Wenn Hans Reischl, Chef des deutschen Handelskonzerns Rewe, im bündnerischen Falera seinen Weihnachtsurlaub verbringt, wird er jeweils besinnlich. Dann sitzt der Herr über Verkaufsflächen von 8,6 Millionen Quadratmetern in seiner 80 Quadratmeter grossen Ferienwohnung und geniesst den Blick auf den Turm der St.-Remigius-Kirche, dem Wahrzeichen der Gemeinde. Am Heiligen Abend begibt sich der gebürtige Bayer mit seiner Frau ins Kloster Disentis zur Mitternachtsmesse. Jahr für Jahr geht das bei Reischls so, seit 1973.

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Das sind mehr als dreissig Jahre, in denen Reischl die Qualität der Schweizer Gastronomie und des Schweizer Detailhandels schätzen gelernt hat, weit über den Volg-Laden von Falera hinaus. Als Reischl sich im vergangenen Juni die Bon appétit Group, mit Pick Pay und Prodega der drittgrösste Lebensmittelhändler der Schweiz, einverleibt hat, sagte auch der Bauch ja. «Die Erfahrungen in der Schweiz haben mir geholfen, unser Engagement auch gefühlsmässig einzuschätzen», meint der Chef von 187 196 Mitarbeitern.

Das ist die gemütliche Seite des 64-jährigen Patrons. Reischl versteht es, mit seiner väterlichen Art Geschäftspartner und Mitarbeiter für sich einzunehmen. Wenn er etwa einmal im Monat in der Bon-appétit-Zentrale im Zürcher Industrievorort Volketswil zum Rechten schaut, motiviert er die Truppe mit einer Parole, die er bei der Übernahme ausgegeben hat und seither gerne wiederholt: «Die Bon appétit Group soll ein munterer Goldfisch im Karpfenteich sein.» Die Karpfen, das sind Migros und Coop, und die Worte sind nichts weiter als eine Kampfansage an den spiegelglatten Schweizer Detailhandel: Achtung, jetzt gibts Wellen! Das ist die forschere Seite des Hans Reischl.

Noch am Tag, als er die Übernahme der Bon appétit Group bekannt gibt, greift der Deutsche zum Telefon und macht seinen wichtigsten Mitbewerbern, Migros-Chef Anton Scherrer und Coop-Lenker Hansueli Loosli, persönlich seine Aufwartung. Diese sind überrascht von dem Deal – und doch nicht. Dass Bon appétit zum Verkauf stand, war ihnen längst bekannt. Im Frühling 2003 gab es kaum ein Detailhandelsmanager, der sich nicht in das Dossier vertieft hätte. Nach dem Aktenstudium kamen aber alle zum gleichen Schluss: Teile des Unternehmens wären interessant, aber nicht der Konzern als Ganzes. Auf so einen Handel wollte sich Beat Curti nicht einlassen. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, für sein Unternehmen einen einzigen Käufer zu finden, und streckte die Fühler nach Köln aus, zu seinem langjährigen Bekannten Hans Reischl. Die beiden wurden rasch handelseinig. Dass ausgerechnet Curti einem ausländischen Handelsgiganten Tür und Tor zur Schweiz öffnete, haben ihm nur wenige zugetraut, und etliche Kollegen nehmen ihm das heute übel.

Beat Curti rechtfertigt sich im Bekanntenkreis, er habe sein Unternehmen als «Gesamtkunstwerk» weitergeben wollen. Wobei es einige schmerzliche Schnitte erfuhr, bis es verkauft werden konnte.

Damit Reischl einwilligte, musste Curti die Kaffeekette Starbucks, den Internethändler Le Shop und das Feinkostgeschäft Gourmet Factory im Jelmoli Zürich veräussern – alles Unternehmen, in die Curti nicht nur Geld, sondern auch Herzblut investiert hatte.

