Der Anruf im Mai ist so aussergewöhnlich, dass sich Klaus Schlenger noch Monate später genau daran erinnert. Die Stimme am anderen Ende der Leitung spricht vom Arzneimittelgesetz, von verbotenen Inhaltsstoffen – und von Kokain. Schlenger ist konsterniert, schliesslich ist er weder Apotheker noch Drogenberater. Sondern Einkaufschef bei Getränke Hoffmann, dem grössten Getränkehändler Berlins.
Der Anrufer ist ein Kontrolleur der Lebensmittelaufsicht, und er hat es auf ein paar Dosen in Schlengers Sortiment abgesehen: Red Bull Cola. Die Koffeinbrause ist der letzte Schrei aus dem Hause des Salzburger Energydrink-Spezialisten. Nun ja, streng genommen ist sie genau das nicht, und da liegt auch das Problem: Während der süsse Sprudel mit den Flüüügeln weltweit in aller Munde ist und 2008 mehr als drei Milliarden Euro umsetzte, fristet die Cola allen Marketinganstrengungen zum Trotz ein Nischendasein. Da sorgt so ein kleiner Kokainskandal zumindest für ein bisschen Publicity.
Spuren der illegalen Droge in Red Bull Cola hatten die Lebensmittelkontrolleure auf den Plan gerufen. In knapp 200 Märkten lässt Schlenger den nicht ganz so soften Softdrink aus den Regalen räumen, auf Paletten packen und zurück nach Österreich karren. Richtig gefährlich ist die Droge in der Dose zwar nicht. «Dafür müsste man schon an die 12 000 Red Bull Cola pro Tag trinken», schmunzelt der Getränkefachmann. Aber der Skandal ist da. Oder was man dafür hält.
Von Berlin bis Taiwan werden die Dosen medienwirksam aus dem Verkehr gezogen, in Hongkong schaltet sich sogar die Drogenbeauftragte ein. Der Getränkehersteller kann sich das alles offiziell überhaupt nicht erklären. «Absolut unmöglich», befindet Daniel Beatty, Marketingchef in Asien. Bis heute weiss keiner so genau, wie der Koks in die Cola kam. In der Schweiz dagegen war das Kokain gar nie ein Thema, kein einziges Gestell wurde deswegen ausgeräumt. Im Gegenteil: Es begann ein eigentlicher Run auf die «Koka-Cola». Wirte und Barkeeper berichteten in der ersten Jahreshälfte 2009 von einer Vervierfachung der Bestellungen.
Die Marke Red Bull lebt seit je vom Anrüchigen, vom Geheimnisvollen. Es macht einen Teil des Mythos aus, mit dessen Hilfe das Kultgetränk vor mehr als 20 Jahren seinen Siegeszug begann. Damals machte ein wundersamer Inhaltsstoff namens Taurin die klebrige Brause interessant. Lange hielt sich das Gerücht, Taurin werde aus Stierhoden gewonnen. In Wahrheit ist das Zeug eine Aminosulfonsäure, die Babys schon mit der Muttermilch einsaugen. Red Bull lässt sie von Pharmafirmen im Labor herstellen. Ziemlich unspektakulär im Vergleich mit den Stierhoden.
Egal: Der in der Schweiz und Deutschland zunächst nicht zugelassene Energydrink veranlasste Zürcher In-People, nach Österreich zu reisen, Red Bull illegal in die Schweiz einzuführen und in den Clubs unter der Hand zu verkaufen. Es war diese klandestine Dimension, die schliesslich den Mythos von Red Bull ausmachte.
Taurin, Kokain, Absicht oder nicht: Klar ist, dass Red Bull im Moment ein wenig Aufmerksamkeit nicht schaden kann. Das Geschäft läuft nicht mehr richtig rund. Zwar wächst das Unternehmen noch immer: 2008 stieg der Umsatz um immerhin acht Prozent auf 3,3 Milliarden Euro. Doch die Konkurrenz wächst schneller und nimmt dem Pionier immer mehr Marktanteile weg. Im wichtigen US-Markt verlor Red Bull die Nummer-eins-Position an den Rivalen Monster, auch in Russland wackelt der Thron der Österreicher. Das Ziel von Konzerngründer Dietrich Mateschitz, im Jahr 2010 sechs Milliarden Dosen zu verkaufen, ist in weite Ferne gerückt. Im vergangenen Jahr waren es etwas mehr als vier Milliarden. Und ein Absatzplus von 50 Prozent innerhalb von zwölf Monaten wäre wohl selbst für die Extremmarke Red Bull ein wenig zu extrem.
