Selbst nachmittags um drei Uhr schlummern Patienten im Zentrum für Schlafmedizin Hirslanden in Zürich. An der Tür steht der Hinweis «Bitte Ruhe! Schlafregistrierung läuft. Leise eintreten». Der Teppich dämpft alle Schritte, und die Sekretärin an der Anmeldung begrüsst im Flüsterton, da im Zimmer nebenan gerade aufwändige Messungen der Schlafstörung eines Mannes auf der Spur sind. Eine Nacht hat er dort schon unter Überwachung geschlafen, jetzt sollen noch Tagesnickerchen registriert werden. Kaum eine Minute braucht er zum Einschlafen – so schnell geht das meist nur bei Menschen mit krankhafter Schläfrigkeit.
Sie leiden unter einer quälenden Schlappheit, die nicht nur die Leistung bei der Arbeit mindert, sondern sogar für fast die Hälfte der Unfälle im Job und auf der Strasse mitverantwortlich ist. Bei über einem Viertel der Bevölkerung treten zumindest zeitweise Schlafstörungen auf, bei etwa zehn Prozent auch dauerhaft. «Die Patienten klagen alle über Tagesmüdigkeit, doch die dahinter steckenden Ursachen sind sehr unterschiedlich», sagt Daniel Brunner, Leiter des Zentrums für Schlafmedizin Hirslanden.
Die Kunst seines Faches sei es, festzustellen, ob es sich um einen körperlichen Grund, um falsche Schlafgewohnheiten und Erwartungen oder um innere Spannung handle, denn davon hänge eine Behandlung ab. Bei vielen Patienten steckt Stress hinter den unruhigen Nächten, einige haben Atempausen und schnarchen, andere zappeln mit den Beinen oder schlafwandeln, und ein kleinerer Teil verfällt mehrmals am Tag in einen Dämmerzustand (siehe Artikel zum Thema «Schlafstörungen: Die quälende Schlappheit»).
Wer bei Daniel Brunner Hilfe für seine Schlafprobleme sucht, wird zunächst ausführlich über alle Lebensgewohnheiten befragt, über die Sorgen bei der Arbeit, das übliche Tagesprogramm, den Sport, das Rauchen, den Kaffeekonsum, über Medikamente und das Eheleben. Der freundliche Schlafexperte mit der monotonen Stimme nimmt sich viel Zeit für ein Gespräch in seinem Büro, das durch die grelle Neonbeleuchtung bestimmt nicht zum Einnicken verleitet. Die Wand hinter Dr. Brunner zieren vier Zertifikate, die keine Zweifel an der Kompetenz in Schlafangelegenheiten des ursprünglichen Biologen aufkommen lassen. Viele Menschen hätten auch falsche Vorstellungen davon, wie lange man schlafen sollte. «Es gibt Kurzschläfer, die nach fünf Stunden pro Nacht fit für den ganzen Tag sind», sagt Brunner. Wer krampfhaft versuche, die angeblich gesundheitsfördernden sieben bis acht Stunden pro Nacht zu schlafen, mache sich nur Stress und schlafe allein dadurch schlechter. Er selbst verbringe im Schnitt etwa sechseinhalb Stunden jenseits von gut und böse.
Manager kokettieren gern damit, dass ihr Körper nur wenig Schlaf brauche. Sie prahlen mit der Effizienz ihres Geistes. Wenn sie sich regelmässig nachts im Bett herumwälzen, rechtfertigen sie das damit, sie nähmen den Job halt richtig ernst. Es gibt sogar die Mär, wer nicht mindestens dreimal in der Woche schlecht schlafe, mache in einer Führungsposition etwas falsch. Trotzdem spricht niemand gern über Schlafprobleme, es könnte als Schwäche gedeutet werden. Auch Peter Hugentobler (Name geändert), Professor für Betriebswirtschaftslehre in Zürich, möchte anonym bleiben. Im Herbst letzten Jahres fing es an, dass er plötzlich mitten im Gespräch oder während der Vorlesungen einnickte. «Das war für mich der Horror», sagt der 57-Jährige. Die Studierenden argwöhnten sogar, er sei Alkoholiker. Dabei litt ihr Professor unter einer fast folterartigen Müdigkeit. Er konnte morgens kaum noch zur Arbeit fahren, weil er im Tram einschlief und nicht rechtzeitig an der Haltestelle aufwachte. «Ich unterrichtete nur noch im Stehen, doch bei Seminaren, wenn ich selber nur zuhören musste, kämpfte ich ständig gegen das Einschlafen», sagt Hugentobler.
