Der verbeulte Jeep Cherokee holpert am Central Park vorbei nordwärts in Richtung Harlem. Im Fonds wirbeln Werkzeuge, Farbkessel und rostige Türschliesser durcheinander. Roland Solenthaler muss immer wieder das Steuer herumreissen, um den Schlaglöchern auszuweichen. «Eine verrückte Stadt», knurrt er, «wir haben hier 80 000 Millionäre, aber kein Geld, um die Strassen anständig zu flicken!» Der Selfmademillionär aus dem Appenzell fährt ins Schwarzenghetto auf Einkaufstour, um Nachschub für seine Parahotellerie-Kette zu holen.

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«Das Preisgefälle zwischen Downtown Manhattan und Harlem ist immer noch gewaltig, da lohnt sich der Trip», erklärt der gelernte Koch, während seine Augen die verrussten Fassaden nach «Sale»-Tafeln absuchen. «Vielleicht stosse ich per Zufall auf eine günstige Liegenschaft im kommenden Trendquartier.» Zielsicher steuert er einen 99-Cents-Laden an der 132. Strasse an, der von einer Pakistanerin geführt wird. Da Solenthaler Stammkunde ist und die Handseife für seine Budgethotellerie bei ihr gleich kistenweise einkauft, verzichtet sie auf die Umsatzsteuer. Was dem sparsamen Schweizer wieder ein paar Dollar Zusatzprofit bringt.

Tiefe Kosten, hohe Profite: Mit diesem Geschäftsprinzip hat Solenthaler in den letzten sechs Jahren unter dem Label 1291 ein Parahotellerie- und Gastrobusiness mit 180 Betten aufgebaut, das selbst erfolggewohnte Amis zum Staunen bringt. Er begann 1998 mit einer alten Wäscherei in Spanish Harlem. 150 000 Dollar kostete damals die Altliegenschaft, die direkt an der Grenze lag zum No-Go-Gebiet weiter nördlich, das von kriminellen Gangs und Drogenbanden kontrolliert wurde. Heute offerieren ihm Immobilienhändler zehnmal mehr für das Haus: Mindestens 1,6 Millionen Dollar würde er dafür erhalten.

Solenthaler liess junge Handwerker aus der Schweiz einfliegen, die bereit waren, das abbruchreife Gebäude für wenig Geld fachmännisch zu renovieren und zugleich New Yorker Luft zu schnuppern. Dabei setzte er bewusst nur günstigste Materialien aus Discount-Bauzentren ein: «Hier wird nicht für die Ewigkeit gebaut, sondern für den kurzfristigen Profit», sagt er, «wer weiss schon, was morgen kommt!» So kostete die Abdichtung des Daches eben nicht 40 000 Franken wie in der Schweiz, sondern nur 4000 Franken. In die renovierten Zimmer stellte er billige, aber stabile Kajütenbetten aus Stahl und in den Empfangskorridor einen PC, mit dem seine jungen Mitarbeiter die Buchungen managen: Fertig war die günstigste Jugendherberge in New York, die heute Absteigemöglichkeiten ab 12.91 Dollar pro Nacht und viel Tuchfühlung mit anderen Backpackern anbietet. Der Tiefstpreis gilt allerdings nur für Clubmitglieder, die mit ihrem Jahresbeitrag auch das Recht erkaufen, sich für 12.91 Dollar im 1291-Swizz-Restaurant nach Lust und Laune den Magen vollzuschlagen.

Die Billigherberge gab Solenthaler das nötige Spielgeld zur Expansion. Der Büezer lernte New Yorker Hausbesitzer und ihre Mentalität kennen. Seine Erkenntnis: «Viele von ihnen haben ein gutes Feeling für Finanzen, aber keine Lust, selber zu managen.» Als an der 55. Strasse ein altes Mehrfamilienhaus verkauft wurde, freundete er sich mit dem neuen Besitzer an: «Wenn du mir die leeren Wohnungen für mein Bed-and-Breakfast-Business abtrittst, beteilige ich dich mit 40 Prozent am Umsatz», schlug er ihm vor. Ein guter Deal für beide Partner: Der Hausbesitzer bezahlt weiterhin den Unterhalt und die laufenden Kosten, muss sich aber nicht mehr mit säumigen Mietern herumschlagen. Umgekehrt braucht Solenthaler kaum Eigenkapital zur Expansion.

