In Zürich ist alles grösser. Die Stadt hat doppelt so viele Einwohner wie Genf. Zürich zählt ganz allein mehr Beschäftigte als die Kantone Uri, Ob- und Nidwalden, die beiden Appenzell, Glarus und Jura zusammen. Und sogar dann, wenn auch noch die Beschäftigten der Kantone Schaffhausen und Freiburg hinzuaddiert werden, hat Zürich die Nase noch immer vorn: Jede elfte Arbeitsstelle der Schweiz befindet sich in der Limmatstadt.

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Für die Schweizer Wirtschaft ist Zürich ein starker Motor. 329 700 Menschen finden hier ihr Auskommen. Kann sich jemand vorstellen, wie es wäre, wenn der Stadt über Nacht der Stecker rausgezogen würde? Wenn alle Arbeitsplätze von einem Tag auf den andern verwaist blieben? Wenn alle Geschäfte, Warenhäuser, Restaurants und Banken die Türen nicht mehr öffneten? Wenn die Trams der VBZ nicht mehr führen, die Spitäler ihren Betrieb einstellten, die ETH, die Uni und alle andern Schulen mit der Paukerei aufhörten und auch die Polizisten zu Hause blieben?

Niemand kann sich das vorstellen. Niemand will sich das vorstellen. Und doch geschieht es: Die aktuellsten Zahlen belegen, dass in der Schweiz im Jahr 2004 die Erwerbstätigen 260 Millionen Stunden am Arbeitsplatz gefehlt haben. Wenn wir diese Ausfallzeiten auf die Beschäftigten Zürichs umlegen, ergibt sich folgendes Resultat: Die 329 700 Beschäftigten (247 700 Vollzeitstellen) könnten nicht bloss zwei, drei Tage zu Hause bleiben. Auch nicht vier, fünf Wochen. Nein, volle sechs Monate blieben in der Stadt sämtliche Rollläden unten, wenn sich alle Ausfalltage der Schweizer Unternehmen in Zürich ereignen würden.

Wir haben also ein Problem. Nicht in Zürich, sondern in der ganzen Schweiz. Das Problem heisst: fehlendes oder ungenügendes Absenzenmanagement in den Unternehmen.

Die hohe Zahl der Absenzen hat enorme finanzielle Auswirkungen. Natürlich gibt es immer vielerlei Gründe für ein Fernbleiben vom Arbeitsplatz: Unfall, Krankheit, Stress, Unlust und anderes mehr. Die krankheits- und unfallbedingten Absenzen machen 76,9 Prozent aus. Sie verursachen hohe Gesundheitskosten. 2002 beliefen sich diese in der Schweiz auf 48 Milliarden Franken oder auf elf Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). Tendenz steigend. Im gleichen Jahr errechneten die Unfallversicherer Kosten von 1,4 Milliarden Franken für Berufsunfälle und 85 Millionen für Berufskrankheiten.

Die Ausfallzeiten am Arbeitsplatz ziehen aber weitere volkswirtschaftliche Kosten nach sich. In nationalen und internationalen Studien wird geschätzt, dass arbeitsbedingte Gesundheitsprobleme jährliche Kosten in Höhe von zwei bis vier Prozent des BIP ausmachen. Bei Unfällen, von denen schätzungsweise ein Drittel berufsbedingt ist, und bei Berufskrankheiten gehen die Unfallversicherer in ihrem Fünfjahresbericht 1998 bis 2002 von Aufwendungen in Höhe von 15,1 Milliarden Franken aus. Hinzu kommen psychosoziale Kosten sowie Auslagen auf Grund so genannter «arbeitsassoziierter Gesundheitsstörungen», die nicht den Kriterien des Unfallversicherungsgesetzes entsprechen. So zeigt eine Studie des Seco aus dem Jahr 2003, dass allein Stress am Arbeitsplatz jährlich mit 4,2 Milliarden zu Buche schlägt.

So viel zur Makroebene und zu den grossen Zahlen. Wie sehen nun aber die Auswirkungen der Ausfallzeiten auf der Mikroebene aus – zum Beispiel bei Schlagenhauf, einem Betrieb des Baunebengewerbes mit 250 Mitarbeitenden?

