Wer bin ich? Woher komme ich? Wo will ich hin? Diese existenziellen Fragen berühren die Grundfesten unseres Selbst und gehören für die Meisten ins Reich der Philosophie. Sollten sie aber nicht, schon gar nicht für Topmanager. Je höher die Hierarchiestufe, desto wichtiger wird nämlich die Person an sich. Das hat mit der Funktion des Managers zu tun. Weiter oben in der Pyramide treten Fachaufgaben in den Hintergrund, das Tagesgeschäft wird mehr und mehr zum «People Business».
Spitzenkräfte sollen darum als Mensch und als Führungspersönlichkeit überzeugen. Keine Stellenausschreibung lässt die weichen Faktoren aus: Integrität, Loyalität, Team- und Motivationsfähigkeit, gepaart mit Leaderqualitäten was immer man darunter verstehen mag. Unbestritten dürfte sein, dass, wer andere überzeugen will, als Erstes von sich selbst überzeugt sein muss. Nicht prahlerische Selbstüberschätzung oder Machogehabe sind damit gemeint, sondern die realistische Einschätzung der eigenen Person mit ihren Stärken und Schwächen, Wünschen, Zielen und Möglichkeiten.
Aber wer will sich schon der Nabelschau widmen, wo doch wichtige Sachaufgaben anstehen und Ergebnisse erwartet werden? Selbsterkenntnis verbessert das Geschäftsergebnis nicht, könnte man annehmen, und doch hängt beides eng zusammen: Der eigene Beitrag zum Erfolg des Unternehmens ist umso grösser, je besser man seine persönlichen Fähigkeiten und Stärken einsetzen kann und die der anderen, denn Erfolg ist Teamarbeit.
Die Fremdwahrnehmung schärfen
Lernen über sich selbst und die Arbeit an der eigenen Persönlichkeit sind ein Muss für alle, die ins Top-management wollen. Freiwillig tun es dennoch die wenigsten, davon können die Anbieter entsprechender Fortbildungen ein Lied singen. Das Nürnberger Zentrum für angewandte Psychologie (ZAP) beispielsweise führt seit Jahren in Kappel am Albis für Manager Wochenkurse durch, die zur Persönlichkeitsentwicklung beitragen.
In diesen so genannten Sensitivity Trainings erleben Topmanager die Wirkung ihrer im Tagesgeschäft erprobten Verhaltensweisen auf andere, ihnen zunächst unbekannte Gruppenmitglieder. Es geht bei diesem Lernkonzept darum, die Selbst- und Fremdwahrnehmung zu schärfen und Teilnehmer zu befähigen, eigene und fremde Verhaltensweisen subtil aufeinander abzustimmen Fähigkeiten, die für die tägliche Arbeit im Unternehmen äusserst nutzbringend sind. Wer was auf welcher Hierarchiestufe im wirklichen Leben macht, bleibt im Training zunächst aussen vor. Agiert wird im «Hier und Jetzt». Es geht einzig darum, was in der Gegenwart in der Trainingsgruppe passiert.
Lauter Fremde und keine Agenda zur Hilfe
Die zwölf Teilnehmer, diesmal neun Männer und drei Frauen, erhalten keinerlei Sachaufgabe. Die Moderatoren des Kurses praktizieren «gezielte Inaktivität» für so manchen aktionsgewohnten Macher schockierende Voraussetzungen, um fünf Tage mit einem Rudel Unbekannter zu verbringen.
Schon nach kurzem Schweigen machen die ersten ihrem Unmut Luft: Warum gibt es keine Agenda? Was ist unsere Aufgabe? Wen habe ich eigentlich vor mir? Die selbst initiierte Vorstellungsrunde fördert Gemeinsamkeiten zu Tage: Akademiker in Führungspositionen, einige mit Doktortitel, tätig im höheren Management internationaler Grosskonzerne. Und was treibt die Manager nach Kappel ins Haus der Stille? «Im Unternehmen ist es üblich, auf meiner Stufe diese Art der Fortbildung zur Persönlichkeitsentwicklung zu machen», erläutert Markus P., 38, Leiter eines Entwicklungsteams in einem Pharmakonzern. Pflichtprogramm ist der Kurs auch für die Meisten anderen hier. Weniger harmlos tönt es bei Andreas K., 43, Sanierer eines defizitären Bereichs in einer High-tech-Firma: «Die Leitung will Resultate sehen, ich muss Leute entlassen. Die Verbleibenden soll ich motivieren. Ich gebe ständig, aber es kommt nichts zurück. Die Führungskräfteentwicklung hat mir diesen Kurs empfohlen.»
Im Verlauf des Vormittags dämmert es der Runde, dass dieses Training drastisch anders ist als gängige Managementkurse. Das hier geht tiefer, Thema ist jeder und jede selbst. Unsicherheit wird spürbar, Angst und Bedrohung. Minutenlang herrscht betretenes Schweigen. Dann fassen die Ersten zaghaft Vertrauen, bieten das Du an, das schafft Nähe. Nach Tag eins kennt jeder alle Vornamen. Jetzt wird nachgefragt, wenn ein Teilnehmer etwas von sich erzählt, und es wird Anteil genommen.