Das Abflachen des Wachstums hatte Mateschitz vorausgesehen – und rechtzeitig neue Produkte entwickeln lassen. Neben Red Bull Cola gibt es den Wellnessdrink Carpe Diem, der mit natürlichen Zutaten und asiatischen Rezepturen wirbt. Oder Lunaqua, ein Quellwasser, das angeblich nur bei Vollmond aus einer verborgenen Quelle in den Alpen geschöpft wird.
Exotisch, geheimnisvoll: Da sind sie wieder, die Zutaten für das perfekte Kultgetränk. Nur funktioniert das Rezept bei den Kopien dummerweise nicht annähernd so gut wie beim Original. Dietrich Mateschitz hat ein Problem.
Der 65-Jährige ist ein Phänomen, eine Legende. 1982 bringt er aus Thailand das Rezept für einen Energydrink mit, den er von Fuschl am See aus in Lizenz vertreiben will. Der Anfang ist mühsam: Jahrelang tüftelt er an einer verbesserten Rezeptur, grübelt über der Werbung und wartet auf die Zulassung durch die Lebensmittelbehörden. Erst 1987 wird Mateschitz belohnt. Schon im ersten Jahr verkauft er eine Million Dosen seiner Limonade, deren Geschmack an aufgelöste Gummibärchen erinnert und die in Rekordgeschwindigkeit zum In-Getränk avanciert. In 20 Jahren pusht Mateschitz den Absatz auf 3,5 Milliarden Dosen, macht aus Red Bull einen der grössten Konzerne Österreichs. «Mit Red Bull hat er nicht nur eine Marke geschaffen, er hat die Kategorie Energydrink erfunden», sagt Ralph Ohnemus, Getränkeexperte und Chef der Marktforschungsfirma Konzept und Analyse.
Mateschitz ist eine Ikone, nicht nur in Österreich, ein Selfmademan, vergleichbar allenfalls mit dem britischen Milliardär Richard Branson. Mehr als 150 Nachahmermarken ruft Mateschitz’ Erfolg zeitweilig auf den Plan. Kein Wunder: Allein in den vergangenen drei Jahren wuchs der weltweite Markt für Energydrinks nach Angaben der Marktforschungsfirma Zenith International um 11 auf 39 Millionen Hektoliter.
In der Schweiz ist Red Bull in den vergangenen Jahren immer zweistellig gewachsen, wie der Energydrink-Konsum generell. Im Zeitraum von August 2007 bis August 2008 ist der Umsatz gar gegen 20 Prozent gestiegen. Mittlerweile hat sich dieser Trend etwas abgeschwächt. Im Zeitraum von August 2008 bis August 2009 legte der Absatz nur noch um 3,2 Prozent zu. Dies ist freilich noch immer ein ansehnliches Wachstum. Red Bull ist in der Schweiz gar zum eigentlichen Exportschlager mutiert. Gemäss Berechnungen der Credit Suisse führt die Schweiz für rund 1,3 Milliarden Franken kalte Getränke ins Ausland aus – der grösste Teil entfällt wohl auf Red Bull.
Denn seit 2005 dürfte rund die Hälfte der weltweiten Red-Bull-Produktion von unterdessen vier Milliarden Getränkedosen von der österreichischen Firma Rauch in der Schweiz abgefüllt werden. In der Schweiz selbst hält sich der Absatz in etwas bescheidenerem Rahmen. 2008 hat die Firma 99 Millionen Dosen verkauft – rund 13 Energydrinks pro Kopf der Bevölkerung. Kein Wunder, warnte eine Studie der Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme SFA schon 2006 vor den Gefahren des übermässigen Energydrink-Konsums. 7,8 Prozent der Buben und 4,3 Prozent der Mädchen im Alter zwischen 11 und 15 Jahren konsumierten gemäss Studie einmal oder sogar mehrmals pro Tag Energydrinks und nehmen somit zu viel Zucker und Koffein zu sich.
Genau in diese Richtung zielen die Kritiken in der Schweiz. Red Bull bestehe fast nur aus Zucker und Koffein, heisst es etwa aus der Ecke der Ernährungswissenschaftler. Und man wisse, dass gerade Koffein stark abhängig mache. Deshalb hat Ricardo Lumengo, SP-Nationalrat aus Bern, gefordert, dass Red Bull verboten werde, bis eine unabhängige Studie seine Unbedenklichkeit bewiesen habe. Red Bull konterte darauf, dass das Getränk in über 140 Ländern erhältlich und von den Gesundheitsbehörden zugelassen sei.