Das Baunebengewerbe ist ein hartes Geschäft. Es fordert von den Mitarbeitern strenge körperliche Arbeit. Diese sind in der grössten Hitze und bei klirrender Kälte draussen. Auf Neubauten arbeiten die Leute oft bei erheblicher Feuchtigkeit oder mit Durchzug. Zudem besteht auf jeder Baustelle ein grösseres Unfallrisiko als bei einer Tätigkeit im Dienstleistungssektor.

Es versteht sich von selbst, dass Berufsleute der Baunebenbranche stärker unter Verschleisserscheinungen leiden als kaufmännische Angestellte. Deshalb ist es auch verständlich, dass auf dem Bau immer wieder Ausfälle wegen Krankheit oder Unfall zu verzeichnen sind. Und doch gibt es in der Baunebenbranche seit den neunziger Jahren eine Zunahme von Absenzen, die sich nicht allein mit objektiven Gründen erklären lässt.

Und wie entwickelte sich die Ausfallhäufigkeit bei Schlagenhauf? Bis ins Jahr 2000 nahmen die Umsätze des Meilemer Unternehmens zu. Das Geschäft entwickelte sich erfreulich. Es mag sein, dass dies ein Grund war, weshalb den stark steigenden Ausfallstunden lange Zeit weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Dies änderte sich schlagartig, als die Firma im Jahr 2000 auf volle 19 728 Ausfallstunden kam – ein Negativrekord.

Er bedeutete, dass pro Kopf und Jahr bald einmal zwei Wochen Ausfallzeit anfallen würden. Die Unternehmensleitung realisierte, dass etwas Mutiges geschehen musste. Andernfalls hätten die immer steiler ansteigenden Sozialversicherungsprämien der Firma früher oder später das Genick gebrochen. Denn kein KMU kann jährliche Prämienerhöhungen von bis zu 730 000 Franken einfach wegstecken oder auf die Kunden überwälzen.

Was also tun? Wir starteten im Betrieb eine Informationsoffensive und orientierten die Mitarbeitenden regelmässig mit aktuellen Zahlen über die monatlichen Ausfallzeiten. An Betriebsversammlungen sensibilisierten wir die Beschäftigten und zeigten ihnen auf, dass viele Absenzen zu hohen Versicherungsprämien führen und die hohen Prämien wiederum zu weniger Nettolohn, weil die meisten Sozialversicherungsbeiträge von den Arbeitnehmern hälftig mitgetragen werden.

Das Aufzeigen der Zusammenhänge erzielte bei den Mitarbeitenden Wirkung. Erstmals konnte der Aufwärtstrend gestoppt werden. Allerdings zeigte sich auch, dass allein mit Worten, Appellen und Informationen kein dauerhafter Erfolg zu erzielen ist. Deshalb entschied die Firmenleitung, im ganzen Betrieb zusätzlich ein aktives Absenzenmanagement mit Anreizen einzuführen. Seit 2003 haben wir folgende Massnahmen umgesetzt:
– Mehr Eigenverantwortung und ein starker Anreiz. Im Personalmanagement widmet sich eine Mitarbeiterin dem Absenzenmanagement, führt aussagekräftige Statistiken über die Ausfallstunden, steht im Kontakt mit den Sozialversicherungen und rapportiert direkt und regelmässig der Geschäftsleitung. Seit 2003 müssen Mitarbeitende erst ab dem dritten Krankheitstag ein Arztzeugnis vorweisen und nicht wie zuvor bereits ab dem ersten. Die Regelung, wonach bereits ab dem ersten Absenzentag ein Arztzeugnis vorzulegen ist, führte paradoxerweise nicht zu weniger, sondern zu mehr Ausfalltagen. Sie bewirkte, dass die Mitarbeitenden auch bei Bagatellfällen zu rasch auf den medizinischen Weg gebracht wurden. Die Ärzte schrieben die Mitarbeitenden sehr oft mehrere Tage krank und vereinbarten beim ersten Termin routinemässig einen zweiten zur Kontrolle. Dies führte auch bei Bagatellfällen schnell einmal zu Abwesenheiten von bis zu fünf Tagen. Die Neuregelung gibt den Mitarbeitenden mehr Eigenverantwortung. Wenn die Arbeitnehmer der Meinung sind, ein Arztbesuch sei sofort nötig, können sie unverzüglich hingehen. Wenn sie zuwarten wollen, können sie den Besuch bis zum dritten Absenzentag aufschieben und erst dann ein Attest beibringen. Ergänzt wird die Stärkung der Eigenverantwortung mit einem finanziellen Anreiz: Mitarbeitende, die während eines Kalenderjahres keine Ausfalltage infolge Krankheit und Unfall aufweisen, erhalten 500 Franken. Die Prämie zeitigte Wirkung: Absenzen aus Bagatellgründen gehören bei uns seither der Vergangenheit an. Wenn heute jemand der Arbeit fernbleibt, können wir davon ausgehen, dass tatsächlich eine Erkrankung oder ein Unfall vorliegt.

