Eine Kasse sucht man im Laden vergebens. Zum kontaktlosen Bezahlen mit Karte reicht ein kleiner weisser Kasten. Die Kunden, die im minimalistischen Shop von Viu an der Grüngasse in Zürich Brillen anprobieren, zahlen sowieso gerne bargeldlos. In seinem futuristischen Look erinnert der Laden sowieso mehr an eine Fashion-Boutique als an ein Brillengeschäft.
Eine Frau mit hellen Jeans und weissen Sneakers legt sich an diesem Samstagnachmittag eine Brille mit dem wohlklingenden Label «The Visionary» an, blinzelt in den Spiegel. Dann probiert sie noch eine an, «The Voyager». Neben ihr steht eine junge Frau, sie trägt eine goldige, schmale Brille.
In ihrem Look sieht sie nahezu identisch aus wie die Models auf den Plakaten, die an den weissen Wänden im Laden hängen. Jung, frisch und selbstbewusst. So wie das Brillenlabel Viu aus Zürich. Mit bezahlbaren, handgemachten Brillen ist die Schweizer Marke mittlerweile in ganz Europa bekannt, vor allem auch im Nachbarland Deutschland. Von dort kommt Co-Gründer und Geschäftsführer Kilian Wagner, der mit Viu noch Grosses vor hat.
Bei Viu ist alles aus einer Hand
Das Design von Viu findet Anklang: Anfangs vor allem in Zürcher Hipster-Kreisen getragen, sind die Brillen inzwischen bei einem breiten Kundensegment gefragt. Und eben auch über die Landesgrenze hinaus: Viu hat sich in den letzten fünf Jahren fast unbemerkt zum europäischen Brillenlabel entwickelt. Das zeigen die mittlerweile fast 40 Läden in der Schweiz, Deutschland, Österreich, Dänemark und neuerdings auch Schweden.
Dabei war Viu am Anfang nur ein Onlinehändler. Die Läden kamen erst, als sich das Label mit dem Webshop schon einen Namen bei modebewussten Brillenträgern gemacht hatte. Viu verkauft Brillen für unter 200 Franken – mit Korrekturglas. «Wir brechen mit bestehenden Verkaufsstrukturen. Unsere Brillen gibt es nur online oder in unseren eigenen Shops zu kaufen», sagt Co-Gründer und Geschäftsführer Kilian Wagner. Da Viu die gesamte Wertschöpfungskette vom Design, Produktion bis zum Verkauf kontrolliert, können Zusatzkosten für Zwischenhändler eingespart werden. Trotzdem sind die Brillen handgemacht, produziert in den Dolomiten.
Die traditionellen Händler können sich eine Scheibe abschneiden
Viu ist ein Beispiel für eine gelungene «Omnichannel»-Strategie. Trotz dem dominierenden Onlinehandel eröffnet das junge Zürcher Label beinahe im Wochentakt neue Läden in ganz Europa. Und zeigt den traditionellen Händler, wie der stationäre Handel trotz der grossen Onlinekonkurrenz auch im 21. Jahrhundert noch funktionieren kann.
Der Vertrieb über den Offline- und Online-Kanal sei zwar komplex, «aber das Einzige, was heute noch funktioniert», ist Wagner überzeugt. «Der Kunde startet den Kauf, wo er will, und beendet den Kauf auch dort, wo er möchte», sagt der Viu-Chef. Dafür brauche er verschiedene Touchpoints.
Thomas Lang vom E-Commerce-Spezialisten Carpathia sagt, dass eine reine Online-Abwicklung von Brillen schwierig zu bewerkstelligen sei: «Brillen und Optik ist medizinnahe. Da will man nicht spassen und es soll alles richtig gemacht sein.» Das On- und Offline-Konzept von Viu sei aber erfolgsversprechend, weil die Marke das Optikergeschäft neu und digital denke, so Lang. «Mit der Kontrolle der gesamten Wertschöpfung können sie bei den Preisen sehr wettbewerbsfähig bleiben.»
Stationär und Web sinnvoll zu vereinen ist ein Unterfangen, an dem sich traditionelle Händler seit Jahren die Zähne ausbeissen. Viu fährt die umgekehrte Strategie der grossen Händler, die ihre physischen Läden ins Internet bringen wollen, während das Zürcher Startup seinen Webshop greifbar gemacht hat. Fielmann habe vor 40 Jahren den Markt mit einem neuen Vertriebssystem revolutioniert, sagt Wagner. «Aber seitdem hat sich die Branche kaum verändert und ist noch nicht im digitalen Zeitalter angekommen.» Zudem findet der Viu-Gründer das Design- und Qualitätserlebnis bei Fielmann und Co. «mittelmässig.»
Es gibt neben Viu auch noch weitere Online-Brillenhändler. So wie Mr. Spex in Deutschland. Dieser hatte vollmundig einen Börsengang für 2018 angekündigt, der aber nun fürs Erste ausbleibt. Man wolle erst noch weiter wachsen. Das Berliner Label hat neben dem Onlinehandel in zehn europäischen Ländern Filialen. An Spitzentage verschicke man laut eigenen Angaben aber auch rund 15'000 Pakete.
Viu startete wie Zalando
Ganz reibungslos lief es auch bei Viu am Anfang nicht. 2013 verschickte Viu seine Brillen nur online in einem «Try-at-home»-Konzept, ähnlich wie Zalando. Vier Brillen wurden zugeschickt, die passende wählte der Käufer aus, schickte alle zurück und erhielt eine Woche später die gewählte Brille mit den passenden Korrekturgläsern. Damals wollte man die Kunden mit Preis und Qualität anlocken, aber die Logistik war eine Herausforderung, sagt Wagner. Der Kauf einer Brille gestaltet sich doch anders als bei einem T-Shirt.
