Viele Franzosen bringen ihr eigenes Laguiole zum Essen mit – ganz gleich wohin.» Daniel Fonlupt aus dem kleinen Dorf Charroux, nicht weit von Vichy, kennt die Angewohnheit seiner Landsleute: «Ob beim Diner mit Freunden oder beim Besuch im Restaurant, als Erstes kommt das Laguiole auf den Tisch.»
Tatsächlich gilt vielen Bürgern der Grande Nation das Laguiole als nationales Symbol und treuer Begleiter in allen Situationen. So brachte der Schauspieler Michel Serrault für seine Rolle als kauziger Bergbauer Adrien im Film «Une hirondelle fait le printemps» nicht nur seine eigene Kleidung mit, sondern «auch mein gutes Laguiole-Messer, das über hundert Jahre alt ist». Er fühle sich einfach wohler damit. Natürlich besitzt auch Frankreichs Nummer eins, Jacques Chirac, eines der eleganten Schneidwerkzeuge, und die in Zürich lebende Chansonnière Patricia Kaas macht sich für die Kultur des Schmiedens und Schleifens in Laguiole stark. Joschka Fischer, deutscher Aussenminister, hat die Region Aubrac einst als Student im Käfer bereist und legte, auf Staatsbesuch in Frankreich, eine Visite im Dorf Laguiole ein. Als er abreiste, hatte er ein vom Stardesigner Philippe Starck entworfenes Messer mit Aluminiumgriff im Gepäck. Und der Formel-1-Pilot Michael Schumacher bleibt auch in Sachen Messer dem Hightech treu: Der Deutsche besitzt ein vom schottischen Designer Yan Pennor kreiertes Laguiole mit Kohlefasergriff und Damaszenerklinge.
Vom simplen Werkzeug der Hirten und Bauern bis zum In-Besteck haben die eleganten Messer einen langen Werdegang hinter sich. Alles beginnt in einer Kneipe in Laguiole. Der 16-jährige Jean-Pierre Calmels hilft in der Bar seiner Eltern. «Garçon, noch einen Roten», verlangen die Gäste. Dann muss das schmutzige Geschirr in die Küche, gelieferte Waren werden verstaut. Doch wenn es ruhiger zugeht, hockt sich der junge Mann zu den Bauern und Hirten und lauscht ihren Anekdoten und Berichten. Messer spielen da eine grosse Rolle. Immerhin trägt nahezu jeder in der Region einen kleinen, geraden Dolch, den Capouchadou, am Gürtel.
Irgendwann sitzt ein spanischer Händler unter den Franzosen und zeigt sein Taschenmesser herum, ein Navaja. Calmels ist begeistert von dem formschönen, schmalen Schneidwerkzeug, das in aufgeklapptem Zustand arretiert werden kann. Er beschliesst, ein Messer zu konstruieren, das mindestens ebenso elegant aussehen soll wie das katalanische Vorbild. Der Clou wird ein simpler, aber wirkungsvoller Federmechanismus, der dafür sorgt, dass die Klinge sowohl geöffnet als auch geschlossen fest steht. Im Jahr 1829 nimmt Calmels die Produktion auf. Die Geschichte des Laguiole-Messers beginnt.
Das Messerhandwerk blüht schnell auf. Schon nach wenigen Jahren fertigen in Laguiole fünf Kleinfabrikanten. Immer mehr Menschen arbeiten in den Werkstätten, schleifen Griffschalen, schmieden Stahl, wetzen Klingen. Kein Wunder: Das vulkanische Hochplateau Aubrac im heutigen Département Aveyron ist reich an Natur und arm an Arbeit für die Bevölkerung. Zwischen kleinen Wäldern dehnen sich schier endlose Wiesen. Einsam ist es dort. Im Sommer weiden die typischen Aubrac-Rinder. Dazwischen stehen wie hingestreut kleine, steinerne Hütten, die Burons, in denen die Hirten schlafen und Schutz vor Stürmen suchen. Einziger Beistand an langen Abenden ist ihnen Gott; mangels Kirchen stecken die Männer ihre Messer in die Erde oder in Holzbalken. Auf einer Griffschale sind, auch heute noch, sechs kleine Nieten in Form eines Kreuzes eingelassen. So wird den Hirten der Boden ihrer Behausung zum Altar.
Neben dem Kreuz fügt Calmels seiner Erfindung 1840 noch den Poinçon hinzu, einen schmalen Dorn. Damit kratzen die Hirten ihren Pferden die Hufe aus, zähmen widerspenstige Stiere oder stossen ihn ihren Rindern notfalls in den Leib. Im Frühjahr nämlich überfressen sich die Tiere schnell am frischen Gras und leiden dann an entsetzlichen Blähungen. Nur ein beherzter Stich in den Pansen rettet die Tiere vor dem Verenden.
