Er ist sauer. Seit Jahren macht Stefan Meierhans Vorschläge, wie die Kosten im Gesundheitswesen gedrosselt respektive wie deren Anstieg wenigstens gedämpft werden könnte. Doch geschehen ist wenig – zu wenig. Jetzt hat sich der Preisüberwacher mal hingesetzt und alle Fehlanreize aufgelistet: Über 50 Punkte hat er so zusammengetragen. Alle zusammen sorgen dafür, dass die Gesundheitsmaschine langsam, aber sicher zum grössten Albtraum der Steuer- und Prämienzahler wird.
Seit der Einführung der obligatorischen Krankenversicherung vor gut 20 Jahren haben sich deren Kosten mehr als verdoppelt. Sie stiegen damit deutlich stärker an als das Bruttoinlandprodukt, die AHV-Ausgaben oder die Löhne. Und ein Ende des Ausgabenwachstums ist nicht abzusehen. «Die Gesundheitskosten sind das grösste finanzpolitische Problem der Schweiz», sagt auch Serge Gaillard, Chef der Eidgenössischen Finanzverwaltung. «Die Leidtragenden sind vor allem die Kantone und die Prämienzahler.» Im medialen Schlaglicht ist meist «nur» jener Teil, der von der obligatorischen Grundversicherung bezahlt wird und heute über 30 Milliarden Franken umfasst. Die Gesundheitsausgaben belaufen sich aber insgesamt auf rund 77 Milliarden Franken pro Jahr oder auf über 11 Prozent des Bruttoinlandprodukts.
Lösungen sind nicht so einfach
Sorgen bereitet Gaillard vor allem, dass in der Gesundheitspolitik Lösungen nicht so «einfach» sind wie etwa bei der AHV, wo bei Finanzproblemen entweder das Rentenalter erhöht oder – etwa via Mehrwertsteuer – mehr Geld eingeschossen werden kann. Das Gesundheitswesen ist in der Tat komplizierter, auch weil so viele Akteure mit unterschiedlichsten Interessen eingebunden sind: der Bund, die Kantone, die Spitäler, die Ärzte, die Pharma und die Versicherer.
«Es gibt kein Allzweckmittel, keine einfache Musterlösung», davon ist Thomas Heiniger überzeugt, der Präsident der kantonalen Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK). Er vergleicht das Gesundheitswesen mit einer «Tinguely-Maschine» mit zahlreichen Schrauben und Scharnieren. «Wenn man an einem Rädchen dreht, dann werden unzählige Prozesse ausgelöst und Schaltknüppel umgelegt – viele davon auch unbeabsichtigt.»
Auch Eigeninteressen treiben die Kassen an
Jetzt kommt wieder etwas Bewegung ins Räderwerk. Die reformwilligen Akteure erwachen langsam aus der Lethargie, in die sie die wuchtige Niederlage bei der Managed-Care-Abstimmung im Sommer 2012 versetzt hat. «Es muss jetzt etwas geschehen», sagt Pius Zängerle, Chef des Krankenkassenverbands Curafutura. «Das System kommt an seine Grenzen. Bricht es zusammen, verlieren alle, auch die Versicherer.» Es sind aber auch Eigeninteressen, welche die Kassen antreiben. Denn je teurer die obligatorische Grundversicherung wird, desto kleiner wird das Budget ihrer Kunden für allfällige Zusatzversicherungen. «Wir stellen hier einen Rückgang fest», sagt beispielsweise die CSS-Chefin Philomena Colatrella.
Eine der Ursachen für die massive Kostensteigerung ist – nebst dem demografischen Wandel und den teuren Innovationen vor allem auf dem Medikamentenmarkt – die Mengenausweitung. «Zwei Drittel des gesamten Kostenwachstums gehen auf gestiegene Kosten pro Patient zurück», sagt Helsana-Chef Daniel Schmutz.
Das heisst: Patienten werden häufiger und intensiver behandelt, beziehen also immer mehr Leistungen aus dem immer grösser werdenden Leistungskatalog, der von der obligatorischen Grundversicherung abgedeckt wird. Ein Phänomen, das für die Zukunft nichts Gutes ahnen lässt: «Zwar sind die Kosten für ältere Patienten deutlich höher als bei den jungen, das Mengenwachstum pro Patient hingegen ist bei den Personen unter 65 Jahren deutlich ausgeprägter», sagt Schmutz und verweist auf Helsana-interne Daten.
