Westliche Pharmakonzerne haben in weit grösserem Umfang als bisher angenommen Medikamtente an DDR-Bürgern getestet. Dies soll oft ohne Wissen der Betroffenen geschehen sein, berichtete der «Spiegel».
Westliche Medikamentenhersteller sollen in der DDR hunderte Medikamentenstudien an mehr als 50'000 Patienten in Auftrag gegeben haben. Bis zum Mauerfall wurden laut «Spiegel» in mehr als 50 DDR-Kliniken unter anderem Herzmedikamente und Antidepressiva getestet. Bei mehreren Testreihen gab es Todesfälle.
Tests an Frühgeborenen
In der Lungenklinik Lostau bei Magdeburg starben zwei Patienten, die mit dem von Sandoz (Teil des Novartis-Konzerns) entwickelten Blutdrucksenker Spirapril behandelt wurden. Danach wurde der Versuch abgebrochen.
An der Universitätsklinik Charité liess Boehringer-Mannheim (heute Teil des Roche-Konzerns) die als Dopingmittel missbrauchte Substanz Erythropoetin («Epo») an 30 unreifen Frühgeborenen erproben, wie es in Akten heisst, aus denen der «Spiegel» zitiert. Aber nicht nur die Schweizer Pharmamultis liessen in der DDR testen, auch Bayer, Sanofi oder Hoechst nutzten das «Angebot».
800'000 Mark pro Studie
Dass westliche Pharmahersteller Medikamententests in der DDR vornehmen liessen, ist nicht neu. Bereits 1991 hatte der «Spiegel» darüber berichtet. Der Umfang der Versuche ist aber viel grösser als bislang bekannt.
Das Magazin beruft sich in seinem aktuellen Bericht auf bis anhin unbekannte Akten des DDR-Gesundheitsministeriums, der Stasi und des Instituts für Arzneimittelwesen der DDR. West-Pharmahersteller gaben demnach an DDR-Kliniken mehr als 600 Arzneimittelversuche in Auftrag.
Die Hersteller boten bis zu 800'000 D-Mark pro Studie an. Patienten seien über Risiken und Nebenwirkungen oft im Unklaren gelassen worden.
Die betroffenen Unternehmen weisen laut «Spiegel» darauf hin, dass die Vorgänge weit zurücklägen. Sie betonen, dass klinische Tests prinzipiell nach strengen Vorschriften erfolgten. Der Verband Forschender Arzneimittelhersteller sieht «bisher keine Verdachtsmomente, dass irgendetwas faul gewesen wäre», schreibt das Magazin.
Die Zulassung der in der DDR getesteten Medikamente erhielten die Konzerne damals beim Bundesgesundheitsamt. Die Tests seien «nicht hinterfragt» worden, sagte ein früherer Abteilungsleiter dem «Spiegel».
DDR-Opfer-Hilfe fordert Entschädigung
Die DDR-Opfer-Hilfe forderte von den Unternehmen Entschädigung für die Betroffenen und eine umfassende Aufklärung. Das deutsche Gesundheitsministerium müsse «unverzüglich» eine unabhängige Kommission einsetzen, erklärte der Vorsitzende Ronald Lässig.
Es sei ein Skandal, dass ethische Grundsätze offenbar planmässig über Bord geworfen wurden. Die Pharmakonzerne und die Spitäler müssten zur Verantwortung gezogen werden.
Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Christoph Bergner (CDU), fordert eine vollständige Aufklärung gefährlicher Medikamententests westlicher Firmen in der DDR. «Die vorliegenden Fakten müssen rückhaltlos untersucht und die Hintergründe aufgeklärt werden», sagte Bergner der in Halle erscheinenden «Mitteldeutschen Zeitung».
«Es wäre ein schwerer Skandal, wenn tausende DDR-Bürger - vermutlich sogar unter Verletzung von Rechtsvorschriften der DDR - zu billigen und wohlfeilen Versuchskaninchen gemacht worden wären.»
Bergner sagte der «Mitteldeutschen Zeitung», ihn erschütterten insbesondere die Hinweise auf offenbar konspirative Verhandlungen zwischen DDR-Funktionären und Konzernmanagern. Das klinge sehr nach vorsätzlicher Missachtung medizinethischer Grundsätze unter Umgehung der zuständigen Kontrollbehörden.