Die Nächte brachten ihm keine Erholung. Er schlief zwar schnell ein, doch litt er unter Albträumen, die ihn auf Türme trieben, an deren Spitze er sich einklemmte und von wo es kein Zurück mehr gab. «Ich war immer froh, wenn ich aufwachte», berichtet Hugentobler. Im Zentrum für Schlafmedizin der Hirslanden-Klinik konnte die Verdachtsdiagnose nach kurzer Dauer der Schlafregistrierung bestätigt werden: häufige Atemaussetzer, Apnoen genannt, die den Schlaf in kurze Stücke zerhacken. Noch in derselben Nacht setzte ihm die Schlaftechnikerin eine Maske auf, angeschlossen an ein Gerät, das einen Druck aufbaut, der das Zusammenfallen der oberen Luftwege hinter der Zunge verhindert und dadurch eine regelmässige Atmung und einen ungestörten Schlaf ermöglicht.
«Lange bin ich nicht so ausgeruht aufgewacht wie im Schlaflabor», sagt Hugentobler. Seitdem vergeht keine Nacht, ohne dass er das Atemgerät benutzt, das so gross wie ein liegendes Kofferradio ist, fünf Kilo wiegt und leicht ins Reisegepäck passt. Er fühle sich mit der Maske zwar wie in einen Schraubstock eingespannt, und am Morgen sei das Gesicht oft geschwollen und etwas gequetscht, doch empfinde er diese nächtliche Überdrucktherapie als unglaublich segensreich. Der Vater von drei erwachsenen Kindern will sich jetzt auch mehr Zeit für sich selber nehmen und durch Sport sein starkes Übergewicht reduzieren. Denn die Fettmassen sind der bedeutendste Risikofaktor für die nächtlichen Atemaussetzer, weil es im Rachen eng wird. Wissenschaftliche Untersuchungen der letzten Jahre aus verschiedenen Schlafzentren der Welt belegen, dass die Apnoen auch die Gefahr für Bluthochdruck, Schlaganfall und Herzinfarkt erhöhen.
Im Wellness-Hotel Lanserhof nahe Innsbruck sollen deshalb mit richtiger Ernährung und Veränderungen des Verhaltens auch Schlafprobleme beseitigt werden. Viele ausgebrannte Manager pilgern in dieses Gesundheitszentrum, um einen gesünderen Lebensstil zu erlernen.
«Ohne Medikamente und Alkohol kommen viele Menschen überhaupt nicht mehr aus», erklärt der Lungenfacharzt Christoph Puelacher, Mediziner am «Lanserhof» und Betreiber eines mobilen Schlaflabors. Doch es gehe nicht nur um die richtige Ernährung und mehr Bewegung. Vor allem bei Managern und Unternehmern sei oft der Leistungsdruck schuld, die Selbstdefinition über die Arbeit, die Ärger, Wut und Ängste auslöse und den Schlaf raube. «Nehmen Sie nie Ihre Probleme mit ins Bett», rät Hans Peter Tusch, Wirtschaftspsychologe aus Innsbruck, und fragt dann, ganz im Sinne der Manager: «Was aber, wenn diese schon da sind und auf Sie warten?» Man solle erst ins Bett gehen, wenn die Schläfrigkeit da sei. Und sich nie grübelnd schlafen legen. Tusch nennt den Vormitternachtsschlaf einen Mythos, der den rationalen Schlafgestörten zusätzlich noch unter Druck setze. Es geht bei dem vermeintlich besten Schlaf eigentlich nur darum, dass der erholsame Tiefschlaf meist in den ersten zwei Stunden nach dem Einschlafen eintritt. Und seine Qualität verschlechtert sich nicht, wenn jemand immer erst um ein oder zwei Uhr nachts das Licht ausknipst (siehe Artikel zum Thema «10 Tipps für einen guten Schlaf: Gegen schlaflose Nächte»).
