I muen au no uf das cheibe Cancún», sagt Hansjörg Walter. Der nüchterne Thurgauer Nationalrat, der den Schweizerischen Bauernverband führt, scheint sich nicht sehr auf den Aufenthalt an der karibischen Küste von Mexiko zu freuen. Und das liegt nicht nur daran, dass er in diesem Sommer schon genug unter tropischen Temperaturen gelitten hat. Hitze droht bei der Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) vom 10. bis zum 14. September nicht nur im meteorologischen Sinn. Heiss wird es auf den Strassen sein, wo die Demonstranten wie vor vier Jahren in Seattle gegen die Globalisierung kämpfen wollen. Und heiss wird es in den Konferenzräumen sein, auch in jenen der Schweizer Delegation.
Denn von den Dossiers, die in der laufenden Liberalisierungsrunde zur Debatte stehen, ist dasjenige der Landwirtschaft das wichtigste: für die Welt, aber auch für die Schweiz. Für eine ausgewogenere Entwicklung der Weltwirtschaft gibt es kein bedeutenderes Ziel, als die Märkte für Agrarprodukte zu öffnen. Mit Zöllen, Kontingenten und Exportsubventionen schützen die Industriestaaten ihre Landwirtschaft vor dem globalen Wettbewerb. Und sie nehmen damit den Entwicklungsländern die einzige Möglichkeit, kompetitive Vorteile auszuspielen und Devisen zu erwirtschaften. Für «eine Schande» hält Nestlé-Chef Peter Brabeck diesen «Agrarkrieg», den die Industrieländer mit 360 Milliarden Dollar Subventionen für ihre Bauern führen: «Damit könnte jede Kuh Europas und Nordamerikas einmal in ihrem Leben mit der Swiss erste Klasse um die Welt fliegen.» Nicht nur seiner Meinung nach kämpfen deshalb die Krawalltouristen, die zum Sturm auf Cancún rüsten, gegen das falsche Ziel.
Dass die Subvention für eine Schweizer Kuh 1300 Dollar, das Durchschnittseinkommen eines Afrikaners aber 500 Dollar im Jahr beträgt, findet auch Gregor Kündig «erstaunlich». Als Geschäftsleitungsmitglied von Economiesuisse für Freihandelsfragen zuständig, möchte er die Grenzen für Agrarprodukte öffnen: Die Schweizer können in den Schwellenländern nur Maschinen verkaufen und Services anbieten, wenn diese ihrerseits weltweit liefern dürfen, was sie mit ihrer Landwirtschaft erzeugen. Die Schweiz sei mit einer der globalsten Wirtschaften auf die WTO angewiesen, stärker als mächtige Blöcke wie die EU, sagt Gregor Kündig: «Die WTO bietet uns Sicherheit mit ihrem Regelwerk.» Und mit ihrer auf schärfsten Wettbewerb getrimmten Exportwirtschaft könnte sich die Schweiz noch weiter öffnen, als es die WTO bisher verlange, meint der Vertreter des Wirtschafts-Dachverbands: «Wir können aber nicht mit starken Vorschlägen kommen, wenn uns die Landwirtschaft in die Defensive zwingt.»
Die Schweizer Exportwirtschaft leidet also gleich doppelt unter dem Schutz für die Schweizer Bauern: Einerseits kämpft sie mit dem hohen Lohnniveau und der steigenden Staatsquote, zurückzuführen auf die abgeschottete und von der Politik gehätschelte Binnenwirtschaft mit ihren übersetzten Preisen; anderseits bleiben ihr Exportmärkte verschlossen, weil sich die Schweiz nicht für Agrarimporte öffnet.
Das weiss auch Hansjörg Walter, der in Wängi TG einen gepflegten Familienbetrieb führt, mit 25 Hektaren, 30 Kühen, 210 000 Kilo Milchkontingent und von der «Weltwoche» geschätzten 30 000 bis 40 000 Franken Direktzahlungen. Nicht nur mit der Abgeltung für das Landschaftsgärtnern kann Bauer Walter dank der Schweizer Agrarpolitik sein Einkommen aufbessern: Die Milch bringt in der Schweiz trotz den bitter beklagten Preissenkungen immer noch 78 Rappen pro Kilo ein, auf dem Weltmarkt wären es 22 Rappen – die Differenz multipliziert sich bei Hansjörg Walters Milchmenge auf 117 600 Franken. Der Bauernführer stellt denn auch fest: «Wenn wir keine Hürden aufbauen können, lässt sich hier nicht mehr produzieren.»
Das aber will er weiterhin, nach den Grundsätzen, die seit 1996 in der Verfassung stehen: Versorgungssicherheit und Umweltverträglichkeit, aber auch dezentrale Besiedlung und flächendeckende Bewirtschaftung. Vom Dogma der Freihandelsanhänger, dort zu produzieren, wo die Produktionsbedingungen am günstigsten sind, hält der Bauernpolitiker wenig. «Bei einem Podiumsgespräch am World Economic Forum sagte mir der brasilianische Industrieminister, wir Schweizer seien Löli, wenn wir selber Zucker erzeugen, obwohl wir ihn von den Entwicklungsländern zum halben Preis einkaufen könnten», erzählt er. «Ich antwortete ihm, erstens betrachte ich Brasilien nicht als Entwicklungsland, und zweitens beurteile ich es als ökologisch sinnvoll, in der Fruchtfolge auch Zuckerrüben anzupflanzen.»
