Bis ins Jahr 1959 führte die Schweiz eine sehr kluge Regionalpolitik. Es war eine Politik des Nichtstuns – ohne irgendwelchen Finanzausgleich. Das nützte allen, dem Zentrum wie der Peripherie. Klar gab es eine Schweiz der zwei Geschwindigkeiten, aber auch die Langsamkeit hatte durchaus ihren Reiz.
Die Berge und die Täler blieben unberührt. Genau das empfanden junge Leute, die in der Stadt wohnten und ihre Haare wachsen liessen, als attraktiv. Sie wurden zu «Aussteigern», die auf der Alp jene Abgeschiedenheit erleben durften, die es heute kaum mehr gibt, da Autobahnen über Pässe führen, Poststellen zu Menschenrechten erklärt werden, Bergbahnen und Schneekanonen als Mittel lokaler Wirtschaftsförderung verstanden werden. Selbstverständlich hatten einige Eingeborene – umgekehrt – die Nase voll von der Ruhe in den hintersten Tälern; aber diese Leute mussten nicht bleiben. Sie wanderten von den Bergen ins Mittelland, wechselten dort in Branchen mit hoher Produktivität, erzielten hohe Löhne und verhalfen der Schweizer Volkswirtschaft zu einzigartigen Wachstumsraten.
«Heute wird die Abwanderung leider völlig tabuisiert», meint der Basler Regionalökonom René L. Frey. «Dabei profitieren die meisten Städter davon, dass ihre Väter, Grossmütter und Urgrossväter diesen Schritt gewagt haben oder aus schierer Not machen mussten.»
Die moderne Schweiz leistet sich das Unmögliche – und macht beispielsweise das Städtchen Brig zum internationalen Eisenbahnverkehrsknotenpunkt. Diese Entwicklung ist fatal für alle. Aus dem Kanton Wallis wird kein Silicon Valley, und im Mittelland fehlt uns der Mut zur Urbanität, sodass in der Industriezone der Stadt Zürich der Bau eines Fussballstadions verhindert wird – mit Argumenten, die man ansonsten aus landwirtschaftlichen Zonen kennt («Schattenwurf»). Konsterniert stellen die beiden Stadion-Architekten Marcel Meili und Markus Peter im «Tages-Anzeiger» fest: «Man müsste in grösseren Zusammenhängen denken: Wo ist es sinnvoll, Ballungszentren zu schaffen? Wo sollen Freiräume bleiben?»
Überall auf der Welt boomen gewisse Regionen, während andere gleich nebenan wirtschaftlich zurückbleiben. Warum? Weil nicht überall gleich viele Menschen leben. Ballungsräume entfalten eine innere Dynamik, Wachstum erzeugt Wachstum. Ferne Landstriche jedoch, die lediglich dünn besiedelt sind, erweisen sich nirgendwo als sehr dynamisch.
Im Jahr 1959 wollte die Schweiz dieses ökonomische Naturgesetz politisch überlisten. Die Politiker führten zu diesem Zweck einen Finanzausgleich ein. Dieses System wurde im Laufe der Zeit immer komplizierter und immer teurer. Zurzeit pumpen die reichen Kantone pro Jahr 2,4 Milliarden Franken auf unendlich verschlungenen Wegen in die armen Kantone in den Alpen und im Jura – mit abstrusen Ergebnissen.
Die finanzschwachen Kantone tun nämlich, wozu sie durch den bisherigen Finanzausgleich angehalten werden. Um Gelder beim Bund abzuholen, muss ein Kanton bis anhin möglichst viel Geld ausgeben: Strassen bauen, Wälder aufforsten, Stipendien auszahlen, den SBB-Regionalverkehr fördern, Krankenkassenprämien verbilligen, Denkmäler pflegen. Je mehr Mittel ein finanzschwacher Kanton ausgibt, desto höhere Subventionen erhält er dank dem derzeit bestehenden Finanzausgleich von den reichen Kantonen.
«Eine Katastrophe», nennt der Basler Regionalökonom René L. Frey solche falschen Anreize.
