Etwas über vier Jahre ist es her, da läutete eines Abends bei Peter Gomez in St. Gallen das Telefon. Der HSG-Professor für Betriebswirtschaftslehre wollte sich beim Lesen nicht stören lassen. Seine Frau hörte dem Anrufer einige Zeit zu und meinte dann zu ihrem Gatten, da frage jemand an, ob er Präsident der Schweizer Börse werden wolle. Worauf Gomez lachend zu seiner Frau meinte, sie solle dem Anrufer sagen, er habe sich verwählt.
Doch der Headhunter hatte sich nicht verwählt. Wochen später wurde Gomez zum neuen Präsidenten der damaligen SWX Swiss Exchange ausgerufen. Die Finanzbranche zeigte sich bass erstaunt, an der Börse selbst wurde Gemurre laut. Denn Gomez, bis kurz zuvor Rektor der Universität St. Gallen, konnte zwar etwas unternehmerische Erfahrungen vorweisen, als Geschäftsleitungsmitglied von Ringier und Distral. Vom Wertschriftengeschäft dagegen hatte er keinen Schimmer.
Gerade dies war mitentscheidend für seine Wahl. Die Börseneigner suchten einen Quereinsteiger, der mit frischen Ideen die SWX aus ihrer verfahrenen Situation herauszuboxen und die Zukunft des Schweizer Börsenplatzes zu sichern vermochte. Gomez selbst sieht seine Stärken, die er beim Aufbau der heutigen SIX einsetzen konnte, sowieso weniger im praktischen denn mehr im intellektuellen Bereich. «Als Professor mit Praxisbezug habe ich einen gewichtigen Vorteil: Ich weiss aus Erfahrung, wie man strategisch vorgeht, vernetzt denkt und organisiert. Und genau das ist in diesem Job stark gefragt.» Den firmenintern gehörten Vorwurf, er lebe in einem Elfenbeinturm und betrachte das Ganze als Planspiel, lässt der 63-Jährige nicht gelten: «Ich habe in die Diskussion um die Zukunft der Schweizer Börse einige völlig neue Überlegungen hineingebracht.»
So völlig neu allerdings war dieses Denken nun auch wieder nicht. Etwa zehn Jahre lang diskutierten die Akteure des Finanzplatzes intensiv drei Szenarien: Die SWX bleibt selbständig; Fusion mit einer ausländischen Börse; Merger mit der Abwicklungsfirma SIS und dem Informationsdienstleister Telekurs. Peter Gomez vertrat in den ersten Wochen nach Amtsantritt dezidiert die Meinung, die Börse sollte autonom und selbständig bleiben. «Zuerst war ich kein Verfechter eines Zusammenschlusses.» Nach vier Monaten des Nachdenkens und des Faktenstudiums «habe ich erkannt, dass eine Fusion die beste Lösung ist».
Kritiker verstummt. Sein Richtungswechsel wurde in der Finanzbranche mit Erstaunen zur Kenntnis genommen. Dennoch gaben alle 150 Aktionäre der drei Firmen im Herbst 2007 ihr Einverständnis dazu, die drei Unternehmen unter dem Dach der SIX Group zu versammeln. Seit Anfang 2008 ist die Gruppe operativ aktiv. Inzwischen sind selbst die schärfsten Kritiker, die aus den Reihen der inzwischen in SIX Swiss Exchange umbenannten Börse kamen, verstummt. Die Schweizer Börse ist im Firmentrio zwar immer noch der gewinnstärkste Teil: 2009 erarbeiteten 258 Angestellte einen Umsatzerlös von 222 Millionen Franken. Das sind 860 000 Franken pro Kopf (siehe Tabelle im Anhang).
Nur hat der Wertschriftenhandel seit dem Zusammenschluss stark an Ertragskraft eingebüsst. «Die SIX Swiss Exchange steht in einem internationalen Wettbewerb, der sich rasant verschärft hat», sagt Börsenchef Christian Katz. Seitdem Ende 2007 die Monopole der europäischen Börsenplätze aufgebrochen wurden, herrscht ein harter Konkurrenzkampf, der immer mehr die Form eines Verdrängungswettbewerbs annimmt. Vor allem alternative Handelsplattformen wie Turquoise und Chi-X, die ein schnelles multilaterales Handelssystem für Wertpapiere aus dem gesamten europäischen Markt zu Dumpingpreisen anbieten, machen den gestandenen Börsen das Leben schwer.
Sowohl Turquoise wie Chi-X erleiden wegen ihrer Tiefpreispolitik heftige Verluste. Das jedoch ist den Benutzern egal, solange sie zu Discountpreisen handeln können. Auch Schweizer Geldhäuser, vor allem die Grossbanken, wickeln einen grossen Teil ihres Handels in Blue Chips über die Billigsthändler ab. Eine absurde Situation, denn CS und UBS sind mit 31 Prozent die Hauptaktionäre der SIX Group und sollten ein virulentes Interesse am Wohlergehen dieser Firma haben (siehe «Banken-Heimspiel» im Anhang ).
«Der Konkurrenzkampf wird dazu führen, dass einige alternative Handelsplattformen schliessen müssen», ist sich Christian Katz sicher. Turquoise wurde vor wenigen Monaten europaweit angeboten, auch der SIX. Doch diese winkte ab, «der strategische Fit war zu gering» (Katz). Zugegriffen hat am Ende die Londoner Börse LSE. Bis es zum Börsensterben und damit zu einer Entspannung an der Preisfront kommt, bleibt den Schweizern nichts anderes übrig, als ihre Gebühren ebenfalls laufend stark zurückzunehmen. Ein Ende des Preiszerfalls lässt sich nicht absehen. «Im Tradingbereich liegen die Preise mittlerweile so tief, da besteht nur schon physisch kaum noch Raum nach unten», sagt Urs Rüegsegger, CEO der SIX Group.
