter eines bewusst stufenhaften Übergangs in die Pensionszeit positioniert.

Und jetzt? Ist es ihm so schnell schon langweilig geworden? Ist Pierin Vincenz gar wieder im Hamsterrad wie eh und je?

Mit dem eigenen Auto fahren

Oh nein, sagt er, er habe heute in der Tat viel mehr Zeit und Freiraum. Als Beispiel nennt er die Tatsache, dass er mit dem eigenen Auto zum Gespräch mit 
«Bilanz» angereist sei. Früher, bei Raiffeisen, chauffierte ihn ein Fahrer durchs Land, im Fond konnte er telefonieren oder Mails abarbeiten. Das sei vorbei – zum Glück: «Selber fahren macht doch viel mehr Spass.»

Dennoch kommt man nicht um den Eindruck herum, dass er den Zeiten bei Raiffeisen etwas nachtrauert. Die Rolle als operativer Chef der drittgrössten Schweizer Bank war natürlich eine bedeutendere als jene des Versicherungspräsidenten. Ist ihm, dem eitlen Manager, die heutige Rolle wirklich genug?

Schwachstellen

Der Blick zurück schmerzt ihn möglicherweise auch aus anderen Gründen. Denn Nachfolger Patrik Gisel ist daran, Vincenz’ Hinterlassenschaft bei Raiffeisen in einigen Punkten umzukrempeln. Er deckt damit Schwachstellen auf, die auf die Amtszeit von Vincenz zurückgehen.

Ein Beispiel dafür ist die Kooperation mit Vontobel, die – lange belastet von den persönlichen Animositäten zwischen Vincenz und Scheidt – nun eine Art zweiten Honeymoon erlebt: Gisel, unbelastet vom persönlichen Zwist, hat die Partnerschaft nicht nur wiederbelebt, sondern gar noch intensiviert. Dies, indem er das Asset Management, das Vincenz im Rahmen seiner Diversifikationsstrategie aufgebaut hatte, an Vontobel verkaufte – Raiffeisen konzentriert sich künftig auf die Kundenberatung im Anlagegeschäft, Vontobel übernimmt die Produktentwicklung.

Die kritische Grösse fehlt

Auch am zweiten grossen Expansionsschritt von Vincenz, dem Aufbruch ins Private Banking durch den Kauf von Notenstein im Winter 2012, hat Gisel noch zu beissen. Denn der Privatbank fehlt nach wie vor die kritische Grösse. Trotz dem Kauf von La Roche 2015 rangiert Notenstein mit etwas über 20 Milliarden Franken an verwalteten Vermögen im Branchenvergleich unter «ferner liefen» – kein Wunder, halten sich hartnäckige Gerüchte, auch Notenstein und Vontobel sollten zusammengelegt werden.

Gisel hat dies allerdings wiederholt dementiert. Doch der Druck auf Notenstein-Chef Adrian Künzi steigt – Gisel wolle endlich Resultate sehen, hört man aus dem Innern der Bank. Es heisst auch, die Bank stehe vor einem Personalschnitt – die Kosten müssen deutlich runter.

Regelmässig Kontakt mit Gisel

Wie sieht Vincenz selber das von ihm aufgebaute Reich und die Rolle seines Nachfolgers? «Zu Raiffeisen äussere ich mich grundsätzlich nicht», stellt er klar. Nur so viel: Er habe privat immer noch regelmässig Kontakt mit Gisel, mit dem er nach wie vor gut befreundet sei und mit dem er in der Konzernleitung von Raiffeisen ja jahrelang eng zusammengearbeitet habe. Raiffeisen sei bei diesen Treffen aber bewusst kein Thema.

Generell habe er keine Mühe, wenn sein Nachfolger ein paar Sachen zurückdrehe: «Es gehört zum Unternehmertum, dass man auch mal etwas anders sieht.» Seinem Nachfolger will er nicht auf die Pelle rücken: «Ich gehe nicht an einen Event, wenn ich sehe, dass es eine Raiffeisen-Veranstaltung ist.»

Unbehagen

Dennoch sind die Bande zum ehemaligen Arbeitgeber immer noch eng. So ist Raiffeisen einer der Aktionäre der Helvetia Gruppe, die Bank hält vier Prozent der Aktien, Gisel ist im Verwaltungsrat. Auch bei Leonteq ist Raiffeisen Aktionär – hier gar mit 29 Prozent –, und auch hier sitzt Gisel im Verwaltungsrat.

Ihm machten derlei Verbandelungen mitunter auch etwas Unbehagen, räumt Vincenz ein. Derzeit etwa sucht Leonteq angeblich nach einem Versicherungspartner als zusätzlichem Aktionär, möchte Raiffeisen ihren Anteil doch reduzieren. Gisel liess sich in der Wirtschaftspresse zitieren, er könne sich Helvetia – mit welcher Leonteq bereits eine operative Zusammenarbeit pflegt – als Aktionär vorstellen. Vincenz soll daran wenig Freude gehabt haben. Es sei für Leonteq wichtig, dass derlei Fragen absolut objektiv und unabhängig behandelt würden, stellt er klar.

Aus Kreisen der Helvetia Gruppe war denn auch zu vernehmen, dass 
Vincenz lieber einen anderen Versicherer als Aktionär für Leonteq sähe als «seine eigene» Helvetia – etwa eine Swiss Life. Vincenz will zu konkreten Namen keine Stellung nehmen.