Dass die unkontrollierte Mengenausweitung ein Problem ist, hat auch Gesundheitsminister Alain Berset erkannt. Er hat deshalb jetzt eine Expertengruppe unter der Leitung der früheren Zürcher Gesundheitsdirektorin Verena Diener einberufen, die Gegenmassnahmen finden sollte. Mit dabei waren auch Preisüberwacher Meierhans, Kassenwart Gaillard, der Chefökonom des Staatssekretariats für Wirtschaft, Eric Scheidegger, sowie Experten aus Deutschland, Frankreich und den Niederlanden. Die Gruppe hat den Bericht abgeliefert. Jetzt ist wieder Bundesrat Berset am Zug.
Vorstösse für eine Kostenbremse
Aus Sicht der Kassen und auch des Preisüberwachers könnte Berset bereits auf der bestehenden Gesetzesgrundlage mehr tun. Da das zuständige Bundesamt für Gesundheit (BAG) seine Kompetenzen offensichtlich nicht wahrnehmen will, haben die CVP-Parlamentarier Erich Ettlin und Christian Lohr Vorstösse für eine Kostenbremse eingereicht.
Immerhin hat der Gesundheitsminister jetzt beim Tarmed eingegriffen, dem Tarifvertrag für die ambulanten ärztlichen Leistungen in Praxen und Spitälern. Er musste es tun, denn die Tarifpartner konnten sich nicht einigen. Vier Jahre sassen die Geduldigsten von ihnen am Verhandlungstisch, einige hatten schon vorher den Bettel hingeschmissen. Das Resultat ist gleich null.
Im «Selbstbedienungsladen»
Der Tarmed besteht aus über 4500 Einzelleistungspositionen, aus denen sich die Ärzte ihre Rechnung zusammenstellen können. Kaum ein Handgriff, für den es keinen Taxpunkt gibt. Verena Nold, die Chefin des Krankenkassenverbands Santésuisse, spricht deshalb auch von einem «Selbstbedienungsladen». Deshalb pocht Curafutura vor allem auf Mengen- und Zeitlimiten. Zum Beispiel beim Taxpunkt «Ärztliche Leistung in Abwesenheit des Patienten». Denn hier haben die Krankenkassen in jüngster Zeit massive Zunahmen festgestellt: «Ohne medizinisch nachvollziehbaren Grund», wie Zängerle ergänzt. Die Helsana registriert beim «Aktenstudium» seit 2012 eine Zunahme von 27 Prozent bei den Hausärzten, von 48 Prozent bei den Spezialisten und von satten 70 Prozent im Spitalambulatorium.
Dieser «korrigierte» Tarmed muss einige Zeit halten – bis die Partner eine neue Lösung finden: ein neues Tarifwerk, das sich, analog den Fallpauschalen DRG im stationären Spitalbereich, kontinuierlich weiterentwickeln lässt. Am besten durch eine unabhängige und vor allem professionelle Organisation, in der Leistungserbringer und Kassen sowie eventuell auch die Kantone Einsitz nehmen. Dieses Modell klappe im stationären Bereich ganz gut, betont Bernhard Wegmüller, der Direktor der Spitalverbands H+. Insbesondere auch deshalb, weil die Organisation per Mehrheitsentscheid funktioniere. «Ein einzelner Akteur kann folglich nicht alles blockieren.»
Ambulant vor stationär
Sparen ohne Leistungseinbussen liesse sich, wenn die Patienten sich am «richtigen» Ort behandeln liessen – insbesondere im Spital. «Ambulant vor stationär» heisst hier die Devise. Trotz des medizinischen Fortschritts tut sich die Schweiz allerdings schwer damit. Gemäss OECD-Zahlen jedenfalls hat sie da viel Nachholbedarf. Während die Anteile der chirurgischen Eingriffe im Ambulatorium in Deutschland bei knapp 30, in den Niederlanden bei gut
50 und in den USA gar bei über 60 Prozent liegen, sind es hierzulande nur knapp 20 Prozent. Mit hohen Kostenfolgen: Eine Meniskusoperation etwa kostet ambulant 2400 Franken, stationär 3700 Franken – und für einen Patienten mit Zusatzversicherung 13 200 Franken.
Zusatzversicherte werden häufiger eingewiesen
Diese Preisdifferenzen lieferten die grössten Anreize für unnötige Hospitalisationen, betont der Zürcher Gesundheitsdirektor Heiniger und untermauert diesen Befund mit einer weiteren Statistik aus seinem Kanton: Während auf der Notfallstation 24 Prozent der Patienten eine Zusatzversicherung haben, sind es bei geplanten Spitaleintritten bereits 38 und im kurzzeitigen stationären Bereich 44 Prozent. Kurz gesagt: Zusatzversicherte werden häufiger ins Spital eingewiesen. Eine Diagnose, die auch die Kassen teilen. «Kunden mit Zusatzversicherung werden im Schnitt häufiger operiert als solche ohne», sagt etwa KPT-Chef Reto Egloff mit Verweis auf hauseigene Auswertungen.