Auch bei anderen, immer mehr aufkommenden Formen des Börsengeschäfts – beispielsweise Dark Pools, wo in erster Linie Hedge Funds und Institutionelle diskret grosse Aktienpakete verschieben – muss die Schweizer Börse mitmachen, will sie international nicht den Anschluss verlieren. Für die SIX Swiss Exchange besonders bitter ist dabei, dass sie Handelssysteme anbietet, die international state of the art sind. Und die dementsprechend hohe Fixkostenblöcke verursachen.
Karten-Boom. Vergleichsweise fast gemächlich geht es dafür in den anderen Bereichen der SIX Group zu. Das Geschäft mit Finanzinformationen verläuft in ruhigen Bahnen. Vielversprechend sind dafür das Kartengeschäft und der elektronische Zahlungsverkehr. «Dieser Bereich ist aufgrund seiner Ertragsaussichten und Wachstumsraten ein attraktives Geschäft. Mittelfristig ist denkbar, dass der Gewinnbeitrag grösser sein wird als jener der Börse», schwärmt Rüegsegger. Grosses Wachstum sieht der CEO vor allem im sogenannten Distanzgeschäft, also bei Zahlungen im Internet, wo die Firma mit ihrem E-Payment-System Saverpay an vorderster Front mitmischt.
Herr Professor Gomez, sind Sie mit Ihrer Leistung als Baumeister der SIX Group zufrieden? Der Angesprochene lehnt sich zurück, hält den Kopf schräg und meint mit einem Schmunzeln: «Sagen wir es so: Ich habe mehr richtig als falsch gemacht. Mit dem Ergebnis jedenfalls bin ich so weit ganz zufrieden.»
Und dennoch hat die Integration derart viel Reibungsfläche freigesetzt, dass eine ganze Reihe von Topleuten das Handtuch geworfen hat. In diesen Kreisen wird bis heute Sinn und Zweck der SIX hinterfragt. Auffallend ist, dass auch die härtesten Kritiker nicht dazu bereit sind, unter ihrem Namen aufzutreten. Auch innerhalb der SIX Group gibt man sich bis in die mittlere Managementebene auffallend zurückhaltend, wenn sich das Gespräch um den Präsidenten dreht. «Napoleon», wird Gomez an der Universität St. Gallen und auch in Kreisen der SIX genannt – angeblich nicht nur seines etwas untersetzten Körperbaus wegen.
Wie lange will Gomez weitermachen? Der Professor mit spanischen Wurzeln erkennt bei sich ein Muster: «Wenn ich bisher ein Projekt übernommen habe, hat dieses jeweils nach spätestens sechs Jahren funktioniert, sodass ich nicht mehr nötig war.» Das sei auch so gewesen, als er von 1999 bis 2005 Rektor der Universität St. Gallen war. Doch das sei Tradition, dieser Posten werde alle fünf bis sechs Jahre neu besetzt, schiebt Gomez nach.
Eineinhalb Jahre Präsident der Schweizer Börse, zweieinhalb Jahre Präsident der SIX Group, das wären also vier Jahre; bleiben noch zwei. Wird Gomez im Frühling 2012 zurücktreten? Seine Antwort ist ein schallendes Lachen. «Streng genommen bin ich erst seit gut zwei Jahren bei der SIX Group. Es stehen mir also noch drei bis vier Jahre bevor», sagt er eloquent. Dabei wünschen sich sogar jene SIX-Führungsleute, die sein strategisches Denken und seinen Reformeifer begrüsst haben, dass er nun einem ausgewiesenen Börsen- und Finanzmarktkenner den Präsidentensessel überlässt. «Die Aufbauphase ist vorbei, jetzt müssen wir die einzelnen Bereiche noch mehr verankern und ertragsstärker machen», lässt sich ein Kadermann vernehmen.
Hohe Bugwelle. Peter Gomez muss in zwei Jahren bei der HSG aufhören – aus Altersgründen. Bei der SIX Group dagegen gibt es keine Altersguillotine. Dabei freut sich der in St. Gallen lebende Gomez, Vater von zwei Töchtern, auf Zeiten vermehrter Freizeit. Verteilt auf mehrere Schubladen, wartet bei ihm zu Hause eine Sammlung von 5000 Schmetterlingen aus Afrika, die er einem Sammler abgekauft hat. «Ich habe schon als Bub Schmetterlinge gesammelt», erläutert er. Eines Tages will er in seinem Wohnhaus zuerst den Keller, dann die Schmetterlingssammlung ausbauen. Doch dieser Tag ist wohl fern. Einem schnellen Rücktritt bei der SIX steht sein nicht unbeträchliches Ego im Weg. Gomez habe längst «eine strategische Flughöhe» erreicht, in der er für die Funksignale der Welt nicht mehr erreichbar sei, meint ein enger Mitarbeiter.
Peter Gomez ist seit langem bekannt dafür, dass er dazu neigt, hohe Bugwellen zu schlagen. Als ihn der Börsenverein zum neuen Präsidenten der SWX Swiss Exchange wählte, zeichnete der Karikaturist Peter Gut den Frischgekürten für die BILANZ-Rubrik «Bonjour» als Osterhasen. Nur trug der die grössten Eier nicht im Korb an seinem Rücken, sondern eher unter sich. Auf diese Karikatur anspielend, meint vier Jahre später ein ehemaliger Top-Mann der SWX trocken: «Für Peter Gomez ist alles aufgegangen. Er ist nun Chef eines grösseren Gebildes, seine Bezüge sind etwas höher – und seine Eier noch dicker.»