Doch mit Milch, Käse und Rindfleisch ist nicht viel zu verdienen. Immer mehr Menschen aus dem Aveyron machen sich auf nach Paris oder gar Amerika, wo sie auf das grosse Geld hoffen. Vor allem als Kohlenträger und Kellner schlagen sich die einfachen Leute vom Lande in der Seine-Metropole durch. Und wenn ihnen die Grossstadt gar zu erdrückend, das Leben in den schmalen Strassen gar zu eng und das Heimweh übermächtig wird, dann, erzählt der Laguiole-Kenner Philippe Sa-glio, «nehmen sie ihr Messer, ihr Laguiole, in die Hand, berühren es, betrachten es, und dann geht es wieder».
Damit nicht nur das Gefühl, sondern auch die Funktion stimmt, ersinnt Calmels’ Sohn Pierre 1880 noch eine Variante, die durch einen Korkenzieher ergänzt wird. Trotzdem bedeutet die Landflucht den Anfang vom Ende der Messerproduktion in Laguiole. Um 1920 schläft die Herstellung endgültig ein. Vor allem findige Unternehmer in der mittelfranzösischen Industrie- und Messerstadt Thiers fertigen von nun an Tausende der typischen, leicht geschwungenen Bestecke und verkaufen sie in alle Welt. Die Nachfrage wächst. Die Käufer verlangen nach edlen Griffen, härteren Klingen.
Erst Mitte der Achtzigerjahre setzen sich ein paar Freunde traditioneller Schmiedekunst zusammen und beschliessen: «In Laguiole müssen wieder Messer gefertigt werden.» Die Verbindung zwischen klassischem Handwerk und Tourismus funktioniert. Heute setzen rund 25 Betriebe in dem 1300-Seelen-Dorf Laguiole Messer zusammen und wollen sie den Durchreisenden verkaufen. Dass es dabei zu Streit kommt, liegt auf der Hand. Vor allem in Sachen Gütesiegel gibt es Ärger. «Die Touristen kaufen ein Messer mit angeblichen Hornschalen, auf dem Laguiole steht, für 20 oder 30 Euro. Tatsächlich kommt das Stück aus Pakistan, hat einen Plastikgriff und einen Materialwert von kaum mehr als einem Euro», schimpft Gérard Boissins, Chef der Forge de Laguiole, der einzigen Schmiede des Ortes. Wütend kramt der 54-Jährige eine Kiste aus dem Schrank: «Hier, alles Schrott!» Mal lässt sich schon mit dem Fingernagel die vermeintliche Hornschicht abkratzen, dann wieder biegt sich die Klinge wie Blech, oder der Mechanismus schliesst nicht richtig.
Ein echtes Laguiole wird in Laguiole geschmiedet, geschliffen und zusammengesetzt. Wie das vonstatten geht, davon machen sich zahllose Touristen in der Forge, der Schmiede, selbst ein Bild. Jeden Donnerstag feuern die Arbeiter in dem flachen, lang gezogenen Bau am Ortsrand den Ofen an, heizen ein bis auf 1100 Grad. In der Glut erhitzt der Schmied schmale Klingenrohlinge, bis sie fast weiss leuchten. Dann knallt eine Presse mit einem Druck von rund 300 Tonnen auf die Metallteile und bringt sie in Form.
Nebenan sitzen jeweils zwei oder drei Handwerker in kleinen Ateliers. Sie montieren die einzelnen Bauteile von der Klinge über den Messerrücken bis zur Griffschale, verzieren die noch rohen Werkstücke mit dem Kreuz, schmirgeln hier, schleifen da. Jedes Messer, das die Forge verlässt, ist echte Handarbeit. Wer genau hinschaut, erkennt etwa kleine Unregelmässigkeiten an den Nieten des Kreuzes – immerhin werden die winzigen Drähte freihändig eingefügt. Schliesslich wird der Schnappmechanismus justiert, und die Messer werden zum Verkauf freigegeben. Hunderte liegen im Verkaufsraum der Forge: Klingen von 9 bis 17 Zentimetern Länge, Griffe aus Bakelit, Ebenholz, Stamina, Pistazie oder Aluminium, mit Korkenzieher und Poinçon oder ohne, mit Griffhalterungen, den so genannten Platinen, aus Messing oder satiniertem Stahl. Längst gibt es auch Laguiole-Pfeifenmesser, Varianten für Golfer, Tranchierbesteck oder die feinen Korkenzieher. Zwischen 40 und etwa 120 Euro (rund 60 bis 190 Franken) kostet das Stück; Messer mit Damaszenerklingen aus vielfach gefaltetem und immer wieder gewalztem Stahl schlagen schnell mit dem Vielfachen zu Buche.
Teuer sind auch Designermodelle wie sie etwa Philippe Starck, die Modeschöpferin Sonja Rykiel, Hermès, der Architekt Eric Raffy oder der Gestalter Yan Pennor entwerfen. Fast nur auf Bestellung arbeitet der Star der Forge, Virgilio Muñoz Caballero. Der einst als «meilleur ouvrier de France» (bester Handwerker Frankreichs) ausgezeichnete Spanier kreiert immer neue Stücke, fräst mal verspielte Ranken in den Messerrücken, drechselt dann wieder kunstvolle Verzierungen in die Griffe oder verwandelt die Biene, die traditionell den Teil zwischen Griff und Klinge schmückt, in einen Bullen, eine Muschel, einen Anker oder einen Pferdekopf. An Muñoz’ Arbeitsplatz warten schon die nächsten Holzstücke darauf, geschliffen zu werden. Daneben liegt eine Skizze, die deutlich macht, wie viel Arbeit allein im Entwurf steckt. Liebhaber zahlen schon mal einen fünfstelligen Betrag, um ein besonderes Messer aus Laguiole zu besitzen.
