Stephane Grand schaufelt sich mit den Stäbchen einige Stücke Pekingente auf den Teller. «China ist eine Geliebte», sagt er. «Man sieht das Junge, das Vibrierende. Sie ist die Hoffnung, sie verspricht die Zukunft.» Es ist eine jener Speisehallen im Zentrum von Peking, die fast ausschliesslich von Chinesen frequentiert werden: gross, lärmig, schmucklos. «Europa, das ist die Ehefrau zu Hause. Mitte fünfzig, vertraut, aber ohne Zukunft», fährt der Anwalt fort. «Also gibt man der Versuchung nach. Also kommt man hierher.»
Auch aus der Schweiz: Seit Jahren steigen die Direktinvestitionen, ziehen immer mehr Manager ins Reich der Mitte (siehe Grafik unter 'Downloads'): «Go East», lautet das Motto der Schweizer Unternehmen. Manche dürfen nur in kleinen Schritten gehen, wie die Grossbanken und Versicherungen, deren Märkte für ausländische Firmen kaum geöffnet sind. Manche machen gerade den grossen Sprung wie Novartis, die in Shanghai jüngst für eine Milliarde Dollar ein Forschungszentrum errichtet hat. Manche sind schon lange da, wie Nestlé und ABB.
Wachstumsmotor. Und es klingt ja auch verlockend: Während Europa und die USA nicht aus der Krise finden, wächst die inzwischen zweitgrösste Wirtschaftsmacht der Welt trotz einer gegenwärtigern leichten Abkühlung noch immer mit hohen einstelligen Raten. Die Top 4 der 23 Provinzen wären unter den zehn grössten Volkswirtschaften der Welt, selbst die kleinste ist noch bedeutender als das Boomland Vietnam. Jahrelang war China als Billiglohnland die Werkbank der Welt, jetzt ist auch der Binnenmarkt ein wichtiger Grund für den Sprung ins Reich der Mitte. «In manchen Branchen wie der Bauwirtschaft macht China 30 bis 60 Prozent des Weltmarktes aus. Wenn man diese Skaleneffekte nicht hat, ist man als globaler Player weg vom Fenster», sagt Kurt Haerri, Präsident der Handelskammer Schweiz-China.
Doch wo grosse Chancen sind, lauern auch grosse Risiken. Und diese werden von Schweizer Firmen systematisch unterschätzt. «Hier herrscht eine Brutalität, die Sie sich nicht vorstellen können», sagt William Keller, langjähriger Roche-Chef in China und Ehrenbürger von Shanghai. «Die Unternehmer hier sind aufgewachsen zu einer Zeit, als es kein Recht auf Eigentum gab, keine Gesetze, keine Bankkredite. Wenn ich dagegen unsere Teppichetagenmanager sehe, frage ich mich schon, wie die hier eine Chance haben sollen.» Dass viele Firmen im Riesenreich auf die Nase fallen, dass sie übervorteilt werden, betrogen und ausgenommen – es passt nicht in die Erfolgsstory China. Aber es passiert.
Etwa der Zürcher Managementberatung Lodestone. 2008 hatte sie eine IT-Beratungsfirma in China gekauft. Grosse Projekte hatte sie in der Pipeline, entsprechend sorgfältig fiel die Due Diligence aus: Die Schweizer Berater reisten vor Ort, prüften die Aufträge, diskutierten sogar mit dem CIO eines Kunden den geplanten Kauf einer Chipfabrik von Infineon. Nach einem Jahr stellte sich heraus: Die Projekte existierten nicht, der angebliche CIO war ein Subkontraktor und guter Freund des vorherigen Eigentümers. Hals über Kopf mussten die Berater das China-Abenteuer mitten in der Finanzkrise abbrechen und deshalb erstmals in der Firmengeschichte einen Verlust ausweisen. «Wir haben viel Lehrgeld bezahlt», sagt Lodestone-Partner Ronald Hafner rückblickend.
In Schweizer Industriekreisen erzählt man sich die Geschichte einer privaten Firma aus der Fertigungsindustrie, die einen Zulieferer im Landesinneren von China kaufte. Eigentümer ist sie zwar nun, aber das Sagen hat das alte chinesische Management. Weil es eng verbandelt ist mit den lokalen Behörden, kann es unverhohlen drohen, dass bei Einmischung sofort Energiekosten und Steuern steigen würden und aus dem kleinen Gewinn ein happiger Verlust entstünde.