Nach diesem Erfolgsrezept startet der sparsame Schweizer immer wieder neue Deals mit reichen New Yorker Apartment-Besitzern, die häufig abwesend sind: Sie treten ihre Suiten und Lofts an die 1291-Kette ab, und diese vermietet sie über ihre Internetfirma (1291cityhomes.com) an Gäste aus aller Welt, die in New York eine geschmackvolle, aber günstige Unterkunft suchen. Auf der Kostenseite schlagen die Cityhomes mit null zu Buche: Das Personal seiner Bed-and-Breakfast-Hotels erledigt den Unterhalt der Privatwohnungen zusätzlich zu seiner Arbeit in den anderen 1291-Betrieben.

15 Doller pro Tag plus gratis Kost und Logis erhält ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin in den ersten drei Monaten. Für diesen Lohn erwartet Solenthaler fünf Tage in der Woche vollen Einsatz, und zwar in allen Bereichen der Parahotellerie: Empfangsdesk, Gästebetreuung, Aufräumen und notfalls auch mal Krisenmanagement, bis der Chef kommt. Wobei der Chef dem Mitarbeiter auch zur Seite steht, wenn dieser vom Heimwehkoller gepackt wird.

Sein Personal rekrutiert Solenthaler hauptsächlich unter unerfahrenen Lehrabsolventen in der Schweiz, die vom Duft der Weltstadt New York träumen. «Mit jungen Schweizerinnen habe ich die besten Erfahrungen gemacht», sagt er, «die wissen genau, was sie wollen, und sind auch bereit, zünftig anzupacken.» Harte Interviews vor der Anstellung sollen den Jobanwärtern klar machen, dass in New York das Geld nicht auf der Strasse liegt. Sie müssen zudem beweisen, dass sie mindestens 3000 Franken auf ihrem Privatkonto haben. Denn mit 15 Dollar pro Tag lässt sich in Gotham City kaum überleben.

«Natürlich ist das Knochenarbeit», sagt die 20-jährige Alexandra, «aber ich bin nicht wegen des Geldes gekommen, sondern wegen New York. Und natürlich auch, um Englisch zu lernen und Erfahrungen zu sammeln.» Auf diese Weise bewirtschaftet Solenthaler knallhart den Traum New York, auch bei seiner Kundschaft. Viele seiner jungen Gäste sind Musiker, angehende Models, Möchtegerndesigner mit wenig Geld und grossen Hoffnungen. Und alle hoffen, hier auf dem härtesten Pflaster der Welt den Durchbruch zu schaffen.

«Wir sind ein Multimarketbetrieb», sagt Solenthaler im Tonfall eines ausgebufften Marketingprofis: «Ich kann heute alle Segmente abdecken, von der Budgetabsteige im Massenlager über einfache Studios bis zur Luxussuite mit Ausblick auf die Skyline.» Die Fachausdrücke hat sich der Selfmademan selber beigebracht. Nach Kochlehre und Hotelfachschule ging er auf eigene Faust nach London, um Englisch zu lernen. Anschliessend tingelte er rund um die Welt und rackerte sich in Hotelküchen ab, um schliesslich als Food-&-Beverage-Manager im «Four Seasons» in San Francisco zu landen. «Hier habe ich», sagt er, «das entscheidende Erfolgsrezept gelernt: Sag nie Nein zu einem Kunden!» An der Weltausstellung 1986 in Vancouver trifft er im Swiss-Pavillon in der Rolle des General Managers auf ein Schweizer Wirtepaar, das sich beim Heben von Getränkeharassen und beim Schwingen der Kochpfannen ebenfalls Schwielen an den Händen geholt hat: Ruth und Beat Waser aus der Zentralschweiz.

