Polycom ist die Bezeichnung für das nationale «Sicherheitsnetz Funk der Schweiz», das sich im Aufbau befindet. Es ermöglicht sämtlichen Behörden und Organisationen für Rettung und Sicherheit des Bundes, der Kantone und der Gemeinden («Bors») gemeinsam eine einheitliche und homogene Infrastruktur zu nutzen. Das Polycom-Funknetz wird sich im Endausbau aus Teilnetzen zusammensetzen, die von den Kantonen eigenständig nach ihren Bedürfnissen und unter Berücksichtigung der Vorgaben des Bundes realisiert werden. Es wird die gesamte Fläche der Schweiz abdecken, wobei sich der Bund an den Investitionen und am Unterhalt massgeblich beteiligen wird.
Die organisationsübergreifende Kommunikation wird durch Polycom wesentlich vereinfacht, was sich in einer verbesserten Zusammenarbeit der Rettungs- und Interventionsdienste im Ereignisfall niederschlägt. Mit Polycom verfügen die Bors erstmals seit Einführung der drahtlosen Kommunikation über ein schweizweit einheitliches System. Der direkte Nutzen eines einheitlichen Funksystems wird sich für die Bevölkerung vor allem durch kürzere Reaktionszeiten der Sicherheits- und Rettungsorganisationen und deren gut koordinierte Einsätze manifestieren.
Nach dem 2. Weltkrieg begannen die Bors die Kommunikation via Funk zu nutzen. Ohne grosse Koordination wurden verschiedenste Funknetze für die unterschiedlichsten Bedürfnisse aufgebaut. Die Zuteilung der Frequenzen erfolgte damals durch die PTT, unter anderem nach physikalischen Gesichtspunkten. Als Konsequenz konnten z.B. kommunale und kantonale Polizeikorps nicht direkt miteinander kommunizieren, da ihnen Frequenzen in unterschiedlichen Frequenzbändern zugewiesen wurden.
Seit gut 20 Jahren werden bei der Polizei die Funkgespräche teilweise chiffriert. Damit ist ein Schutz vor unerwünschten Zuhörern gewährleistet. Da die Verschlüsselungsverfahren auf herstellerspezifischen, nicht öffentlichen Mechanismen basieren, wurde quasi eine zusätzliche Kommunikationshürde eingebaut. Mehrere Versuche, einen gemeinsamen Funkstandard zu etablieren, sind wegen mangelnder Akzeptanz bei den einzelnen Funknetzbetreibern misslungen. 1996 wurde ein weiterer Versuch für die Schaffung eines einheitlichen Funknetzes unternommen die Idee Polycom war geboren.
Von der Idee zu den operativen Netzen
Die Führung im Projekt Polycom übernahm die Untergruppe Führungsunterstützung (Militär), der Aufbau wurde einem Provider, nämlich der Telecom PTT, der heutigen Swisscom, überlassen. Als technischer Standard wurde Tetrapol gewählt, ein Produkt der französischen Firma EADS (ehemals Matra), das in der Schweiz durch Siemens vertrieben wird und speziell auf die Bedürfnisse von Blaulichtorganisationen abgestimmt ist. Alternativ wurde das Konkurrenzprodukt Tetra geprüft, das zwar technologisch weiterentwickelt ist, zum Zeitpunkt des Entscheides aber noch nicht die Seriereife erlangt hatte.
Leider zog Swisscom im Frühjahr 1999 ihr Angebot zurück - es musste also eine neue Lösung für die Trägerschaft von Polycom gefunden werden. Als Resultat eines eingehenden Entscheidungsfindungsprozesses wurde dem Bundesrat Anfang 2001 der Antrag unterbreitet, Polycom als Zusammenschluss von gleichberechtigten Teilnetzen aufzubauen und durch verschiedene Auflagen die technischen und betrieblichen Voraussetzungen für einen reibungslosen Zusammenschluss zu garantieren. Da der Bund sich massgeblich an der Finanzierung von Polycom beteiligt, ist er auch in der Lage, die Einhaltung dieser Vorgaben bei allen Partnern durchzusetzen, da diese ansonsten keine finanziellen Beiträge erhalten.
Als erste Organisationen entschieden sich im Herbst 1999 das Grenzwachtkorps und der Kanton Thurgau, ihre Funkbedürfnisse mit einem Tetrapol-Netz abzudecken. Dies bildete den eigentlichen Startschuss für Polycom gemäss heute gültigem Konzept.
Was bietet Polycom?
Polycom eignet sich sowohl für Sprech- als auch für Datenfunk. Die Funkkommunikation erfolgt grundsätzlich verschlüsselt. Zu bestehenden, konventionellen Funknetzen ist eine Kommunikationsmöglichkeit wenn auch eingeschränkt vorhanden. Polycom bietet organisationsübergreifende Kommunikation und trotzdem betriebliche Eigenständigkeit. Ist das Funknetz nicht verfügbar, ist mit den Endgeräten ein «Walkie-Talkie-Betrieb» möglich. Ein wesentlicher Unterschied zum kommerziellen GSM-Netz stellt die Funktion des «offenen Kanals» dar. Damit ist es möglich, dass ein Endgerät alle anderen Endgeräte gleichzeitig rufen kann. Die Endgeräte erlauben es auch jederzeit, auf einfachste Weise einen Notruf abzusetzen, der sofort die Funkzentrale und/oder alle andern Endgeräte erreicht.
Grundsätzlich ermöglicht Polycom Datenübertragungen. Typische Anwendungen sind dabei Datenbankabfragen. Eine Übertragung von grossen Datenmengen, wie sie zum Beispiel für bewegte Bilder notwendig sind, wird hingegen an den zu niedrigen Übertragungskapazitäten scheitern.