Einzelfälle? Mitnichten. Betrug ist in China ein gängiges Geschäftsmodell. Kaum einer weiss das besser als Stephane Grand. Der gebürtige Franzose arbeitet seit über 20 Jahren als selbständiger Anwalt in China und hilft westlichen – auch Schweizer – Firmen, hier ihre Dependancen zu gründen, aufzubauen und zu finanzieren. In seiner Zeit in China hat er einiges erlebt. Im KMU-Bereich etwa ist es ein beliebter Trick, dass die Dokumente zur Unterschrift auf Chinesisch vorgelegt werden. Die englische Übersetzung sagt dann etwas anderes. Aber auch wenn die Dokumente übereinstimmen, muss das nicht viel heissen. «Die Chinesen verhandeln monatelang an einem 200 Seiten starken Vertrag, um ihn am Tag nach der Unterzeichnung zu brechen», sagt Grand.
Kultur-Lücke. Unterschiedliches Kulturverständnis mag ein Grund sein. «Für die Chinesen ist ein Vertrag nur ein Schnappschuss der Gegenwart. Über die Zukunft muss man neu verhandeln», sagt Ex-Roche-Chef Keller, der heute als Berater tätig ist. «Für uns ist ein Vertrag ein Dokument für die Ewigkeit.» Auch die fehlende Rechtskultur mag ein Grund sein – Mao liess während der Kulturrevolution die Juristen systematisch ausmerzen – und die chinesische Symbolsprache, die weniger präzise ist als eine Buchstabensprache. Meist ist es aber schlicht und einfach Absicht. «Die Kunden zahlen oft nur 90 Prozent, den Rest verweigern sie – es funktioniere etwas nicht, es fehle etwas, man habe kein Geld.» Diese Erfahrung hat der Zürcher Unternehmer Patrick Müller (siehe 'Nebenartikel') in China gemacht. Man kann Druck aufsetzen, etwa die Lieferung von Ersatzteilen sistieren. «Aber richtig durchsetzen kann man sich nicht. Am Schluss findet man irgendeinen Kuhhandel.»
Zum Repertoire gehört auch das unverfrorene Kopieren von Ideen, Designs, Patenten. China ist der weltgrösste Hersteller von gefälschten Waren – selbst komplette Apple Stores werden nachgebaut. Auch OC Oerlikon hat es erwischt. Der Industriekonzern ist schon seit 1964 in China tätig. Jüngst hat Konzernchef Michael Buscher den Hauptsitz seiner grössten Division, Textilmaschinen, nach Shanghai verlegt. China ist sein wichtigster Markt, mehr als 140 Millionen Chinesen, etwa zehn Prozent der Bevölkerung, arbeiten direkt oder indirekt in der Textilindustrie. Die Maschinen von OC Oerlikon sind hier gefragt – so gefragt, dass zwei Angestellte deren Pläne kopierten, die Einzelteile bei denselben Lieferanten einkauften, die Maschinen nachbauten und zum halben Preis anboten. Selbst den Verkaufskatalog kopierten sie und ersetzten nur den Namen OC Oerlikon durch einen eigenen. Seither beschäftigt der Konzern zwei Mitarbeiter, die solche Fälle systematisch verfolgen und zudem alle chinesischen Patentanträge scannen und im Verdachtsfall übersetzen, damit man wenn nötig Einspruch erheben kann. Dass das nicht reicht, weiss auch CEO Michael Buscher: «Der beste Schutz ist, Innovationen schneller zu entwickeln, als die Konkurrenz mit dem Kopieren nachkommt.»
Vor den neunziger Jahren, als Joint Ventures für westliche Firmen die einzige Möglichkeit waren, auf dem Markt Fuss zu fassen, landeten die Pläne fast zwangsläufig beim chinesischen Partner – was etwa Schindler in Schwierigkeiten brachte (siehe 'Nebenartikel'). Auch um dies zu vermeiden, setzt man heute gerne auf eigene Töchter, sogenannte WOFI (wholly owned foreign enterprises). Es nützt nur wenig. Bei öffentlichen Aufträgen etwa muss meist die komplette technische Dokumentation hinterlegt werden – oft landet sie wenig später bei einem lokalen Wettbewerber. Das passierte etwa ABB mit ihrer Energieversorgung für Eisenbahnanlagen. Als sich der damalige China-Chef Brice Koch darüber beschwerte, hatte ABB für einige Monate Mühe, öffentliche Aufträge zu bekommen. «Der Druck, Know-how preiszugeben, ist noch immer sehr hoch», sagt Uli Sigg, der einst für Schindler den chinesischen Markt aufbaute und später Schweizer Botschafter in Peking wurde. Mit dem Freihandelsabkommen, das Bundesrat Johann Schneider-Ammann soeben in Peking verhandelte und das bis Jahresende unter Dach sein soll, versucht man, so gut es geht, Abhilfe zu schaffen.