Reischl hat für weniger als 300 Millionen Franken zum drittgrössten Handelskonzern der Schweiz gefunden, mit einem dichten Filialnetz und einer Struktur, die mit Detail- und Grosshandel «spiegelbildlich» zu Rewe passe, wie beide Seiten betonen. Dass die Schweiz ein weisser Fleck war auf der Rewe-Europakarte, hat Reischl schon lange gefuchst. Hier zu Lande ist es für Rewe aus drei Gründen interessant: Die Margen sind komfortabel, weil die Schweizer Preise für Lebensmittel um 20 Prozent über dem europäischen Niveau liegen. Im Grosshandel kommt Rewe mit der Bon-appétit-Firma Prodega zu einer Perle und wird Europas Nummer eins in der Gastronomiebelieferung. Drittens wird im Discountgeschäft, wo Bon appétit mit Pick Pay und Rewe mit Penny tätig sind, in den nächsten Jahren in der Schweiz die Post abgehen.

Allerdings hat sich Reischl auch ein paar Probleme aufgehalst. Sein Statthalter in der Schweiz, Dieter Berninghaus, ist nun dabei, die diversen Sorgenkinder in der Bon appétit Group aufzupäppeln. Berninghaus liess Arbeitsgruppen mit Rewe- und Bon-appétit-Mitarbeitern bilden, um die diversen Schwachstellen aufzuspüren. Vor allem in der Informatik sind sie fündig geworden. Spezialisten versuchen nun, die heterogene EDV der Bon appétit Group zu vereinheitlichen und mit Rewe kompatibel zu machen. Ein anderes Team sondiert in der Schweiz neue Standorte für Pick Pay. Eine weitere Gruppe evaluiert, welche Rewe-Eigenmarken in der Schweiz eingeführt werden sollen. Weil aufwändige Fragen über Zoll, Deklaration oder Kontingente auf Agrarprodukte wie Tiefkühlpommes zuerst geklärt werden müssen, wird es noch einige Monate dauern, bis der Konsument erste Rewe-Produkte im Pick-Pay-Regal findet. Konkretisiert werden auch die Synergien beim Einkauf: Wenn Bon appétit anstatt hundert Joghurt gemeinsam mit Rewe tausend ordern kann, verbessern sich die Einkaufskonditionen um ein paar Rabattstufen. Einkaufsmacht ist alles im Detailhandel.

Das hat Reischl schon vor langem kommen sehen. Unter seiner Führung ist aus Rewe einer der mächtigsten Detailhandelskonzerne der Welt geworden und aus Reischl einer der respektiertesten Detailhändler überhaupt.

Der klein gewachsene, dunkelhaarige Schnauz- und Brillenträger widerspricht nicht nur vom Äusseren her manchem Klischee über deutsche Manager. Auch sein Benehmen hat gar nichts von einem grossspurig teutonischen Topshot. Seine unaufgeregte Art half mit, dass die Bon-appétit-Mitarbeiter nach dem ersten Schreck über den Einfall der Deutschen den Glauben an die Zukunft wieder gefunden haben. Es setzt sich die Einstellung durch, dass Bon appétit unter dem grossen Rewe-Dach viel gelassener nach vorne blicken kann als im Alleingang.

Reischl ist Rewe, und Rewe ist Reischl. Als jüngstes von sechs Kindern einer Bauernfamilie im niederbayrischen Heinlschlag aufgewachsen, macht er eine Lehre als Industriekaufmann, holt dann das Abitur nach und studiert Betriebswirtschaft in Köln. 1970 tritt er beim verstaubten Revisionsverband der Westkauf-Genossen, kurz Rewe, ein und wird dort zehn Jahre später der Chef. Schritt für Schritt schiebt er die Genossenschaft an die Weltspitze. Zuerst in Deutschland. Dort kauft er sich beim expansiven Detailhändler Willy Leibbrand ein, dem Ladenketten wie die Discounter Penny, HL, Minimal und der Fachmarkt Toom gehören, und vollbringt sein Meisterstück: Das auf 6000 Märkte angewachsene Ladennetz gehört heute vollständig Rewe und steuert fast die Hälfte zum Konzernumsatz bei.

Als Reischl in den Neunzigerjahren im Inland an Grenzen stösst, geht er ins Ausland. Er eröffnet Penny-Discounter in Italien, Frankreich, Ungarn, Tschechien und Spanien. 1996 übernimmt er den österreichischen Marktführer, die BML-Gruppe, zu der die Supermarktkette Billa gehört. Die Aufregung, die Reischl damit in ganz Österreich entfacht, fällt bald in sich zusammen: Reischl hat weder Logo noch Management der rentablen Billa geändert. Und er hat auch nicht die Sortimente eingedeutscht, ganz im Gegenteil, Billa ist Billa geblieben.