Auf der Suche nach einer neuen Identität

Für Leonteq sind diese Fragen von grosser Relevanz. Denn die Firma ist auf der Suche nach einer neuen Identität.

In der Gründerphase schnell zur Gewinnmaschine aufgestiegen, sieht der Markt die Ertragschancen heute zurückhaltender. Der Kurs hat empfindlich nachgegeben, allein in den letzten zwölf Monaten um über 70 Prozent. Die Firma sei daran, sich von einem Start-up zu einem etablierten Unternehmen zu entwickeln, sagt Vincenz, diesen Wachstumsprozess wolle er als Präsident begleiten. Für Peter Forstmoser, den er als Präsident im Frühling ablöste, war die Installierung einer guten Corporate Governance prioritär.

Immer noch ein guter Deal

Raiffeisen ist nun schon drei Jahre gross dabei: 2013 stockte sie via ihre Tochter Notenstein die Beteiligung von 2,5 auf 22,75 Prozent auf. Für den Kauf wurden 70,2 Millionen Franken bezahlt. Heute ist die Bank mit 29 Prozent dabei. Der Wert beträgt beim aktuellen Kurs rund 270 Millionen Franken – aus Investmentsicht also immer noch ein guter Deal, auch wenn der Wert des Pakets auf dem Höhepunkt im Sommer 2015 gegen eine Milliarde wert war.

Gefordert sieht sich Vincenz auch als Präsident bei Helvetia. Schon sein Antritt war mit allerlei Gepolter vonstattengegangen, hatte er doch bereits vor Amtsantritt im Oktober 2015 öffentlich Allfinanzpläne gewälzt, was beim damaligen CEO Stefan Loacker nicht gut ankam: «Lassen wir die Kirche im Dorf», sagte dieser damals. Die Kooperation mit Raiffeisen sei deshalb so erfolgreich, «weil wir die jeweiligen Kompetenzen respektieren und nicht von Allfinanz reden.»

Keine Differenzen

Als Loacker diesen Juli überraschend seinen Abgang verkündete – er war über 20 Jahre für den Versicherer tätig –, sahen das viele vor diesem Hintergrund. Vincenz sagt, es habe keine Differenzen über die Strategie gegeben. Dies betonte auch Loacker bei seinem Abgang. Die Strategie wird denn auch konsequent weiter umgesetzt.

Hintergrund war offenbar die unterschiedliche Vorstellung über die Rolle des CEO. Vincenz soll die Vorstellung eines stark sichtbaren Chefs gepusht haben, der sich als Galionsfigur der Firma auch öffentlich stark exponiert. Loacker sah seine Rolle offenbar leiser und mehr gegen innen gerichtet.

Unbekümmert wie Vincenz

Mit Philipp Gmür hat Vincenz nun einen CEO, der von der Persönlichkeit her mehr Zugänglichkeit vermittelt und auch im öffentlichen Auftritt ähnlich unbekümmert ist wie Vincenz – etwa wenn er sich für die «Schweizer Illustrierte» in Badehose im Seebad Luzern in den Vierwaldstättersee stürzt.

Dennoch dürfte das letzte Wort in Sachen Allfinanz noch nicht gesprochen sein. Dies, weil auch Raiffeisen-CEO Gisel derlei Pläne für sinnvoll hält, wie 
er der «Bilanz» bei Amtsantritt verriet: Versicherer seien stark bei den langfristigen Passivgeldern, typischerweise aber schwach auf der Aktivseite: «Die Idee, die beiden Seiten zu kombinieren, hat vieles für sich.»

Breiter Rücken

In der Tat könnte der Druck auf neue Formen der Zusammenarbeit weiter steigen, sollten die Negativzinsen in der Schweiz langfristig beibehalten oder gar noch gesenkt werden.

Klar ist, dass Vincenz, wo immer er hinkommt, gerne in grossen Linien denkt. Er packt gerne grundsätzliche Veränderungen an, kann seine Dynamik manchmal nicht recht zügeln. Daran müssen sich einige wohl noch gewöhnen – gerade auch bei einem bisher als eher behäbig geltenden Versicherer wie der Helvetia. Nicht überall in der Belegschaft sei man happy mit dem neuen Präsidenten, ist zu hören.

Was aber nach wie vor gut ankommt, ist der betont unverkrampfte und unprätentiöse Umgang, den er mit Mitarbeitern wie Geschäftspartnern pflegt. Er sei zugänglich, voller Humor und sehr engagiert, heisst es, und zudem ein Mann, bei dem ein Handschlag noch gelte. Auch scheint Vincenz Kritik gut wegstecken zu können – er gilt als wenig nachtragend: «Als Chef eines Grossunternehmens müssen Sie einen breiten Rücken haben», sagt er dazu nur.

Es ruhiger angehen lassen

Genussmensch ist er geblieben – gerne trinkt er mit Freunden feinen Weisswein, am liebsten aus familieneigenen Beständen. Die Verbindung zum Weingeschäft geht zurück auf seinen Vater, einen ehemaligen Bündner Ständerat, der auch schon in diesem Segment tätig war.

Auf seine Zukunftsziele angesprochen, wiederholt Pierin Vincenz, was er schon vor eineinhalb Jahren angekündigt hat: es ruhiger angehen lassen. Um dann nach kurzem Zögern nachzulegen, er sei aber schon nicht der Typ, der daheim Däumchen drehe. «Vielleicht liegt es auch daran», sagt er und setzt sein verschmitztes Lächeln auf, «dass ich es verpasst habe, mir ein rechtes Hobby zu suchen.»