Natürlich ist es eine Simplifizierung, aber deswegen ist es nicht weniger wahr: Geht es der Pharma gut, geht es der Schweiz gut. Mehr als 50 Prozent der Exporte – und damit das Gros des volkswirtschaftlichen Wohlstands – wird von der Pharmabranche erwirtschaftet (inklusive etwas Chemie).
Und auch wenn die Schweizer Pharmabranche aus vielen Unternehmen besteht, aus winzigen Startups, soliden Mittelständlern und grossen Konzernen, sind im Kern zwei Unternehmen relevant: Roche und Novartis, die helvetischen Titanen der Pillenindustrie, zusammen 110 Milliarden Franken schwer, an der Börse mit 420 Milliarden bewertet.
Bald stehen bei beiden Riesen zwei Frauen an der Spitze der jeweils wichtigsten Einheiten. Letzte Woche wurde die Amerikanerin Teresa Harris Graham bei Roche an die Spitze der Pharmadivision befördert. Auf der anderen Seite des Rheins, bei Novartis, führt die Schweizerin Marie-France Tschudin bereits seit einem knappen Jahr die Abteilung für innovative Medikamente.
Die zwei Frauen stehen zwar nicht ganz oben, sind nicht Konzernchefinnen. Aber ihre Rollen sind wahrscheinlich bedeutsamer. Klar jedenfalls ist: Graham und Tschudin sind die wichtigsten Frauen der Schweizer Wirtschaft. Sie sind die Hüterinnen des Schweizer Wohlstands.
Wer sind die Frauen? Was erwartet sie für eine Aufgabe in den neuen Rollen?
Tschudin hat in der Pharmabranche eine Karriere hingelegt, die ihresgleichen sucht. Ihr Lebenslauf liest sich wie das Drehbuch einer Frau, die genau weiss, was sie will. 2008 übernahm sie für Celgene die Geschäfte in der Schweiz. Im Zweijahrestakt ging es mit Tschudin dann aufwärts: neue Länder, mehr Verantwortung, grössere Märkte. 2017 wurde sie von Novartis als Europa-Chefin eingestellt. Und beeindruckte offenbar auch in Basel ihre Vorgesetzten nachhaltig. Jedenfalls behielt Tschudin ihren Aufstiegsrhythmus bei und stieg zwei Jahre nach dem Einstieg erneut auf, zur Pharmachefin. Für den bislang finalen Karriereschritt, der sie zur Nummer zwei bei Novartis machte, brauchte sie dann etwas länger: knapp drei Jahre.
Graham übernimmt bei Roche in einer kritischen Phase
Teresa Graham wiederum übernimmt das Pharmageschäft von Roche in einer kritischen Phase. Die goldenen Zeiten mit diversen Multimilliardenprodukten in der Onkologie sind vorbei, der Wettbewerb ist härter geworden, die Indikationen für einzelne Therapien werden enger, der Preisdruck – allen voran in Grahams Heimat, den USA – wird grösser, Marketing wird wichtiger.
Insbesondere Letzteres dürfte ein Grund für Grahams Beförderung gewesen sein. Die Amerikanerin ist keine Wissenschafterin wie ihr Vorgänger Bill Anderson, der Roche verlassen hat, um bei Bayer als CEO anzuheuern, nachdem er nicht zum Nachfolger von Severin Schwan ernannt wurde. Sie kommt aus dem Verkauf, aus dem Marketing, aus dem Business.
Wie jede gute Pharmamanagerin versteht sie zwar die Wissenschaft hinter den Produkten, die aus der Forschung in ihre Einheit kommen, um auf dem Markt verkauft zu werden. Aber gleichzeitig wird sie als Chefin beschrieben, die nicht vor harten Entscheidungen zurückschreckt. Da werden dann auch mal die Bedürfnisse und Hoffnungen der Forschenden im Labor an die zweite Stelle gesetzt. Zumindest in naher Zukunft. Zwar sitzt Graham auf einer der stärksten Produkt-Pipelines der Industrie. Doch in jüngster Zeit hat der Nachschub nicht so geklappt, wie er sollte und wie man es von Roche gewohnt war.
Roche folgt der Wissenschaft, Graham auch Hündchen Emma
Beim grossen Alzheimer-Poker Ende letzten Jahres mussten die Basler zuschauen, wie Biogen und Eli Lilly das Rennen machten. Die Produkte der Rivalen dürften in den nächsten Jahren Umsätze in Milliardenhöhe einfahren, während der Wirkstoff von Roche scheiterte. Und auch in der Onkologie – ausgerechnet! – drohen die Basler den Anschluss zu verpassen. Das Krebsmedikament Tiragolumab hat die Erwartungen bis jetzt nicht erfüllt. Der Pharmakonzern hatte in den USA auf ein beschleunigtes Zulassungsverfahren aspiriert und war damit gescheitert. Nun richten sich alle Augen auf die Publikation der nächsten Studienresultate im ersten Quartal. Sollten sie positiv sein, ist Roche weiterhin als führender Anbieter von Krebsmedikamenten im Spiel. Scheitert der Wirkstoff, sieht es düster aus.
Eine weitere Frage ist die Diversifikation des Portfolios. Jahrelang dominierten die drei Krebsblockbuster Avastin, Mabthera/Rituxan und Herceptin aus der Übernahme der kalifornischen Genentech das Geschehen, heute ist Roche mit dem MS-Medikament Ocrevus, seiner Hämophilie-Franchise und Vabysmo, einem Augenheilmittel, breiter aufgestellt. «We follow the science», sagte Schwan jeweils auf die Frage, in welche Richtung es in Zukunft gehen soll. Das Mantra hat auch Graham verinnerlicht.
Die Spitzenmanagerin ist verheiratet, hat zwei erwachsene Stiefkinder, die beide in New York leben. Zur Familie gehört zudem Hündchen Emma, ein Puggle, eine Mischung aus Mops und Beagle. Sie lebt seit Mai 2019 in Basel und «liebt es, die Stadt ihre Heimat zu nennen».