– Mehr Arbeitssicherheit. Alle Mitarbeitenden erhalten eine Schutzausrüstung, die der jeweiligen Tätigkeit angepasst ist. Die Vorgesetzten sind verpflichtet, darauf zu achten, dass die Schutzkleidung konsequent getragen wird. Kommt es zu einem Unfall, der bei Verwendung der Schutzbekleidung nicht passiert wäre, erhält der direkte Vorgesetzte des Verunfallten einen Abzug beim Bonus, weil er seine Aufsichtspflicht vernachlässigt hat.

– Mehr Prävention und eine Selbstdeklaration. Das Thema Gesundheitsschutz geniesst hohe Priorität. Die Mitarbeitenden werden gezielt darin geschult, wie sich Unfälle und Krankheit vermeiden lassen. Mit monatlichen Informationsschreiben wird die Belegschaft über die aktuellen Ausfalltage informiert. Da die Arbeit auf den Baustellen hohe körperliche Robustheit voraussetzt, muss jeder neu eintretende Mitarbeiter eine Selbstdeklaration über seinen Gesundheitszustand ausfüllen.

– Kontakt halten. Damit die kranken oder verunfallten Mitarbeitenden spüren, dass ihr Schicksal der Firma nicht gleichgültig ist, nimmt das Unternehmen spätestens nach zweitägiger Abwesenheit Kontakt mit den Betroffenen auf. Die behandelnden Ärzte werden schriftlich über die spezifischen körperlichen Belastungen der Person an ihrem Arbeitsplatz informiert. Damit verfügt der Arzt über detaillierte Informationen, um später den Grad der Arbeitsfähigkeit besser bestimmen zu können. Das Personalmanagement hält auch mit der Krankenversicherung engen Kontakt und tauscht die nötigen Informationen aus.

– Rückkehr und Wiedereingliederung erleichtern. Der direkte Vorgesetzte führt mit Mitarbeitenden, die an ihren Arbeitsplatz zurückkehren, ein Rückführgespräch. Treten nach kurzer Zeit erneut Absenzen auf, werden die folgenden Rückführgespräche durch die Personalabteilung oder die Geschäftsleitung geführt. Je rascher jemand an den Arbeitsplatz zurückkehrt, desto einfacher gestaltet sich in der Regel die Reintegration am Arbeitsplatz. Das Unternehmen versucht dabei, den Betroffenen den Wiedereinstieg so leicht wie möglich zu machen. Als Unternehmen, das fast ausschliesslich Personen beschäftigt, die auf Baustellen tätig sind, hat Schlagenhauf nur begrenzte Möglichkeiten, Menschen mit Teilarbeitsfähigkeit eine körperlich leichtere Arbeit anzubieten.

Wir haben in den letzten zwei Jahren mit aktivem Absenzenmanagement und den neuen Anreizsystemen ausnahmlos positive Erfahrungen gemacht: 2004 haben wir die Ausfallstunden gegenüber dem Vorjahr um 30 Prozent reduziert. Und 2005 sind sie um weitere 34 Prozent gesunken. Dank den markant zurückgegangenen Ausfalltagen konnte Schlagenhauf die Produktivität beträchtlich steigern. Davon profitieren alle: die Kunden, weil wir leistungsfähiger, zuverlässiger und kostengünstiger arbeiten; die Mitarbeitenden, weil ihnen mehr Geld in der Lohntüte bleibt; das Unternehmen, weil es die Kosten im Griff hat und damit langfristig sicherere Arbeitsplätze bietet. Und natürlich profitieren auch die berufliche Vorsorge, die Sozialversicherungen und der Staat.

Rolf Schlagenhauf führt in dritter Generation das gleichnamige Unternehmen in Meilen. Die Firma beschäftigt 250 Maler, Gipser, Plattenleger, Kundenmaurer und Fassadenspezialisten. Schlagenhauf hat Niederlassungen in der Region Zürich und im Raum Zug.