Die drei haben die gleiche Wellenlänge und die gleichen Träume: Unabhängig werden, sich für das eigene Portemonnaie anstatt für andere abrackern, Risiken eingehen. Man verliert sich aus den Augen, bis Solenthaler im vergangenen Jahr auf ein bankrottes Restaurant in der Nähe des Broadways stösst. Zusammen lanciert das Trio ihr Swizz-Restaurant, das sich dank Flüsterpropaganda innert weniger Monate zum In-Lokal vor allem für Heimwehschweizer entwickelt. Hier treffen sich die Banker von der UBS- und CS-Filiale mit Managern von Swiss Life und mischen sich mit dem Schweizer Uno-Personal. «Von zehn Beizen, die in New York aufgehen, schliessen sieben im ersten halben Jahr», sagt Solenthaler. «Aber wird haben es geschafft. Seit April schreiben wir schwarz!»

Und das, obwohl die Gastronomie- und Hotelbranche in New York City in der Krise steckt. Reihenweise schliessen Restaurants, werden Hotels in rentablere Eigentumswohnungen verwandelt. Sogar das altehrwürdige «Plaza», Treffpunkt der Reichsten und Schauplatz zahlreicher Filme wie «The Great Gatsby» oder «Breakfast at Tiffany’s», soll in Luxusapartments umgewandelt werden. «Kein Wunder bei den Löhnen der Barmänner, die von ihren Gewerkschaften durchgeboxt werden», sagt Solenthaler. Da sitzt er mit seinem Low-Cost-Personal am besseren Ende. Denn mit der Hotelkrise steigt die Nachfrage nach günstigen Unterkünften. «Wir haben seit Anfang des Jahres eine Auslastung von 99 Prozent», sagt er. «Zudem erlaubt uns der tiefe Dollar, die Preise anzuheben, ohne dass die Gäste aufmucken.» Entsprechend rasant wachsen die Umsätze seiner New Yorker Aktivitäten mit zweistelligen Wachstumsraten: 2003 waren es 150 000 Dollar, 2004 bereits 270 000 Dollar, und dieses Jahr erwartet er 470 000 Dollar.

Das war nicht immer so: Nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 blieben auf einen Schlag alle Gäste weg. Und zwar für Monate. Da stellte er unter die Kajütenbetten in seiner Jugendherberge einfach Pulte. Und vermietete die Kojen an Auslandstudenten der nahen Universität. Seither hat sich nicht nur er, sondern ganz New York City wieder aufgerappelt. Doch die Angst ist geblieben. Sie wird ständig von den Sirenen der Polizeiautos und Unfallwagen geschürt, die rund um die Uhr durch die holprigen Strassenschluchten heulen. Selbst der erfolgreichste Investment-Banker spürt die Unsicherheit, wenn er vor dem Bürohochhaus beim Rauchen auf den Penner trifft, der durch das dünne soziale Netz gefallen ist. «Wir tanzen alle auf einem Pulverfass», sagt Solenthaler. «Ein Bombenanschlag in der U-Bahn-Station am Union Square genügt, und alles fällt zusammen.» So packt ihn trotz aktuellem Höhenrausch manchmal das Heimweh. Dann träumt er von einem schönen Gastrobetrieb in der Schweiz. «Aber warum soll ich mich in der Schweiz mit 3,5 Prozent Rendite zufrieden geben, wenn ich in New York 35 Prozent rausholen kann?» Trotzdem hat er sich abgesichert: Der Selfmademillionär hat sich zwei Eigentumswohnungen in den Schweizer Bergen gekauft. Für alle Fälle. Aber vorerst will er bleiben: «Man muss doch die Party geniessen, solange sie läuft!»