Heute gilt Reischl im Nachbarstaat dafür als Ehrenmann: Am 4. September 2003 verleiht ihm Bundeskanzler Wolfgang Schüssel das Grosse Goldene Ehrenzeichen mit Stern für die Verdienste um die Republik Österreich. In seiner Laudatio sagt der Regierungschef: «Als Rewe kam, haben grosse Bedenken geherrscht, dass die kleinräumige qualitätsorientierte Struktur von Billa zerschlagen wird, aber das ist nicht geschehen.» Und: «Bis heute wurde kein einziger Euro Dividende nach Deutschland transferiert.»

Wenig später sorgt Reischl ein zweites Mal für Schlagzeilen: Er kauft sich mit 24,9 Prozent beim Vorarlberger Detaillisten Sutterlüty ein, der ein halbes Jahrhundert eng mit Spar geschäftet hat. So ist es ihm gelungen, den Erzrivalen Spar auszuhebeln und das Kräfteverhältnis weiter zu Gunsten von Rewe zu verschieben. Und erst heute, sieben Jahre nach Markteintritt, eröffnet Reischl in Österreich die ersten Penny-Märkte und damit eine Konkurrenz zu Billa.

Was Reischl im anspruchsvollen Detailhandelsmarkt Österreich erreicht hat, gilt als mustergültig. Die Kombination aus strategischer Weitsicht und Feingefühl für die lokalen Gegebenheiten, mit denen Reischl in der Republik Fuss fasste, dient inzwischen auch an Universitäten als Fallbeispiel für die graue Theorie. Um erfolgreich ins Ausland zu expandieren muss ein Detailhändler a) erfolgreich sein im Heimmarkt, b) den neuen Markt verstehen, etwa weil er mit einem lokalen Management zusammenarbeitet, und c) gute Standorte finden, lehrt zum Beispiel Thomas Rudolph, Direktor des Instituts für Marketing und Handel an der Universität St. Gallen. So gesehen, hat sich Reischl beispielhaft verhalten, im Gegensatz zu Migros, die in Österreich auf die Nase gefallen ist. Und so gesehen, dürfte Reischls Eintritt in den Schweizer Markt für Rewe ein Erfolg werden.

Dennoch hatte Reischl im Ausland nicht nur Erfolg: In England etwa hat er sich beim Joint Venture mit Budgens derart verschätzt, dass er die Zusammenarbeit aufgeben musste; sein Penny-Konzept hatte bei den Briten keine Chance. In Spanien scheiterten seine Expansionspläne; nur drei Jahre nach dem Markteintritt zog er sich 1998 wieder zurück.

Rewe ist heute in 13 Ländern präsent. Hohe Priorität auf Reischls Geschäftsplan haben heute Italien und Frankreich. In Italien will er 2004 von der Nummer fünf zur Nummer drei vorrücken und die Supermarktkette Standa, die er 2000 gekauft hat, in die schwarzen Zahlen führen. In Frankreich kann er seine Position mit der Übernahme der Bon appétit Group dank deren starkem Gastroservicegeschäft weiter ausbauen – laut Reischl einer der wichtigsten Aspekte dieses Deals. Dies betont er mit derselben Gelassenheit, wie er auch über die Herausforderung spricht, die er sich mit seiner jüngsten Akquisition eingehandelt hat: im Schweizer Detailhandel zu bestehen.

Er ist nicht der Einzige, der sich um die Schweizer Verkaufsflächen bemüht. Laut Thomas Hochreutener vom Marktforschungsinstitut IHA in Hergiswil sind für die nächsten fünf Jahre 600 000 Quadratmeter neue Ladenflächen projektiert. Zum Vergleich: Die Migros belegt total rund eine Million Quadratmeter. Hochreutener rechnet damit, dass die neuen Flächen locker an die vielen ausländischen Handelsketten vermietet werden können, die in den zwar gesättigten, doch nach wie vor recht margenstarken Schweizer Markt eindringen möchten. «Der Konkurrenzkampf wird noch viel, viel härter», sagt Hochreutener.