Thomas Heiniger greift nun ein: Er hat 13 Eingriffe definiert, die ab 2018 im Regelfall ambulant vorgenommen werden müssen. Auf der Liste stehen unter anderem der Graue Star, Krampfadern, Kniearthroskopien oder Mandeloperationen. Heinigers Hoffnung: 4000 stationäre Fälle weniger pro Jahr – allein im Kanton Zürich. PricewaterhouseCoopers hat vorgerechnet, dass die Schweiz mit einer konsequenten Umsetzung von «ambulant vor stationär» langfristig eine Milliarde Franken pro Jahr sparen könnte.
Angst vor Prämienschub
Doch das Rezept hat eine Nebenwirkung: Es führt zu einem Prämienschub. Grund dafür ist die unterschiedliche Finanzierung der Spitalteile; im Ambulatorium begleichen die Kassen die ganze Rechnung, im stationären Bereich übernimmt der Kanton 55 Prozent der Kosten. Die Folgen in Zahlen: Heute muss die Kasse etwa für eine Koronarangiografie, eine Darstellung der Herzkranzgefässe, ambulant 3101 Franken bezahlen, stationär jedoch dank des Kostenteilers nur 1971 Franken. Das heisst: Die Rechnung fällt zwar insgesamt tiefer aus, für die Kasse – und folglich für die Prämienzahler – wird sie aber höher.
Diese ungleiche Finanzierung ist ein politischer Dauerbrenner, eine Reform scheiterte aber immer wieder am Widerstand der Kantone. Und auch jetzt stemmen sich die Kantone gegen das Projekt «Einheitliche Finanzierung von ambulant und stationär», an dem die nationalrätliche Gesundheitskommission arbeitet. Basis ist die parlamentarische Initiative aus dem Jahr 2009, eingereicht von CVP-Nationalrätin Ruth Humbel.
«Holländische Modell» in Poleposition
In der Poleposition ist das «holländische Modell»: Grob gesagt, würden damit die Kantone fix 20 bis 25 Prozent an die Gesundheitskosten zahlen, was ihrem heutigen Ausgabenvolumen entspräche. Diese Gelder würden – etwa über den Mechanismus des Risikoausgleichs – auf die Kassen verteilt, die dann die ganze Rechnung vergüten würden. Hinter dieser einheitlichen Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen steht nebst den Kassenverbänden auch die Ärztevereinigung FMH. Aber eben: die Kantone stellen sich quer.
Und so wird wohl auch dem neusten Prämienschock nicht viel passieren. Allenfalls werden Kosten von einer Zahlstelle auf die nächste verschoben. Wie das die Politiker auch in der Vergangenheit gern gemacht haben. Jüngste Beispiele aus Bundesbern sind die Senkung der Kinderprämien zulasten der Erwachsenenprämien oder die Neudefinition von Prämienregionen. Es gibt immer Gewinner und Verlierer, aber unter dem Strich wird kein einziger Franken eingespart.
Weltmeister wider Willen
Kopfzerbrechen bescheren den Kassen die steigenden Ausgaben für Medikamente. «Wir sind Weltmeister bei den Medikamentenpreisen», sagt Verena Nold. «Und wir können nichts dagegen tun.» Denn es ist der Bund, der die Medikamente auf die Spezialitätenliste setzt, also auf die Liste der Medikamente, die von der obligatorischen Grundversicherung bezahlt werden müssen. Es ist auch der Bund, der mit dem Hersteller den Preis aushandelt. Und die Medikamente werden immer teurer: Laut Santésuisse beträgt heute der durchschnittliche Publikumspreis pro neu auf der Spezialitätenliste zugelassene Packung mehr als 330 Franken, vor zehn Jahren waren es noch 185 Franken.
Bei den Generika ist es der Preisunterschied zum Ausland, der die Kassen ärgert. So kostet etwa eine Packung «Pantoprazol Sandoz» mit 105 Tabletten in Holland umgerechnet gerade mal 3.14 Franken, in der Schweiz zahlt man fürs identische Produkt über 60 Franken: stolze 20 Mal so viel. Preisüberwacher Meierhans fordert deshalb für die Generika seit Jahren ein Festbetragssystem mit fixem Vergütungsbetrag pro Wirkstoff. Berset hat nun zwar versprochen, eine entsprechende Gesetzesrevision anzupacken, im Parlament dürfte eine solche aber kaum eine Chance haben: Denn dort ist die Pharmalobby noch stärker als die Kassenlobby.
