Stahltonnen und Betonblöcke in mehreren hundert Meter tiefen Silos – und den Deckel drauf. So soll der Atommüll in der Schweiz versenkt und versiegelt werden. Was aber soll mit dem nach 2065 laufend anfallenden radioaktiven Abfall aus Medizin, Forschung und Industrie passieren? Das weiss keiner so recht. Und das ist ein Problem – ein grosses Problem. Denn: Für Endlager und Budgets müsste schon jetzt gesorgt werden.
Die Schweiz steigt aus der Kernkraft aus, das ist fix. Für hochaktiven Müll, der bis zum endgültigen Ausstieg anfällt, gibt es Pläne und Studien en masse. Die Standortsuche für die Versenkung in einem geologischen Tiefenlager läuft. Entweder wird der strahlende Müll im Jura oder im Kanton Zürich entsorgt. Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft werden untersucht, finanzielle Abgeltungen für die Standortregionen verhandelt – es geht um Milliarden. Das letzte Wort hat das Stimmvolk. Kurz: Für das hochaktive Material wird vorgesorgt.
Radioaktiver Müll vom Cern, aus der Uhrenindustrie
Offen aber ist, was mit dem radioaktiven Abfall aus Kernforschungsanlagen des Cern, Protonenstrahlern zur Krebstherapie des Paul Scherrer Instituts (PSI) und Forschungsanlagen der ETH, mit dem Atommüll aus Spitälern, der Uhrenindustrie, mit Überspannungsableitern und militärischen Teilen sowie alten Rauchmeldern passiert. Denn sowohl hochaktiver Abfall (HAA) als auch schwach und mittelaktiver Abfall (SMA) sollen, sofern nicht rezyklierbar, in Untergrundsilos landen und zugeschüttet werden. 10 Prozent des gesamten Atommülls in der Schweiz sind HAA. 90 Prozent der 100'000 Kubikmeter Atommüll sind SMA. Wohin also mit dem laufend anfallenden SMA, wenn die Gruben einmal zu sind?
«Fragen über den Medizin-, Industrie- und Forschungsbereich sind Bestandteil eines Forschungsprojektes», sagt dazu ein Sprecher des Bundesamtes für Gesundheit (BAG). Eine Arbeitsgruppe entwickelt derzeit Szenarien und prüft Entsorgungsmöglichkeiten. Darüber hinaus herrscht Rätselraten. Auch die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) weiss nicht, wohin mit dem Atommüll abseits der Kernkraftwerke, nachdem die Endlager verschlossen sein werden. Fest steht laut BAG nur: Die Kosten für eine Nachfolgelösung werden die Abfallproduzenten tragen müssen.
Zwei Drittel unterfinanziert
Mit rund 1,4 Milliarden Franken rechnet man bis jetzt für die Entsorgung der Abfälle aus Medizin, Industrie und Forschung (MIF) für den Zeitraum 2011 bis 2100. Davon ist erst ein Drittel finanziert. Das BAG fordert daher die Betriebe auf, Rückstellungen vorzunehmen. Denn: «Es kommt häufig vor, dass die hohen Entsorgungskosten den Betrieben finanzielle Probleme bereiten», so das Bundesamt.Pro Jahr sind es zwischen zwanzig und dreissig Betriebe, welche schwach und mittelstark verseuchtes Material abzugeben haben.
Betroffen sind die Uhrenindustrie, der militärische Bereich, Gebäudeausstatter, Institute zur Tumorbestrahlung sowie Forschungseinrichtungen.Uhrenkomponenten zum Beispiel enthalten Radium, Tritium und Kohlenstoff C14. Alte Zeitmesser haben Leuchtanzeigen, welche die Detektoren der Metallrecycler zum Knattern bringen. Für reinen Stahl, wie er in den Werken von Schmolz + Bickenbach in Emmen hergestellt wird, muss dieses Material gemäss ISO-Zertifizierung aussortiert werden.
Uhrenfirmen entsorgen den Müll vereinzelt illegal.
Ebenso sind noch alte Brandmelder in Gebäuden in Umlauf, wie sie Siemens und Bosch hergestellt haben. «In Deutschland nehmen wir grundsätzlich Ionisationsmelder zurück, übernehmen die Kosten und organisieren die Entsorgung», sagt ein Bosch-Sprecher. Was das für die Schweiz bedeutet, ist nicht ganz klar, da Bosch diese Melder in der Schweiz nicht aktiv vertrieben habe. Auch Siemens nimmt Rauchmelder zurück, welche Americium-241 enthalten. Siemens löst das Problem so, dass es das Material nicht als Atommüll den Schweizer Entsorgungsstellen übergibt, sondern nach Deutschland bringt. «Wir haben 2010 mit einer deutschen Firma einen Vertrag abgeschlossen, auf dessen Basis das Material aus den Brandmeldern recycelt wird», sagt ein Siemens-Sprecher.Bisher konnte Siemens Schweiz rund 850 000 Brandmelder einsammeln. Gemäss internen Daten sind noch rund 40 000 solche Melder in Gebäuden in der Schweiz installiert.
Hierzulande holt üblicherweise der Dekontaminierer RC Tritec radioaktive MIF-Abfälle im Auftrag des BAG bei den Firmen ab und verbringt sie in ein Zwischenlager beim PSI in Würenlingen. Der Bund betreibt dort dafür notwendige Verarbeitungsanlagen. «Verbleibende Rückstände nach der Dekontamination kommen dann in endlagerfähigen Gebinden ins Bundeszwischenlager», erklärt ein Sprecher. Bis klar ist, was damit geschehen soll, bleiben sie dort.
Das BAG betreut die Sammelaktion administrativ, das PSI technisch. Dennoch kommt es immer wieder zu Irrläufern. Im «Strahlenschutzbericht 2016» berichtet das BAG von «herrenlosen radioaktiven Quellen», unbewilligten Exporten von kontaminiertem Metall der Schweizer Uhrenindustrie nach Deutschland und vereinzelt von «strafbarer, illegaler Entsorgung». So wurde im Februar 2016 bei einem Altmetall-Recycler radioaktives Strontium-90 sichergestellt, das in der Industrie für die Schichtdickenmessung von Papier oder Karton verwendet wird.
Ein weiterer Fall ereignete sich im Oktober selben Jahres, als bei einem Altmetall-Recycler Kobalt-60 entdeckt wurde, das in der Industrie üblicherweise bei der Füllstandmessung zur Anwendung kommt.Bisher sprach das BAG nur Empfehlungen an Firmen in der Schweiz aus, sich finanziell zu rüsten und radioaktive Bestände selbst zu prüfen, besonders in der Uhrenindustrie. Ob es je zu einer gesetzlichen Verpflichtung kommt, wird noch mehr als eine Generation beschäftigen.