Träge drehen sich die Ventilatoren an der Decke der Speisehalle. Die Luft wird dadurch nicht besser. So dicht ist der Smog in der chinesischen Hauptstadt, dass er die Lebenserwartung um bis zu fünf Jahre verkürzt, haben Wissenschaftler errechnet. Stephane Grand nimmt sich noch etwas süsssaures Schweinefleisch. «Das Problem ist, dass man nicht vor Gericht gehen kann, weil man vor Gericht verliert», sagt er: «Bis zur Jahrtausendwende haben die chinesischen Firmen 95 Prozent aller Fälle gewonnen. Heute sind es weniger, aber es herrscht noch immer ein riesiges Ungleichgewicht.» OC Oerlikon war gegen ihre Ex-Mitarbeiter vor Gericht immerhin erfolgreich, auch weil die Firma selber stark lobbyiert. Aber: «Wir gewinnen nur gegen Privatfirmen», sagt China-Chef Wang Jun.
Gegen eine Staatsfirma geht keiner vor Gericht. «Er würde dort geschlachtet werden, und sein Leben wäre in Zukunft sehr schwierig», sagt Grand. Die Richter haben viele Freiheiten, denn die Gesetze sind bewusst vage formuliert, um den gewaltigen Unterschieden in den verschiedenen Provinzen des Riesenreiches Rechnung zu tragen. «Wer das engere Verhältnis zum Richter hat, wird gewinnen», sagt Anwalt Grand. «Und das ist nie der Westler.»
Auf dem chinesischen Markt gelten die Regeln nicht für alle gleich. Um eine Versicherung anzubieten, braucht es in jeder Stadt eine andere Lizenz. «Ein chinesischer Versicherungskonzern bekommt sie in rund 4 Monaten. Ein ausländischer wartet 8 bis 24 Monate», sagt Robert Wiest, Vizepräsident der Handelskammer Schweiz-China, tätig bei Swiss Re. Schlimmer noch: Die Regeln ändern oft ohne Ankündigung. Das bekam auch Claudia Masüger zu spüren (siehe 'Nebenartikel'). Mal werden von der Weingrosshändlerin neue Gesundheitszertifikate verlangt – darum Übersetzungen der Etiketten oder zusätzliche Analysen. «Manchmal ist es wirklich unfair», sagt Masüger. Der Schweizer Lift- und Rolltreppenbauer Schindler engagiert sich daher in Expertenkommissionen der Regierung. «Dann weiss man vorher, was passieren wird», sagt Asien-Chef Silvio Napoli.
Schikanen. Die Behördenschikane ist vom Staat gewollt, sie soll einheimischen Unternehmen Wettbewerbsvorteile verschaffen. «Langfristig wird keine ausländische Firma in einer wichtigen Branche die Spitzenposition halten können», sagt Jürg Wolle, CEO des Zürcher Handelshauses DKSH, das seit 1992 westliche Produkte in China vertreibt.
Meist lässt sich der Behördenärger mit Hong Bao lösen, dem «roten Sack». Gemeint ist der Briefumschlag mit Banknoten, den ein Patron an Neujahr seinen Mitarbeitern überreicht – immer öfter aber auch Beamten oder anderen Entscheidern, um schneller ans Ziel zu kommen. «Bestechung gibt es auf der ganzen Welt», sagt Anwalt Grand, «aber hier ist es eine Industrie.» Auf dem Korruptionsindex von Transparency International steht China auf Platz 75 hinter Ländern wie Ghana oder Ruanda. Drei der vier am stärksten korruptionsgefährdeten Firmen stammen aus China. «Früher reichte mal ein Sackmesser oder ein Abendessen», sagt Unternehmer Müller. «Heute geht es in den Bereich von 25 000 Franken.» Da fordern Kunden etwa eine Reise in die Schweiz – und verzichten zwei Wochen vor Antritt auf den Trip, verlangen aber den Gegenwert in Cash. Beziehungsweise in Geschenkgutscheinen für Warenhäuser, denn die sind diskreter und lassen sich mit ein paar Tricks sogar von den Steuern absetzen. Das Schmiergeld-Problem bringt manchen westlichen Manager in Gewissenskonflikte. «Als Schweizer Firma können wir keine Bestechungsgelder zahlen. Aber die Firma, die unsere Produkte vertreibt, kann das für uns», sagt der China-Chef eines Schweizer Unternehmens und fügt hinzu: «Schreiben Sie das bloss nicht, sonst lässt man Sie nie mehr ins Land!»
Der Briefumschlag mit Geld ist wichtig für Guanxi, eine der meistbenutzten Vokabeln in Mandarin: Sie bezeichnet das Beziehungsnetz, das entscheidend ist für den Erfolg in der Gesellschaft. Besonders für Ausländer. In China werden Beziehungen auf dem Nutzen einer Person aufgebaut, nicht auf der Person selber. Je stärker China als Wirtschaftsmacht wird, umso geringer der Nutzen westlicher Investoren. Der Umgangston hat sich verändert: «Die Chinesen wurden in den letzten Jahren zunehmend selbstbewusst und begannen, ihr wahres Gesicht zu zeigen», sagt DKSH-Chef Jürg Wolle. «Bis dahin hatten sie die Ausländer hofiert. Jetzt gibt es keinen roten Teppich und keine bevorzugte Behandlung mehr.»