Ob Uri, Jura oder Graubünden, in all diesen finanzschwachen und abgelegenen Regionen betragen die Ausgaben der Kantone und der Gemeinden pro Kopf und Jahr mehr als 15 000 Franken. Via Finanzausgleich wurde dieses Gebaren honoriert: Uri erhält pro Kopf 6800 Franken von der übrigen Schweiz, Jura pro Kopf 5500 Franken, der Kanton Graubünden pro Kopf 4200 Franken. Anders werden die sparsamen Kantone vom bisherigen Finanzausgleich behandelt – sie werden bestraft. Baselland, wo Kanton und Gemeinden pro Kopf nur 10 900 Franken ausgaben, bekam gerade 1200 Franken pro Kopf via Finanzausgleich und Bundesbeiträge überwiesen. Der Kanton Zürich erhielt pro Kopf ebenfalls nur 1600 Franken zurück, obschon er fast ein Viertel der gesamten direkten Bundessteuern abliefert.
Paradebeispiel für die Sinnlosigkeit der staatlichen Regionalförderung ist die A 16 mitten durch den ländlichen Jura. Bereits fertig ist der innerjurassische Teil Delsberg–Glovelier: vierspurig. Nun wird von Pruntrut durch die Ajoie bis zur Landesgrenze die nächste Etappe – bei noch schwächerem Verkehr – in ebenfalls vier Spuren gebaut. Der Höhepunkt der Humoreske besteht aber darin, dass die neue Superstrasse ganz offensichtlich in die falsche Richtung geht. Um aus der wirtschaftlichen Krise herauszukommen, wäre es gescheiter, der Jura würde sich nach Basel ausrichten, erkennt man nun im Jura selber. «Dringend wäre eine moderne Strasse Richtung Norden, nach Laufen», sagte Jacques Bloque, Chef der Sektion Wirtschaft der jurassischen Kantonsverwaltung, gegenüber dem «Tages-Anzeiger». Eine solche Kantonsstrasse kann sich der Jura jedoch nicht leisten; stattdessen bekommt er die A 16 «geschenkt», zu 94 Prozent vom Bund finanziert, die insgesamt 5,6 Milliarden kostet, aber der lokalen Wirtschaft kaum etwas nützen wird.
«Trotz beachtlichem Mitteleinsatz und dem entsprechenden administrativen Aufwand ist es nicht gelungen, die kantonalen Unterschiede bezüglich der finanziellen Leistungsfähigkeit zu verringern», heisst es selbstkritisch in der Botschaft der Landesregierung zum Neuen Finanzausgleich (NFA) zwischen Bund und Kantonen.
Was Italien im Mezzogiorno vordemonstriert, was Deutschland in der ehemaligen DDR seit 1989 erlebt, solche Erfahrungen macht die Schweiz im etwas kleineren Rahmen seit 1959: Eine Nationalstrasse über eine Passhöhe löst noch kein Wirtschaftswunder aus. Mit Subventionen allein ist in Uri, im Jura, in Graubünden, in Obwalden oder im Kanton Wallis kein Staat zu machen. Mit dem Wort «sozial» sind diese Transfers auch nicht zu rechtfertigen. «Warum sollte der Zürcher Arbeiter den Berner Millionär unterstützen?», fragt der Freiburger Ökonomieprofessor Henner Kleinewefers und antwortet: «Das ist aber das Ergebnis, wenn man die Umverteilungsgiesskanne per saldo in Zürich füllt und über Bern ausleert.»
Die Entwicklungspolitik der Schweiz in den Alpen ist grandios gescheitert. Die bergigen Kantone im Zentrum und die hügeligen Kantone Jura und Neuenburg im Westen, direkt verbunden durch den grossen Kanton Bern, sind bis zum heutigen Tage «die zwei grossen Problemgebiete der Schweiz» (Kleinewefers) geblieben, trotz dem milliardenteuren Finanzausgleich. Die Nebenwirkungen dieser Politik aber sind äusserst unangenehm: Es gibt ein paar wenige «Zugpferde» (Kleinewefers), nämlich Zürich und Zug, dann auch die Kantone Basel-Stadt und Baselland, während Genf und die Waadt lediglich ganz knapp dazuzuzählen seien, und diese wenigen Zugpferde würden vom grossen Rest der Nehmerkantone ausgebremst. Der bisherige Finanzausgleich nützt also nicht nur nichts, er schadet sogar.