Wesentliche Verbesserungen gegenüber der heutigen Funkkommunikation sind:
- Abhörsicherheit
- Weniger Funklöcher
- Die Möglichkeit, Individualgespräche ähnlich dem Telefon zu führen, ohne dass andere Netzbenutzer mithören können
- Organisationsübergreifende und/oder organisationsinterne Benutzergruppen können im Zusammenhang mit spontan zu bewältigenden Ereignissen ad hoc gebildet werden.
- Dank Bündelfunk-Technologie werden die verfügbaren Frequenzen ökonomisch genutzt.
Der Hauptvorteil eines einheitlichen nationalen Funknetzes liegt in erster Linie bei der organisationsübergreifenden Kommunikation. Im Ereignisfall lassen sich Organisationen oder Teile davon einfach zu einer neuen «Gesprächsgruppe» zusammenschalten respektive in eine bestehende integrieren. Ausserdem bietet ein einheitliches Funknetz mit zentraler Wartungs- und Unterhaltsstruktur für die verschiedenen Netzbetreiber ein nicht zu unterschätzendes Synergiepotenzial.
Bei Polycom gilt es aber auch zu bedenken:
- Wie bei jedem komplexen System wird der Hauptlieferant eine gewisse Monopolstellung einnehmen.
- Die Funknetze werden heute von den jeweiligen Organisationen selbst betrieben und sind auf deren Bedürfnisse abgestimmt. Eigenentwicklungen sind jeweils nur in diesen Netzen verfügbar. In Polycom können solche Spezialanwendungen nicht oder nur mit grossem finanziellem Aufwand integriert werden.
- Die Gerätevielfalt im analogen Funkbereich ist sehr gross. Es können unterschiedliche Funkgeräte verschiedener Hersteller eingesetzt werden. Polycom-Produkte werden in der Schweiz zurzeit nur von der Siemens (Schweiz) AG und der Ruag vertrieben. Prinzipiell könnten auch Geräte anderer Hersteller verwendet werden, dazu wären aber zuerst lizenzrechtliche Probleme zu lösen. Die dadurch entstehende Monopolstellung wirkt sich auf den Markt, die Preisbildung und die Flexibilität bei der Neu- resp. Weiterentwicklung von Systemkomponenten eher negativ aus.
- Von einer Störung bzw. einem Defekt des Polycom-Systems sind alle Bors im entsprechenden Gebiet betroffen; das hängt nicht vom gewählten technischen Standard (Tetrapol) ab sondern ist eine Konsequenz aus der Forderung nach vereinfachter Kommunikation zwischen den einzelnen Partnerorganisationen.
- Gesamtschweizerisch wird Polycom nicht vor 2008 flächendeckend realisiert sein. Da einzelne Kantone (Luzern, Schwyz, Zug, Zürich usw.) über neue, sehr gut funktionierende Polizeifunknetze verfügen, ist deren Ablösung nicht zuletzt wegen des Investitionsschutzes kein vordringliches Thema.
- Die lange Projektdauer verlangt, dass die bereits erstellten Netze permanent auf den neuesten technischen Stand gebracht werden, um die Anbindung und Integration neu erstellter Netze an bestehende Netze gewährleisten zu können.
Aktueller Stand
Im Kanton Thurgau wurde das erste Polycom-Teilnetz der Schweiz am 3. Dezember 2001 in Betrieb genommen. Netzteilnehmer sind die Kantonspolizei, die Sanität, das Tiefbauamt, das Amt für Umwelt und das Grenzwachtkorps. Voraussichtlich bis im Jahr 2004 kommen die Feuerwehr und der Zivilschutz als weitere Nutzer hinzu. Ende 2004 werden somit rund 1200 Funkgeräte im Teilnetz Thurgau betrieben (Stand Februar 2003: etwa 800 Funkgeräte). Die ersten Betriebserfahrungen sind bei allen involvierten Organisationen durchwegs positiv. Besonders auffallend ist die sehr einfache organisationsübergreifende Kommunikationsmöglichkeit, die bei der Zusammenarbeit zwischen Polizei und Tiefbauamt wie auch zwischen der Polizei und dem Grenzwachtkorps genutzt wird.
Im Kanton Neuenburg wird Polycom seit dem 2. Mai 2002 operativ durch die Orcan (Bors) genutzt. Dazu zählen im Kanton Neuenburg Polizei, Feuerwehr, Sanität, Tiefbauamt, Grenzwachtkorps und Elektrizitätswerke. Aktuell sind 1100 Funkgeräte im Einsatz. Bis 2004 wird die Anzahl der Funkgeräte auf 1400 ansteigen. Das neueste Teilnetz ist im Kanton Aargau seit dem 15. Januar 2003 in Betrieb und musste im Zusammenhang mit einem brutalen Raubüberfall bereits am 2. Tag seine Tauglichkeit unter Beweis stellen. Ebenfalls operativ sind inzwischen die Regionalnetze des Grenzwachtkorps in den Kantonen Genf und Tessin.
In den Kantonen Glarus und Waadt befinden sich kantonale Polycom-Teilnetze im Aufbau. Sie werden 2003 bzw. 2004 in Betrieb gehen. Zusätzlich arbeitet das GWK mit Hochdruck daran, den gesamten Grenzgürtel mit Polycom zu versorgen. Bis Ende 2003 werden 40 bis 60% des Grenzraumes durch das Polycom-Funknetz abgedeckt sein. Der aktuelle Stand der einzelnen Projekte ist aus der Graphik ersichtlich.
Peter Folini ist Vorsitzender der Fachgruppe Übermittlung und Elektronik der schweizerischen Polizeitechnischen Kommission (SPTK) und Stellvertretender Betriebsleiter ai Polycom; Samuel Mazan ist Mitglied der Geschäftsleitung AWK Politraffic AG.