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Mit ein bisschen Arbeit kommen auch weniger Betuchte zu einem ganz besonderen Einzelstück. Etwas abseits der Hauptstrasse von Laguiole, an der sich Messergeschäft an Messergeschäft drängt, liegt am Viehmarkt die Werkstatt Le Couteau de Laguiole. «Fabrique de Couteaux» steht in Art-déco-Lettern über der Tür. Und dahinter erwartet Eric Batut angemeldete Besucher. Der 38-Jährige weist seine Gäste in Tageskursen in die Geheimnisse des Messerbauens ein. Am Ende des Tages wird jeder Besucher sein ganz individuelles Messer mit nach Hause nehmen. Doch erst einmal wandern die Teilnehmer die Treppe hoch ins Lager, wählen die Länge ihrer Klingen und die gewünschten Teile aus. Dann klettert Batut eine kleine Leiter hoch und greift in verschiedene Kisten. «Was solls denn sein?», fragt er und hält den Handwerksnovizen kleine Klötzchen hin: Rosenholz ist dabei, gelblich schimmernde Olive und knorrige Wurzel. «Das echte Laguiole hat einen Griff aus Horn», erläutert der Messermeister. Da die französischen Rinder jedoch vergleichsweise jung ihren Weg zum Schlachthof antreten und ein Horn mindestens zwölf Jahre braucht, um ausgewachsen zu sein, bestehen die meisten Schalen heute aus gewalztem Horn oder afrikanischer Importware.
Dann geht es los. Vorsichtig fräsen die Besucher Winkel in ihre Klötzchen, die später genau auf die Platinen passen sollen. Nach langem Tüfteln und Probieren, wenn die Neigung endlich stimmt, werden die rohen Griffstücke auf ihren Halterungen befestigt. Dann fixieren die Kursteilnehmer die Klinge mit dem kleinen Exzenter am Ende zwischen den Platinen und spannen den Messerrücken ein. Aus nur 20 Einzel-teilen besteht ein Laguiole mit Korkenzieher und Poinçon, aber sie zusammenzufügen ist eine Wissenschaft für sich. Wenn alles stimmt und hält, geht es an die Schleifmaschinen, auf denen sich lange körnige Bänder drehen. Dort bekommen die Messer ihre geschwungene, handschmeichlerische Form. Behutsam drücken die Laien die Griffstücke gegen das Schleifband. Den Feinschliff übernimmt schon mal Eric Batut selbst, der sich an die Maschine setzt, sich weit über das schnell laufende Schmirgelpapier beugt, die Schulter nach vorn zieht. Und dann beginnt das Messer in seiner Hand zu tanzen, wendet sich in rasendem Tempo, wirbelt von der einen auf die andere Seite und wieder zurück. Es riecht nach heissem Metall und versengtem Wacholder. Ein prüfender Blick, eine letzte Korrektur, dann gibt Batut das Messer zurück. «Ich mach das ja schon lange», erklärt er lächelnd seinen staunenden Zuschauern.
Danach werden Klinge und Griff an dicken Stoffbändern poliert. Kräftig müssen die Teilnehmer ihre Werkstücke gegen das Gewebe drücken, zwischendurch das Metall in Wasser abkühlen. Und schliesslich kommt das fast fertige Messer in eine Waschlösung, die es vom Werkstaub reinigt. Ergebnis: ein prachtvolles Einzelstück. Ins New-Yorker Museum of Modern Art – wie ein Modell von Philippe Starck – wird es sicher keines dieser Laguiole-Messer schaffen. Dafür aber wird es seinen Besitzer in so manches Restaurant begleiten.
Bezug:
Société Forge de Laguiole, Route de l’Aubrac, F-12210 Laguiole,
Tel. 0033/565 48 43 34, www.forge-de-laguiole.com.
Le Couteau de Laguiole, Place du Nouveau Foirail, 12210 Laguiole,
Tel. 0033/565 48 45 47 (Kurs: 152.45 Euro pro Person, rund 240 Franken).
La Coutellerie de Laguiole, Route d’Aubrac, F-12210 Laguiole,
Tel. 0033/565 51 50 14, www.layole.com.
In der Schweiz gibt es Laguiole-Messer unter anderem bei Münsterkellerei, Kramgasse 45, 3011 Bern, Tel. 031 312 17 17, bei Meng Cutlery, Rennweg 31, 8001 Zürich, Tel. 01 211 18 48, und bei Globus, Glattzentrum/Zürich.
Marc Reisner
Freier Autor in Frankreich
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