Mit einer geschickten Bündnispolitik haben es die Bauern denn auch geschafft, Konsumentenschützer und Entwicklungshelfer für ihren Protektionismus einzuspannen: Die einen binden sie mit ihrem Bekenntnis zu garantiert Gentech-freier Produktion ein, die anderen mit ihrem nicht ganz uneigennützigen Einsatz für die Löhne und die Arbeitsverhältnisse in den Schwellenländern. «Die Landwirtschaft wird von internationalen Konzernen industrialisiert», sagt Hansjörg Walter. Mit anderen Ländern, die eine multifunktionale Landwirtschaft verteidigen, wie Japan und Norwegen, will die Schweiz deshalb in der WTO eine Sozialcharta für den Agrarbereich durchsetzen: Dies würde die Stellung der Landarbeiter stärken – und die Wettbewerbsfähigkeit der Schwellenländer schwächen.
Denn an der flächendeckenden Bewirtschaftung des Landes, selbst an Steilhängen und in Nebellöchern, wollen die Schweizer Bauern festhalten. Auch Christoph Blocher, der behauptet, allein mit dem Abbau der Agrarbürokratie liesse sich jährlich eine Milliarde sparen, traut sich vor den Wahlen nicht, sein hoch entwickeltes ökonomisches Denken auf die Landwirtschaft anzuwenden. «Ich will nicht, dass das Land vergandet», sagte er dem «Tages-Anzeiger». «Also muss der Bauer, der es bewirtschaftet, pro Fläche dafür bezahlt werden.» Das könne sogar einen Ausbau der Direktzahlungen bedeuten: Von der WTO in die so genannte Green Box mit nicht marktverzerrenden Massnahmen gesteckt, stehen sie in der laufenden Verhandlungsrunde nicht zur Diskussion.
Die Hürden an den Landesgrenzen müssen dagegen sinken, wie auch Hansjörg Walter weiss: Die Überlebensfrage ist nur, wie tief. In der WTO stehen sich zwei Blöcke gegenüber. Einerseits die USA und die nach dem australischen Verhandlungsort benannte Cairns-Gruppe mit 15 traditionellen Agrarexportländern wie Argentinien, Brasilien, Neuseeland und Südafrika: Sie wollen den Freihandel auch mit Landwirtschaftsgütern durchsetzen, verlangen also den Abbau der Zölle auf höchstens 25 Prozent und die Streichung der Exportsubventionen. «Die Diskussionsbereitschaft der Amerikaner ist sehr klein», stellt der Bauernpräsident fest. Anderseits die EU: Vor allem unter dem Druck der Franzosen will sie ihre Landwirtschaft schützen, kann aber selber nicht an ihrem Subventionsniveau festhalten, wenn die osteuropäischen Länder dazustossen.
Dazwischen steht der «Klub der Multifunktionalen», den die Schweiz anführt. Teils kann sie sich grosszügiger geben, wie bei Milch und Käse, wo der Handel auf Grund der Bilateralen Abkommen bis 2007 völlig liberalisiert wird. Teils muss sie an noch höheren Hürden als die EU festhalten, etwa beim Getreide: In der EU bringt dieses nur die Hälfte des Schweizer Preises ein. Der Getreideanbau ist «extrem gefährdet», weiss Hansjörg Walter: Sein Vize im Schweizerischen Bauernverband, FDP-Nationalrat John Dupraz, ist der grösste Getreidebauer der Schweiz. Ein anderes Vorstandsmitglied, der Bündner Bergbauer und CVP-Nationalrat Walter Decurtins, forderte schon eine Lösung vom Staat, weil die Schafwolle «schlicht und einfach nicht wirtschaftlich verwertet werden» könne. «Für so etwas findet man Mehrheiten», stellt der Bauernpräsident fest. Dabei möchte er eigentlich «mit den 14 Milliarden Franken, die wir in den nächsten vier Jahren bekommen, eine gescheite Landwirtschaft machen».
Globalisierer gegen Nationalisten in der Konferenz, Exportinteressen gegen Agrarprotektionismus in der Schweizer Delegation, aber auch Milch- gegen Getreidebauern und Schafhalter gegen Rübenpflanzer, die alle um ihre Existenz bangen – eine heikle Konstellation für Bundesrat Joseph Deiss und Botschafter Luzius Wasescha, den Delegierten für Handelsverträge, die für die Schweiz in Cancún verhandeln.
Was rät ihnen Aymo Brunetti, Chefökonom des Staatssekretariats für Wirtschaft? «Wir schützen unsere Landwirtschaft viel stärker als die EU und zahlen darum viel höhere Preise für Lebensmittel», sagte er im «Blick». Der EU-Beitritt brächte in dieser Beziehung Vorteile: Die Lebenshaltungskosten sänken, die Schweiz gewänne an Wettbewerbsfähigkeit und Wachstumspotenzial. Der Wirtschaftsprofessor weiss denn auch: «Jede Grafik im Lehrbuch zeigt, dass wir den Agrarmarkt sofort liberalisieren und zu Direktzahlungen zur Abgeltung von gemeinwirtschaftlichen Leistungen übergehen müssten. Simpel ökonomisch ist der Fall klar.» Der Bundesbeamte muss aber auf die Realpolitik Rücksicht nehmen. «Es ist die Gretchenfrage, mit welchem Tempo wir vorangehen. Eine brutale Öffnung von einem Tag auf den andern ist den Betroffenen nicht zuzumuten, und sie ist auch nicht sinnvoll.» Entscheidend sei deshalb, dass möglichst wenig Ressourcen in überholte Strukturen fliessen: «Die Agrarpolitik 2007 zeigt klar auf, wohin es geht.»
Bis dahin gilt in Cancún und anders- wo, was die «Economist»-Journalisten John Micklethwait und Adrian Wool-dridge in ihrem Buch «A Future Perfect» schreiben: «Die Nahrungsmittel sind eines der günstigsten Verstecke für hässliche nationalistische Emotionen.»
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