So arbeiten chinesische Arbeitskräfte inzwischen am liebsten für Staatsbetriebe oder für chinesische Privatfirmen. «Zu einem Schweizer Unternehmen kommt ein Chinese nur noch, wenn Sie ihn überbezahlen oder wenn er Sie bestehlen kann», sagt Anwalt Grand und nennt einen Fall, bei dem ein Mitarbeiter mit umgerechnet 45 Franken Benzingeld im Monat startete, schrittweise immer mehr kassierte und am Schluss fast 8000 Franken in Rechnung stellte. Wer als Investor nicht aufpasst, riskiert, dass der Firmenchef den halben Familienclan einstellt oder das gleiche Produkt auf Kosten der Firma herstellt und auf eigene Rechnung verkauft.
Ein Chinese ist loyal zu Familie, Freunden, Land – aber selten zum Arbeitgeber. Für 40 Franken mehr Lohn wechselt er zur Konkurrenz – per sofort. «Im besten Fall ruft er am nächsten Tag noch vom neuen Arbeitsort aus an», sagt Unternehmer Müller. Es ist ein Bieterkampf um qualifizierte Arbeitskräfte entstanden. Bisweilen warten Vermittler mit Geldbündeln in der Hand vor dem Werkstor. So steigen die Saläre je nach Branche um 10 bis 30 Prozent pro Jahr. In Suzhou, einem gewaltigen Industriegebiet westlich von Shanghai, findet man knapp jeden zweiten Konzern aus den Forbes 500 und am nahe gelegenen Yangtse-Ufer Fünfsternhotels und einen Golfplatz für das Management. Was man aber kaum mehr findet, sind bezahlbare qualifizierte Arbeitskräfte. «Das Salär ist bis zu dreimal höher als in Shanghai, das macht keinen Sinn mehr», sagt Jason Zheng von Cedes (siehe 'Nebenartikel'). Er hat einen Teil seiner Entwicklungsabteilung in die Metropole verschoben, wo ein Arbeiter im Jahr 7700 Franken verdient. Günstig ist es nur noch im Landesinneren, doch da mangelt es häufig an Ausbildung.
Noch teurer wird es auf den Teppichetagen: Ein Personalchef oder ein CFO mit Englischkenntnissen ist unter 75 000 Franken nicht mehr zu finden. «Unsere Topmanager in China sind lohnmässig auf ähnlichem Niveau wie in Japan, Hongkong oder Singapur», sagt DKSH-Chef Wolle. «Die Mär von Low Cost können Sie vergessen!»
Rückzüge. Vorbei ist auch die Zeit, als Fabrikanten wie der Apple-Zulieferer Foxconn mit unmenschlichen Arbeitsbedingungen die Margen erhöhen konnten. «Normenarbitrage kann sich ein globaler Konzern heute imagemässig nicht mehr leisten», sagt Martin Wittig, Chef der Roland Berger Strategy Consultants, die seit 1994 westliche Kunden in China beraten.
Für viele Firmen ist China inzwischen unverzichtbar. Viele haben aber auch die Nase voll. Nach einer Umfrage der Europäischen Handelskammer denkt jedes fünfte Unternehmen darüber nach, den Standort China aufzugeben. Das Boomland halte nicht, was es verspreche. Schweizer Firmen, die das China-Abenteuer abgebrochen haben, reden nicht gerne darüber. Die Warenhauskette Manor schloss ihre 15 Shop-in-Shop-Boutiquen in China. Schild holte die Produktion nach Europa zurück. Kuoni liess die geplante Übernahme des lokalen Reiseanbieters Et-China fallen. Der Mineralwasserhersteller SwissEau zog sich trotz grossen Plänen nach eineinhalb Jahren vom Markt zurück. Wer bleibt, braucht sehr viel Durchhaltevermögen, Geschick, Glück – und tiefe Taschen. Volkswagen war 1985 einer der ersten westlichen Konzerne im Land. Der Autobauer zahlte in China 18 Jahre lang Lehrgeld, bis sich die Investitionen lohnten.
«China ist eine Geliebte» sagt Stephane Grand in der Speisehalle in Peking: «Sie ist die Hoffnung, sie verspricht die Zukunft.» Er trinkt den letzten Schluck Tsingtao-Bier aus und steht auf. «Im Westen will nur niemand wahrhaben, dass sie Cellulitis hat, schiefe Zähne und einen schlechten Atem», sagt er. «Doch das ist die Realität!»