Nun ebbt der Boom ab. 2008 lag das Plus nur noch bei einer Million Hektolitern, und auch für dieses Jahr erwarten Experten keinen neuen Schwung. «Aufgrund der Wirtschaftskrise entwickelt sich das Geschäft mit Energydrinks schleppend», sagt John Sicher, Herausgeber des US-Getränkefachblatts «Beverage Digest». Zudem erleidet Red Bull das Schicksal jedes Ex-Monopolisten: Die Konkurrenz holt auf. Die beiden Schweizer Grossverteiler Coop und Migros blieben nicht untätig, wiewohl sich Eigenmarkenspezialist Migros genötigt sah, Red Bull ins Sortiment aufzunehmen. Beide brachten nicht nur eigene Energydrinks auf den Markt, sondern griffen Red Bull an der schwächsten Stelle an: dem hohen Preis. Sie warfen ein Billigprodukt zu einem unschlagbaren Preis auf den Markt. Red Bull à 25 Centiliter kostet bei Coop 1.75 Franken, der Prix-Garantie-Drink ist für 90 Rappen zu haben.
Mateschitz reagiert und pumpt das Marketingbudget noch weiter auf. Rund eine Milliarde Euro steckt der Konzern mittlerweile in Werbung und Sponsoring, knapp ein Drittel des Umsatzes. Selbst für einen Konsumgüterhersteller ist das viel. Coca-Cola etwa investiert pro Dollar nur 10 Cent in klassische Werbung.
Dabei agiert Österreichs «Mann des Jahres 2000» durchaus weitsichtig. Seit elf Jahren unterstützt er Rennfahrer Sebastian Vettel. Am 19. April 2009 fuhr der heute 22-Jährige in Shanghai seinen ersten Formel-1-Sieg heraus. Den Fussballklub Red Bull Salzburg führte Mateschitz zur österreichischen Meisterschaft. Mit Rasenball Leipzig baut er jetzt auch in Deutschland ein Team auf, das eines Tages in der Bundesliga spielen und die Marke Red Bull werbewirksam über die Bildschirme tragen soll. Oberflächlich betrachtet wirkt der Konzern wie eine gigantische PR-Maschine mit angehängtem Getränkevertrieb.
Auch im Tagesgeschäft gibt Mateschitz Gegensteuer. Jahrelang hat er seinen Vertriebsmitarbeitern eingebläut, dass nur die edle Silberdose dem Premiumimage gerecht werde. Heute gibt es Red Bull sogar bei Billiganbietern wie Denner oder Lidl Schweiz. «Discounter sind wichtige Absatzkanäle», heisst es dazu aus dem Unternehmen. Eine Listung habe nahegelegen.
In der Branche argwöhnt man, dass Billigangebote am Image kratzen oder die Margen kaputt machen. Red Bull hingegen teilt knapp mit, die Discounterlistung schade nicht. Grundsätzlich gibt sich die Kultfabrik schweigsam. Zum Gewinn – österreichische Medien kolportieren eine Zahl von 235 Millionen Euro für 2007 – gibt es ebenso wenig eine Aussage wie zur Entwicklung bei den Wellnessdrinks. Eine Meldung des Magazins «Trend», die Wohlfühlwässer hätten 2007 bei 21 Millionen Euro Umsatz 11 Millionen Euro Verlust gemacht, blieb unwidersprochen.
Experten bezweifeln, dass sich unterhalb von Red Bull überhaupt Zweitmarken aufbauen lassen. «Red Bull ist eindimensional mit dem Stempel Energie belegt, neue Geschäftsfelder tun sich da nur schwer auf», sagt Ohnemus. Zudem sei es speziell mit Cola schwer, sich zu etablieren, glaubt John Sicher. Die Macht von Coke und Pepsi sei zu gross. Erst recht, wenn der Angreifer 2.50 Franken pro 35-Centiliter-Dose nimmt. Dennoch scheint Mateschitz entschlossen, weitere Drinks mit Bullenlogo auf den Markt zu bringen.
Dass ein neues Produkt die Erfolgsstory von Red Bull wiederholt, ist unwahrscheinlich. Vielleicht, weil sie gar nicht wiederholbar ist. Weil sich ein Hype nicht planen und ein Kult nicht verordnen lässt. Mateschitz wird das nicht umwerfen, er wird weiter Geld verdienen, womöglich aber etwas weniger. Vielleicht ist Red Bull einfach keine Kultmarke mehr – sondern ein ganz normaler Getränkekonzern. Unternehmerisch ist das keine Katastrophe. Für einen wie Mateschitz wahrscheinlich schon.