Die Kosten dieser ernüchternden Politik lassen sich auflisten: Sie summieren sich auf sieben Milliarden. Der bisherige Finanzausgleich kostet 2,4 Milliarden Franken. Zusätzlich unterstützt der Bund die abgelegenen Regionen auch sonst – durch den ganz normalen Haushalt. Die vier Milliarden Franken, die insgesamt in die Landwirtschaft fliessen, sollen ja speziell ländliche und bergige Regionen unterstützen. Zusätzlich hat der Bund seine Waffenfabriken ins Oberland verlegt, oder er beehrt von jeher mit WK-Übungen praktisch alle abgelegenen Weiler. Auch vom Sondersatz in der Mehrwertsteuer für die Hotellerie profitiert der Alpenraum «viel stärker als die übrige Schweiz», wie eine Nationalfondsstudie des Büros Ecoplan darlegt. Das Gleiche gilt für die ganze Tourismusförderung. Die offizielle «Regionalpolitik» des Bundes kostet im Moment noch ungefähr 70 Millionen Franken im Jahr, ebenfalls ohne messbare Erfolge.
Nicht vergessen darf man den ominösen Service public. Unter diesem Stichwort sorgt eine Koalition aus Gewerkschaften und bürgerlichen Politikern in den Randregionen dafür, dass Arbeitsplätze schön verteilt im gesamten Land künstlich erhalten werden. Im Strommarkt beträgt die Monopolrente, welche die staatlichen Kraftwerke heute insbesondere in den Zentren abschöpfen, 815 Millionen Franken pro Jahr. Diese Summe berechnet der private Energieberater Werner Geiger, der alle Schweizer Tarife sammelt und diese mit den Daten der EU vergleicht. Ein schöner Teil dieser Gelder fliesst in die Bergkantone, die dank den Staudämmen der Elektrizitätswirtschaft quersubventioniert werden, und zwar massiv: Uri bezieht 22 Prozent seiner gesamten Steuereinnahmen aus Wasserzinsen, der Kanton Graubünden 16 Prozent und auch das Wallis noch beachtliche 12 Prozent, wie eine neue Studie von Silvia Banfi zeigt. «Alpen-Opec» nennt man dies im Volksmund treffend.
Auch von jeder Briefmarke bleibt etwas in den Randregionen kleben, solange ein A-Post-Brief von Basel nach Basel genau gleich viel kostet wie von Basel nach Lü GR auf 1920 Metern über Meer. Selbst die hoch subventionierten SBB-Kunden leisten einen kleinen Obolus zu Gunsten der Randregionen: für die viel befahrene Strecke Zürich–Bern müssen sie vier Franken mehr zahlen als für die wenig befahrene Strecke Lausanne–Brig, obschon beide Verbindungen exakt gleich lang sind. «In der Schweiz gibt es keine Politik, die nicht Regionalpolitik ist», lautet ein Bonmot von Peter Siegenthaler, Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung, der gleichzeitig auch zum kleinen Zirkel von Insidern gehört, die diese fintenreichen Mechanismen überhaupt durchschauen.
Rechnet man alle Transfers zusammen, ergibt sich eine Summe von ungefähr sieben Milliarden Franken jährlich, mit der die Schweiz ihre abgelegenen Regionen fördert. Doch das ist erst der Anfang. Jetzt soll der Neue Finanzausgleich, dessen Vorarbeiten beinahe zehn Jahre gedauert haben, «neuen Schub für das Erfolgssystem Schweiz» bringen, wie es der geistige Vater des NFA, der damalige freisinnige Bundesrat Kaspar Villiger formuliert hat.
Die Volksabstimmung dazu findet am 28. November statt. Tatsächlich bringt der NFA einen grossen Vorteil: Der bisher so törichte Mechanismus, der die finanzschwachen Kantone zu zusätzlichen Ausgaben antrieb, würde abgeschafft. Endlich. Der NFA ist intelligenter, viel intelligenter sogar. Das attestiert auch der zurücktretende Zürcher Finanzdirektor Christian Huber, der das gesamte Unterfangen kritisch begleitet hat. Just das lobt auch Professor René L. Frey: «Mit aller Deutlichkeit muss darauf hingewiesen werden, dass bei den Subventionen sämtliche Abstufungen nach der Finanzkraft der Kantone beseitigt werden.» Kommt der NFA durch die Volksabstimmung, erhalten die Kantone das Geld ohne jede Bedingung. Und dürfen selber und frei entscheiden, was sie mit den geschenkten Mitteln anstellen wollen. Sie können zum Beispiel auch Steuern senken.