Der erste Viu-Store war ein Experiment, «aber wir merkten schnell, dass die Mehrkanal-Strategie der Schlüssel für unser Produkt ist», sagt Wagner. Wie andere Startups probiert Viu aus – und korrigiert schnell, wenn es nicht so läuft wie es soll.
Der Online-Marktanteil an Korrekturbrillen beträgt heute rund vier bis sechs Prozent am Gesamtmarkt. Über den heutigen Anteil von online und offline-Käufen behält Viu Stillschweigen. Nur so viel verrät Wagner: «Fast jeder zweite Kunde beginnt sein Erlebnis online und entscheidet sich für den Onlinekauf oder einen Besuch im Laden». Wagner möchte auch nicht zwischen online und offline unterscheiden: «Der Shop ist eigentlich immer derselbe. Er komme einfach als virtuelles Schaufenster im Web oder als physische Ladenfläche daher.
Alibaba-Investor investiert in Viu
Für eine Expansion brauche es aber genügend Kapital, sagt Lang. «Eine Internationalisierungsstrategie erfordert massive Investitionen», sagt Lang. Frisches Kapital für die Expansion – geplant sind in naher Zukunft über 100 Läden weltweit – hat Viu vor einigen Tagen vom Investor Eight Roads Ventures aus Grossbritannien erhalten. Details zum Deal gibt es zwar keine, die Investitionen sollen jedoch im zweistelligen Millionenbereich liegen. Damit wolle man auch Läden in Paris und London eröffnen.
Mit Eight Roads hat das junge Unternehmen einen renommierten VC an Bord geholt, der beispielsweise auch am chinesischen Internetgigant Alibaba oder Made.com beteiligt ist. In den letzten zehn Jahren hat Eight Roads rund 6 Milliarden Dollar weltweit investiert. Die anderen Investoren von Viu sind Privatpersonen und zwei Family Offices aus Zürich. «Wir finden Eight Roads als neuen Partner sehr cool. Er bringt viel Erfahrung in Tech und E-Commerce mit», sagt Wagner.
Heute verkauft Viu im DACH-Raum mehr als 100'000 Brillen pro Jahr. Angaben zum Umsatz macht das Unternehmen nicht. Rechnet man jedoch das günstigste Gestell und die Zahl der verkauften Brillen dürfte der Umsatz bei rund 18 bis 20 Millionen Franken liegen. Viu-Chef Wagner sagt, der Umsatz sei höher. Schliesslich verkauft Viu neben Korrekturbrillen auch Sonnenbrillen. Sondereditionen von Designern und Spezialkollektionen sind zudem teurer.
Der Look entscheidet, nicht nur das Produkt
Ein weiteres Rezept, das die Expansion von Viu in Europa erklärt ist die Positionierung: Die Gründer hatten Viu gleich zu Beginn nicht als Brillenmarke positioniert, sondern mit den bildgewaltigen Lookbooks als Fashionlabel mit Fokus auf «optische Kompetenz». So haben sie einem Produkt, das in einem gesättigten Markt angeboten wird, neuen Glanz verliehen.
Dazu kam die Kombination des Gründerteams, das verschiedene Stärken zusammenbrachten: 2013 wurde Viu von Kilian Wagner, Peter Käser und Brillenspezialist Dominik Müller sowie den beiden Schweizer Designern Christian Kägi und Fabrice Aeberhard gegründet. Kägi und Aeberhard haben bereits das Schweizer Taschenlabel Qwestion international bekannt gemacht. Wagner war nach seinem Studium an der Universität St.Gallen als Berater bei McKinsey tätig.
Individuelle Gestelle aus dem 3D-Drucker
Wie die meisten Startups lebt Viu aber auch stark von Innovation. Dabei verfolgt es den Grundsatz: «Shaping the future of eyewear». Sinnbildlich dafür steht eine Kollektion im Viu-Sortiment: Sie kommt aus dem 3D-Drucker und ist dem Gesicht des Trägers genau angepasst. Dabei sollen im Laden künftig auch Gesichtsscanner zum Einsatz kommen, die das Gesicht vermessen und dann eine massgeschneiderte Brille aus dem 3D-Drucker erstellt. Schon heute wird jede zehnte Brille von Viu mit einem 3D-Drucker produziert. Die Technik verspricht aber eine neue Art der Beratung für Brillen. Denn auch sie wird wie als Accessoires wahrgenommen und im Durchschnitt alle drei Jahre neu gekauft.
Smartphone wird Brille
Kilian Wagner sagt, Viu setze nicht nur auf Design, sondern auch auf Tech: «Wir haben bei uns ein kleines Team aufgebaut, das an der Digitalisierung des Gesichts und damit der Brille der Zukunft arbeiten», erklärt Wagner.
Mit Funktionen wie FaceID beim iPhone X könne man das Gesicht schon jetzt gut erfassen. In Zukunft werden sich diese Technologie noch weiter entwickeln, ist Wagner überzeugt. «Das Smartphone wird eines Tages verschwinden, und die ganzen Funktionen in eine Brille integriert.»
Inzwischen beschäftigt Viu über 250 Personen in ganz Europa und hat sich vom Online- zum Offline-Brillenhändler entwickelt. Die Läden sind der dominierende Absatzkanal des Labels. Dort braucht es kompentente Mitarbeiter. Schaut man sich die Website des jungen Unternehmens an, werden laufend neue Mitarbeiter wie Augenoptiker, Optometristen und Store Manager gesucht. Zurzeit hat Viu über 70 Stellen im In- und Ausland ausgeschrieben, 20 davon in der Schweiz.