Vor allem die Discounter holen seit dem Jahr 2000 wieder mächtig auf, nach einem Einbruch in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre. Denner und Pick Pay waren in den letzten beiden Jahren die Gewinner im Detailhandel; beide haben letztes Jahr beim Umsatz zweistellig zugelegt, und das in einem stagnierenden Gesamtmarkt. Seit Denner den Schmuddellook abgelegt hat, stehen die Kunden auch dort wieder Schlange.

Folgerichtig will Reischl Pick Pay auffrischen. In einem Laborladen prüfen Shoppingexperten derzeit Ausstattung, Sortiment oder Anordnung der Regale. Im Frühling sollen die ersten Testläden aufgehen, später wird das ganze Filialnetz umgestaltet. Vielleicht gar in Penny-Discounts, lautet die Frage, welche die Branche umtreibt. «Herr Reischl hält Pick Pay für eine gut eingeführte Marke. Eine Umwandlung in Penny ist nicht geplant», antwortet ein Bon-appétit-Kadermann.

Das Schicksal von Pick Pay entscheidet sich nicht nur in der Rewe-Zentrale in Köln, sondern auch am Migros-Hauptsitz in Zürich. Die Verbindung zwischen Migros und Pick Pay entwickelt sich mehr und mehr zu einer Liaison dangereuse. Etwa die Hälfte der Pick-Pay-Filialen stehen in Einkaufszentren, die der Migros gehören. Das bringt zwar für beide Läden zusätzliche Frequenzen, führt aber auch zu einer gefährlichen Abhängigkeit. Mit jedem Markenartikel, den Migros einführt, erfährt der Pick-Pay-Umsatz einen Knick. Umgekehrt könnte es sich Pick Pay mit Migros verscherzen, wenn der Markenartikeldiscounter vermehrt Eigenmarken aus dem Rewe-Konzern oder gar Frischprodukte einführt. In Deutschland führen Penny-Läden neben frischen Früchten und Gemüse auch eine Brotbackstation.

Zudem mischt auch die Migros im wachsenden Discountgeschäft munter mit. Anfang Jahr wurde die Billiglinie M-Budget um ein Fünftel auf 200 Artikel erweitert. In der Chefetage der Migros gibt es bereits Planspiele für die Errichtung von M-Budget-Läden: «M-Budget verzeichnet ein gutes Wachstum, da überlegt man sich alles. Läden stehen nicht im Vordergrund, aber man soll nie nie sagen», meint Migros-Chef Anton Scherrer.

Die Standorte dafür hätte Migros bereits – sie müsste nur die Mietverträge der Pick-Pay-Filialen kündigen. Reischl weiss um die Macht der Migros, darum wird er sich hüten, deren Chef vor den Kopf zu stossen. «Jeder will der Darling von Migros sein», sagt ein langjähriger Detailhandelsmanager.

Dazu gehört nicht nur Pick Pay, sondern eine ganze Reihe weiterer Ladenketten: Nach Carrefour stösst auch der deutsche Discounter Lidl, der grösste Konkurrent von Aldi, in die Schweiz vor. Die Deutschen evaluieren derzeit mit Hochdruck den Schweizer Markt und dessen Potenzial.

Derweil dümpelt das Geschäft bei den kleinen Detaillisten dahin. Reischl ist bekannt dafür, sämtliche Läden auf Profit zu trimmen. Die Primo- und Visavis-Dorf- und Quartierläden rentieren mehr schlecht als recht. Vor allem: Jeder macht, was er will. Das passt Reischl nicht. Um den Wildwuchs einzudämmen, wird er den 300 Primo- und 700 Visavis-Lädelibesitzern neue Verträge vorlegen. Wer die Vorgaben aus der Zentrale nicht befolgt, wird aus dem Franchisesystem gekippt. Reischl dürfte sich um Empfindlichkeiten der Lädelibesitzer kaum scheren.

Und sein Nachfolger? Reischl stellt jetzt noch letzte Weichen, dann gibt er sein Lebenswerk ab. Ende Jahr geht er in Pension; der Neue, dessen Name noch nicht bekannt ist, wird sich dann um all die kleinen und grossen Krämer in den Nachbarländern kümmern dürfen. Reischl weiss, dass das Leben im Ruhestand langweiliger wird. Aber er wandert fürs Leben gern, und da ist er in Falera schon an der richtigen Adresse.