Freilich fällt der Neue Finanzausgleich nicht nur intelligenter aus, sondern auch massiver. Bislang wurden 2,4 Milliarden Franken zu Gunsten der finanzschwachen Kantone umverteilt, auf leider unglaublich dumme Art. Mit dem Neuen Finanzausgleich kommt nun der nächste Kostenschub. Ab dem Jahr 2007 wird eine volle Milliarde zusätzlich, nämlich 3,4 Milliarden Franken, in die finanzschwachen Kantone gepumpt.
Dabei müsste die Schweiz genau das Gegenteil tun: Die abgelegenen Regionen sollen abgelegene Regionen bleiben, die Schweiz könnte aus ihren Alpen ein einziges Naturreservat machen – und sie würde zu einer Attraktion des globalen sanften Tourismus. Wie das geht? Ganz einfach: Wir müssten den Mut haben zu einer Politik des Nichtstuns, die heutigen Landwirtschaftssubventionen massiv zurückfahren und den NFA, falls er im November durch die Abstimmung kommt, nachträglich massiv in seinem Volumen stutzen. Dann käme ganz automatisch eine wundervolle Entwicklung in Gang. Ganze Regionen würden zur Wildnis, sie würden verganden.
Das muss keineswegs ein Schreckensszenario sein. Der ETH-Pflanzenbiologe Peter Stamp, ein Bauernsohn, warnt zwar im «Magazin»: «Die Vergandung ist nur in erster Phase attraktiv, wenn der Wacholder, kleine Sträucher und Föhren nachwachsen. Aber in vierzig oder fünfzig Jahren wird aus diesen unbewirtschafteten Flächen Wald werden, der kaum mehr begehbar und laut Waldgesetz auch nicht mehr rodbar ist. Dann bleiben die Touristen weg.» Also müsste die Schweiz ganz einfach einen Bruchteil der heutigen Landwirtschaftssubventionen in Trekking-Pfade investieren, damit aus dem Schweizer Alpenraum ein teilweise begehbarer Urwald wird.
Hiesige Naturschützer erkennen die Chance. Es sei zwar nicht die Idee, die Menschen aus den Tälern zu vertreiben. «Doch wer gehen will, den soll man nicht um jeden Preis zurückhalten», sprach Rico Kessler von Pro Natura neulich an einer Pressekonferenz über die Neue Regionalpolitik des Bundes. Neben Kessler sass der WWF-Vertreter Andreas Weissen und meinte seelenruhig, er könne sich durchaus vorstellen, einige Alpentäler der Wildnis zu überlassen. Dazu nickte Dominik Siegrist, der Präsident der Internationalen Alpenschutzkommission (Cipra): «In der heutigen Schweiz fehlt es ja weitgehend an grösseren siedlungsfreien Gebieten.»
Literatur zum Thema
- Henner Kleinewefers: Zur Entwicklungsdynamik der schweizerischen Kantone, Seminar für Wirtschafts- und Sozialpolitik der Universität Freiburg, 2004. Als PDF unter: www.unifr.ch/wipol
- Ecoplan: Zahlen die Agglomerationen für die Alpen? Schlussbericht im Nationalen Forschungsprogramm 48, Bern, 2004. Als PDF unter: www.ecoplan.ch
- Silvia Banfi et al.: Die Bedeutung der Wasserzinse in der Schweiz, VDF Hochschulverlag an der ETH Zürich, 2004
- Alain Thierstein et al.: Räumliche Unterschiede der Steuerbelastung und regionale Wettbewerbsfähigkeit, Rorep, 2003
BILANZ-Serie: Irrtümer der Wirtschaftspolitik
- Irrtum Nr. 1: Die Ausländer nehmen uns die Jobs weg (BILANZ 3/2004)
- Irrtum Nr. 2: Der Staat fördert das Wohneigentum (BILANZ 4/2004)
- Irrtum Nr. 3: Die Inflation muss null Prozent betragen (BILANZ 5/2004)
- Irrtum Nr. 4: Die Sozialhilfe belohnt das Nichtstun (BILANZ 6/2004)
- Irrtum Nr. 5: Freie Fahrt für freie Bürger (BILANZ 7/2004)
- Irrtum Nr. 6: Unser Bildungswesen ist das beste der Welt (BILANZ 8/2004)
- Irrtum Nr. 7: Eigene Kinder sind Privatsache (BILANZ 9/2004)
- Irrtum Nr. 8: Das Volk verhindert die Reformen (BILANZ 10/2004)