Alles bleibt beim Status quo
Andere Zugeständnisse wollte Berset in diesem Bereich nicht machen. Die Kassen forderten etwa für sich oder die Patientenorganisationen ein Beschwerderecht gegen die Aufnahme der Medikamente auf die Spezialitätenliste oder gegen die Preisfestsetzungen. Und so bleibt alles beim Status quo: Den Gerichtsweg einschlagen können auch in Zukunft nur die Pharmafirmen. Heiner Sandmeier von Interpharma sieht keinen Grund, forscher vorzugehen: «Der Medikamentenbereich ist der einzige, in dem regelmässig Kosten eingespart werden. Zudem sank der Anteil der Medikamentenkosten an den Gesundheitsausgaben in den letzten Jahren, während die ambulanten und stationären Kosten im Spital zugenommen haben.»
Dennoch: Der Ausgabenposten für Medikamente zulasten der Grundversicherung belief sich 2015 auf total 6,2 Milliarden Franken. 5,2 Milliarden entfallen auf ambulant abgegebene Medikamente, rund eine weitere Milliarde ist im Kostenblock Spital enthalten. Damit werden inzwischen über 20 Prozent der Grundversicherungsprämien für Medikamente ausgegeben. Und immer mehr Patienten benötigen Medikamente im Wert von 100 000 Franken und mehr pro Jahr. Bei der Helsana-Gruppe ist die Zahl solcher Patienten in den letzten fünf Jahren von unter 100 Personen auf über 250 angestiegen. Was den Krankenkassen aber noch mehr Sorgen bereitet als die bestehenden Preise, sind die neuen Medikamente, insbesondere gegen Krebs oder seltene Krankheiten.
Mit jährlichen Preisüberprüfungen aller Medikamente, der Senkung der Generikapreise und der Vertriebsmarge von Arzt und Apotheker liesse sich laut Santésuisse-Chefin Nold heute rund eine Milliarde Franken sparen. «Bevor wir über ethische Fragen diskutieren, wer wann welches Medikament bekommen darf, sollten wir die Luft aus dem System nehmen.»
Qualität und Geld
Kurzfristig aber leben alle Interessengruppen gut mit dem heutigen System: die Ärzte, die Spitäler, die Pharma. Je mehr Leistungen sie verkaufen, desto mehr verdienen sie. Sie können mit Reformen nur verlieren. Oder wie es Heiniger sagt: «Echtes Sparen geht immer auf Kosten von jemandem.» Auch die Kassen haben in der Vergangenheit wenig Reformeifer gezeigt. Sie verteilten zwar immer fleissig Mandate an die Gesundheitspolitiker, aber weil sich die Versicherer nur selten einig waren, kam kaum eine Gesetzesrevision zustande. Auch heute sitzen über ein Drittel der Mitglieder der Gesundheitskommission in einem Kassengremium. Besonders fleissig ist die Groupe Mutuel: Sie stellt mit Geschäftsleitungsmitglied Jürg Stahl derzeit den Nationalratspräsidenten und hat sieben Parlamentarier in ihre «Groupe de réflexion» eingebunden. Auch die anderen Akteure wissen, wie man Politiker an sich bindet: Interpharma tut dies etwa mit der von ihr mitgegründeten «IG biomedizinische Forschung und Innovation».
Die mangelnde Reformbereitschaft hat auch etwas mit der gefühlten Qualität des Gesundheitswesens zu tun. «Wir sind im europäischen Vergleich die Nummer zwei von 35 Ländern, nach den Niederlanden», betont FMH-Präsident Jürg Schlup und verweist auf die neuste Auswertung des Health Consumer Index, bei dem 48 Indikatoren erhoben werden, wie der Zugang zum Gesundheitssystem oder die Behandlungsresultate. Weniger gut schneidet das Gesundheitswesen ab, stellt man es in Relation zu den Kosten. Da landet die Schweiz im Mittelfeld, auf Platz 19 von 35.
Das deckt sich auch mit den Einschätzungen des Preisüberwachers. «Es gibt starke Hinweise, dass die Behandlungsqualität in der Schweiz durchschnittlich ist, die Gesundheitsausgaben aber überdurchschnittlich hoch», sagt Meierhans. Und so bleibt ihm nur die Hoffnung, dass die Tarifpartner und die Politik willens sind, in nicht allzu ferner Zukunft wenigstens einen Teil der von ihm gezählten gut 50 Fehlanreize zu korrigieren.