Wenn die Löhne ungerecht verteilt sind, hat das offenbar einen tieferen Grund – es ist die Geheimniskrämerei. Es ist das Tabu rund um Geld und Gehalt. So demonstrierten am 22. September 2018 rund 20 000 Menschen dagegen, dass Frauen beim Gehalt diskriminiert werden – dies das Hauptanliegen – sowie dafür, dass die Unternehmen gesetzlich zu mehr Klarheit über ihre Saläre verpflichtet werden: Dies war die konkrete Forderung der Berner Demo-Teilnehmer ans Parlament. Firmen ab hundert Mitarbeitenden sollen in der Schweiz künftig offenlegen müssen, wie es um ihre Lohnverhältnisse steht.
Mehr Licht ins Dunkel bringt auch die Aktion «Zeig deinen Lohn!», lanciert vom Gewerkschaftsbund des Kantons Zürich, getragen von zwei Dutzend weiteren Organisationen. Auf einer neuen Lohn-Site zeigen inzwischen über 1 100 Personen, was sie monatlich verdienen, von der Keramikerin (3 660 Franken) bis zum Geschäftsleiter (8 546 Franken). «Es gibt Lohndiskriminierung, aber in den Betrieben wird sie selten sichtbar», sagt Björn Resener, der Geschäftsführer des Zürcher Gewerkschaftsbundes. «Das liegt daran, dass es dieses Lohntabu gibt. Die Diskriminierung können wir nur angehen, wenn wir das Tabu brechen.»
Dabei, so Resener weiter, zementiere die Intransparenz nicht nur die Lohnkluft zwischen Mann und Frau, sondern auch andere Formen der Diskriminierung, zum Beispiel nach Herkunft.
Ein Unternehmen, das intern für Klarheit gesorgt hat, ist Empiricon: In der Berner Beratungs- und Forschungsfirma weiss jeder, in welchem Lohnband der Kollege nebenan arbeitet. Die Erfahrungen seien nur positiv, sagt Robert Zaugg, einer der Geschäftsführer von Empiricon. «Die Hauptwirkung: Es entsteht eine Unternehmenskultur, die auf Vertrauen und Selbstverantwortung aufbaut. Alles andere leitet sich davon ab – zum Beispiel, dass die Mitarbeiter am Ende motivierter oder zufriedener sind.» Nebenbei werde dank den klaren Lohnverhältnissen weniger übers Geld geredet – «während mehr und offener über die Leistung selber diskutiert wird».
Viele Firmen machen weiterhin ein Geheimnis
Doch selbstverständlich ist das keineswegs. Viele Firmen machen weiterhin ein Geheimnis um ihre Lohntüten. Eine Erhebung der Universität Luzern unter gut 500 Schweizer Personalchefs zeigte kürzlich, dass etwa ein Drittel der Unternehmen ihre Angestellten formell oder zumindest inoffiziell daran hindern, den Lohn preiszugeben. «Transparenz bringt oft auch Mehraufwand mit sich»: Hier vermutet Alexandra Arnold einen Grund für die Skepsis in den Chefetagen. «Man muss sich rechtfertigen.» Die Dozentin der Uni Luzern war Mitautorin der Studie über Transparenz in der Schweiz. Diverse Studien, so Arnold weiter, hätten zudem gezeigt, dass mit der Offenheit eben auch der Neid zunimmt: «Viele Menschen finden ihre eigene Leistung überdurchschnittlich und erwarten, dass ihr Salär das spiegelt. Aber nicht jeder kann ein Topperformer sein.»
Spätestens hier zeigt sich: Lohntransparenz ist nicht einfach eine Wunderwaffe – sie ist auch zweischneidig. Zahllose Untersuchungen malen insgesamt ein schillerndes Bild der Sache. Zum Beispiel:
Mit der Transparenz steigt die Fluktuation. Dies zeigten etwa Daten aus Norwegen. Nachdem dort im Herbst 2001 alle Einkommenssteuern online veröffentlicht worden waren, kamen auch die Lohnverhältnisse ans Licht. In der Folge stiegen die Kündigungen jener Angestellten, die im Vergleich zu Kollegen in ähnlichen Positionen und in ähnlichem Alter unterdurchschnittlich verdienten.
Transparenz kurbelt die Lohnspirale an. Das zweite Resultat aus Norwegen: Die Veröffentlichung der Einkommensdaten brachte es mit sich, dass im Jahr danach die Saläre insgesamt deutlich stiegen. Vor allem jene Angestellten, die weniger verdienten als den Medianlohn, merkten offenbar, dass sich noch etwas herausholen liess. Das Phänomen kennt man ja von den Managerlöhnen – die gingen in den letzten zwei Jahrzehnten parallel zu den Offenlegungen durch die Decke.
Transparenz schafft Frust. Dies besagte unlängst eine Panel-Untersuchung aus dem Institut der deutschen Wirtschaft. Danach sinkt bei Angestellten das Gefühl, gerecht entlöhnt zu werden, wenn sie weniger verdienen als der Durchschnitt. Dies ist nur logisch – allerdings: Auf der Gegenseite fehlt der positive Effekt. Wer erfährt, dass er mehr einnimmt als den Referenzlohn, fühlt sich keineswegs zufriedener als zuvor. Unter dem Strich beurteilten die Mitarbeiter also ihre Entschädigung eher als weniger gerecht denn zuvor.
Allerdings: Geheimniskrämerei bremst. Ein Experiment mit jungen Angestellten, durchgeführt in Israel, stellte dazu klar: Wer weiss, was die anderen verdienen, versteht auch eher die Zusammenhänge zwischen Lohn und Leistung. Oder umgekehrt: Wer es nicht weiss, geht davon aus, dass sich ein grösseres Engagement nicht unbedingt im Gehalt niederschlägt.