Es geht ans Eingemachte
Doch es kommen auch unangenehme Dinge zum Vorschein. Es stört, dass Markus immer ins Wort fällt, und ein Teilnehmer sagt es ihm. Andere pflichten bei. Markus ist das nie aufgefallen. Niemand hat sich in der Firma je beschwert, seine Frau im Familienkreis schon, wie er kleinlaut zugibt. Zwei Teilnehmerinnen protestieren, als einer vom Typ Macher versucht, die Gruppe zu organisieren und «in den Griff» zu bekommen. Fassaden bröckeln, Ärger kocht hoch. Verschämt werden schwelende Konflikte umschifft, schliesslich will man nicht emotional werden.
Da schreitet die Moderatorin ein: «Sie sind wütend! Dann kommen Sie raus mit der Sprache! Was stört Sie denn genau an Ihrem Nachbarn?», will sie wissen. In der Runde wächst der Mut, ehrliches persönliches Feedback zu geben. Die Teilnehmer üben, Kritik auszuhalten, und lernen, wie man selbst unangenehme Botschaften mit Wertschätzung für den anderen überbringen kann.
An Tag drei geht es an die harten Themen wie Macht, Einfluss, Konkurrenz, das tägliche Brot im Management. Ungläubig muss Markus feststellen, dass ihm die sicher geglaubte Führungsposition in der Gruppe streitig gemacht wird. Dabei hatte er sich mächtig ins Zeug gelegt für die anderen, war immer als Erster mit einem Ratschlag zur Hand. Nun bekommt er Konkurrenz ausgerechnet von der Frau, die wie eine graue Maus wirkt.
Auch als Mensch überzeugen
Bis zum letzten Tag des Trainings geht es hoch her. So manche Träne fliesst, sogar bei den harten Männern, aber es wird auch gelacht. In der Schlussrunde ist sich die Gruppe einig: Sie sind ein starkes Team und wären bereit für grosse Sachaufgaben. Keiner hatte gedacht, dass das in einer Woche möglich wäre. Doch der Montag naht, und dann heisst es wieder, in der Firma seinen Mann oder seine Frau zu stehen. Da weht ein anderer Wind.
Was hat es also gebracht, an der eigenen Persönlichkeit zu arbeiten? Andreas K., der Sanierer, hat erfahren, dass er nicht beständig den starken Mann spielen und Fassade wahren muss. Viel authentischer wirkt es, seine negativen Gefühle zu zeigen, wenn es ihm einmal schlecht geht. Statt immer zu geben, konnte er so im Training Wohlwollen und Mitgefühl der anderen entgegennehmen und daraus Kraft schöpfen. Markus P., der Entwicklungschef, hat am Feedback der anderen gemerkt, dass weniger manchmal mehr ist. «Wenn ich nicht vorpresche und sofort für alles Verantwortung übernehme, werden die anderen aktiver und entlasten mich. So habe ich weniger Stress», erklärt er.
Noch ist er unsicher, was er in der Firma von dieser Fortbildung erzählen soll. Eine ganze Woche ohne Sachinhalte, festes Programm und Seminarordner, das wird auf Unverständnis stossen. Die Veränderung wird Markus' Team aber nicht verborgen bleiben. Wenn er beim nächsten Meeting zuhört und die Kollegen ausreden lässt, werden sie merken, dass sich etwas getan hat.
Eine einzige Woche hat aus keinem einen neuen Menschen gemacht. Trotzdem war es für die Manager ein starker Anstoss, an der eigenen Persönlichkeit zu arbeiten, um nicht nur fachlich, sondern auch als Mensch zu überzeugen.
Sensitivity Training: Auftauen und wieder einfrieren
Einzelcoaching und Supervision sind für Manager bewährte Instrumente, um persönlich weiterzukommen. Eine Möglicheit, bei geringer Zeitinvestition intensiv an sich zu arbeiten, bietet das Sensitivity Training. Diese gruppendynamische Methode wurde in den 50er-Jahren an der Universität von Kalifornien in Los Angeles entwickelt. Die einzelne Person und ihre Wirkung auf die Trainingsgruppe stehen im Mittelpunkt. Man befasst sich nicht mit vergangenen Vorkommnissen, etwa mit Kollegen am Arbeitsplatz, obwohl jeder seinen Rucksack an gewohnten Verhaltensweisen mitbringt.
Zentrale Prinzipien sind:
- Unfreezing: Bewusstwerden und Auftauen von rigiden, stereotypen Verhaltensweisen, die das Handlungsspektrum im Training, aber auch am Arbeitsplatz einschränken.
- Change: Wecken von Motivation für das Ausprobieren und Verändern eigener Einstellungen und Verhaltensweisen.
- Refreezing: Stabilisieren und «einfrieren» neuer Verhaltensweisen durch Anwendung in der Trainingsgruppe.
- Feedback: Differenzierte Rückmeldung der Wirkung des eigenen Verhaltens auf andere.
Die Persönlichkeitsentwicklung wird durch die Moderation unterstützt. Das Repertoire der Trainerinnen und Trainer reicht von gezielter Inaktivität über interpretierende Interventionen bis zur direkten Beteiligung durch Konfrontation und Unterstützung. (gv)