Für «strafrechtliche Aufarbeitung»
Derartige Vergehen «verlangen eigentlich nach strafrechtlicher Aufarbeitung», sagte der CDU-Politiker. Mögliche Entschädigungen müssten aus seiner Sicht «vor allem durch die Profiteure der Aktionen» gezahlt werden.
Entschädigungen und strafrechtliche Konsequenzen forderte auch Unionsfraktionsvize Arnold Vaatz (CDU). «Wenn es zu körperlichen Schäden bis hin zur Todesfolge gekommen ist, dann stellt sich die Frage nach Schadenersatz und Ausgleichszahlungen. Und dann ist auch die Frage nach der strafrechtlichen Verantwortung zu beantworten», sagte Vaatz der «Berliner Zeitung».
Es handle sich um ein Offizialdelikt, bei dem die Staatsanwaltschaft von sich aus tätig werden müsse. Wenn die Fälle aber in kein rechtliches Schema passten, müsse sich der Gesetzgeber damit befassen.
Novartis offen für Aufarbeitung
Derzeit sind mehrere wissenschaftliche Projekte zur möglichen Aufarbeitung der Historie klinischer Studien in der früheren Deutschen Demokratischen Republik im Gespräch, teilte eine Pressesprecherin von Novartis handelszeitung.ch mit.
Aufgrund der hohen ethischen und moralischen Ansprüche des Unternehmens stehe man dem Vorhaben positiv gegenüber und sei für eine Kooperation mit einer unabhängigen Forschergruppe unter zentraler Federführung offen. Vor der Weitergabe sensibler Daten und Fakten an Dritte seien die rechtlichen Anforderungen zu prüfen. Darüber hinaus sei eine unabhängige wissenschaftliche Aufarbeitung erforderlich, so Novartis.
Aus den Vorgängerunternehmen Sandoz und Ciba Geigy ging 1996 die heutige Novartis hervor. Dabei wurden mehrere Standorte, unter anderem Wehr, Frankfurt und Nürnberg, zusammengelegt. Der deutsche Hauptsitz ist heute in Wehr.
Roche: «Kein Interesse, Vorgänge zu beschönigen»
Roche gab handelszeitung.ch an, dass die Studien nach den damals geltenden Richtlinien der Weltärzte-Deklaration von 1983 durchgeführt worden seien. «Der Wissensstand vor rund 30 Jahren entspricht nicht mehr den heutigen Kenntnissen. In diesem Lichte würden wissenschaftliche Vorgänge heute anderen Beurteilungen unterliegen als damals», so Medienchef Alexander Klauser. Und weiter: «Wir haben klar kein Interesse daran, Vorgänge in der ehemaligen DDR zu beschönigen. Roche bekennt sich uneingeschränkt zur Anwendung hoher ethischer Massstäbe bei ihren Forschungsaktivitäten.»
Roche kündigt an, sich in den erwähnten Fällen einen genaueren Einblick verschaffen. Man habe bisher noch keine konkreten Anzeichen gefunden, dass von Roche oder durch Vorgängerfirmen betreute Studien unsachgemäss durchgeführt wurden.
Zu Roche beschreibt der «Spiegel» zwei Fälle: Im einen Fall wurde Frühgeborenen ein Mittel verabreicht, das Wachstum und Reifung von roten Blutkörperchen stimuliert. Dieses Mittel ist auch zur Vorbeugung der sogenannten «Frühgeborenenanämie» entwickelt worden und heute dafür zugelassen.
Der andere Fall betrifft das Blutdruckmittel Dilatrend. In den internationalen Zulassungsstudien wurden auch jene Patienten eingeschlossen, die entsprechende Vorerkrankungen (Erleidung eines ersten Herzinfarkts) aufgewiesen haben. Patienten mit einem Herzinfarkt sind immer einem erhöhten Risiko ausgesetzt, wieder einen Herzinfarkt zu erleiden.
Auf die Frage möglicher strafrechtlicher Konsequenzen und Schadenersatzforderungen gingen Novartis und Roche nicht ein.
(chb/jev/sda)