Es gibt auch keine Norm, wie viele Stunden der Mensch schlafen sollte. Es gilt: Wer tagsüber schläfrig ist, gönnt sich in der Regel zu wenig Nachtruhe. «Junge Leute sind häufig flexibler mit dem Schlaf, sie können leichter auch mal eine Nacht durchmachen», sagt Schlafexperte Daniel Brunner. Meist holten sie dann in den darauf folgenden Tagen das Defizit auf. Aus diesem Grund seien auch ältere Menschen bei Jetlag oder Schichtarbeit weniger anpassungsfähig. Sie brauchten insgesamt weniger Schlaf, doch das bereite vielen Sorgen.
«Einige Patienten sind unglücklich, dass sie mit zunehmendem Alter schlechter schlafen als früher», sagt Brunner. Oft liegen sie viel länger im Bett als in jungen Jahren oder sind im Schlaf wachsamer. Wird ihr Schlaf während einer nächtlichen Überwachung registriert, schlummern sie wie kleine Kinder. Hinterher sind sie allerdings davon überzeugt, kaum ein Auge zugetan zu haben. Es mag daran liegen, dass sie die Weckreaktionen bewusster als andere erleben. Jeder Mensch wacht nämlich etwa 30- bis 60-mal in der Nacht auf, ist dabei einige Sekunden lang voll orientiert, dreht sich um, zieht die Bettdecke zurecht, schläft sofort wieder weiter – und hat alles gleich vergessen. Es mag an diesem Phänomen liegen, dass wir manchmal vermeintlich perfekt, kurz vor dem Schrillen des Weckers, aufwachen. In Wirklichkeit haben wir schon dreimal vorher auf den Wecker geschaut. Nur das letzte Mal bleibt uns in Erinnerung, weil in diesem Moment die Uhrzeit zum Aufstehen auffordert.
In der letzten Nachthälfte kommt es verstärkt zum Traumschlaf (in der Fachsprache REM-Schlaf genannt, von «rapid eye movement», weil sich dabei die Augen bewegen). In dieser Phase sind normalerweise die Muskeln von Armen und Beinen weitgehend gelähmt. «Es gibt Menschen, bei denen diese Art ‹Handbremse› im REM-Schlaf defekt ist und die deshalb aufstehen, also schlafwandeln, oder die gar wild um sich schlagen oder schreien», sagt Johannes Mathis, Neurologischer Leiter am Zentrum für Schlafmedizin des Inselspitals in Bern. Es komme zu einer Vermischung aus Traum und Wirklichkeit, welche die Betroffenen durchaus auch gefährden könne.
Gefährlich für die Karriere eines Managers der westlichen Welt könnte hingegen eine fernöstliche Besonderheit des Schlafes werden. In Japan gibt es die weit verbreitete Schlafvariante «inemuri» (i = anwesend, nemuri = schlafen), das Schlafen in der Öffentlichkeit, während man offiziell etwas anderes tut. Es geht darum, im Job durch Anwesenheit zu glänzen, bis zur körperlichen Verausgabung. Der maximale Einsatz legitimiert also das Nickerchen. Auf ein inneres Kommando fällt so dem Manager auch bei Meetings der Kopf zur Seite, und je bigger der Boss, desto demonstrativer der Schlaf. Doch sollten jüngere, aufstrebende Mitarbeiter warten, bis ihre Karriere (zumindest in Japan) die öffentliche Erschöpfung auch glaubhaft macht.