Als George A. Akerlof am 8. Dezember 2001 in Stockholm den Nobelpreis für Nationalökonomie entgegennehmen durfte, geschah, was im globalen Kreis der führenden Volkswirtschaftler selten vorkommt. Mitten in seiner Vorlesung kam der US-Amerikaner auf die kleine Schweiz zu sprechen. Um zu zeigen, dass «keine Inflation» keine gute Lösung sei. Wörtlich sagte Akerlof: «Sinkt eine tiefe Inflation von etwa zwei Prozent dauerhaft gegen null Prozent, erhöht sich die Arbeitslosigkeit um zwei Prozent.»
Da die meisten seiner Zuhörer bis dahin Preisstabilität als das A und O der Wirtschaftspolitik betrachtet hatten, war dies ein kleiner Schock. Wie in aller Welt konnte der frischgebackene Nobelpreisträger so etwas behaupten? Antwort: Indem er auf das einzige Land verwies, in dem seit einem Jahrzehnt Nullinflation herrscht, also auf die Schweiz. Sogleich nannte Akerlof eine damals noch nicht publizierte Studie der Universität Zürich, die bis jetzt nur im Internet zu lesen ist und bis heute kaum zur Kenntnis genommen wird.
Das könnte sich ändern. Demnächst wird der Artikel von Professor Ernst Fehr und seinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Lorenz Götte in der Bibel der Monetaristen, der amerikanischen Zeitschrift «Journal of Monetary Economics», abgedruckt.
George A. Akerlof, Professor an der Berkeley University of California, Ernst Fehr, Professor an der Universität Zürich, und sein Forscher Lorenz Götte – diese drei Ökonomen befassen sich nicht mit Ökonomie allein, sondern sie haben auch viel für Psychologie übrig. Dies ist kein Zufall. Schliesslich hat «keine Inflation» eine doppelte Wirkung – eine ökonomische und eine psychologische.
Offiziell verlangt Artikel 5 des Nationalbankgesetzes: «Die Nationalbank gewährt die Preisstabilität.» Was unter der Chiffre «Preisstabilität» zu verstehen ist, wird von den Herren der Nationalbank halbjährlich vor der Presse von neuem bekräftigt: eine Inflationsrate von «weniger als zwei Prozent». Dieses Ziel wurde in den letzten zehn Jahren erreicht, ohne jede Ausnahme; achtmal betrug die Inflation sogar weniger als ein Prozent. Hier zu Lande ist die Preisstabilität nicht nur nach dem Gesetz, sondern auch in der Praxis garantiert.
Im Ausland gibt man sich lockerer. Nähme man die Schweizer Standards zum Massstab, fielen sämtliche Zentralbanken durch. In den USA hätte die Federal Reserve Bank (Fed) das Schweizer Ziel in den letzten zehn Jahren nur gerade zweimal erreicht. In sieben Jahren lag die Inflation zwischen 2 und 3 Prozent, einmal bei 3,4 Prozent.
Eine ähnliche Politik verfolgten auch europäische Länder, die mit der Schweiz vergleichbar sind, etwa Dänemark oder Holland. Nirgendwo kam es zu inflationären Exzessen, überall herrschte «Preisstabilität», allerdings mit Teuerungsraten zwischen zwei und drei Prozent.
Was hat die Schweiz davon, international als Musterschülerin dazustehen? Zieht man den härtesten Indikator heran, das Wachstum des realen Bruttoinlandprodukts (BIP), wird das Bild düster. Die Inflation war nahe null, das Wachstum leider ebenfalls. Länder wie Dänemark, Holland oder die Vereinigten Staaten, die eine moderate Teuerung zuliessen, erreichten dagegen ein moderates Wachstum.
Österreich liegt zwischen diesen Ländern, sowohl bei der Inflation wie auch beim Wirtschaftswachstum. In Irland ist beides hochgeschnellt, während in Japan infolge der Rezession die Teuerungsraten in letzter Zeit sogar unter null gesunken sind.
Konkret präsentieren sich die Zahlen von 1994 bis 2003 so:
Rein statistisch ist das Bild so verblüffend klar, dass sich die Frage geradezu aufdrängt: Gibt es etwa einen Zusammenhang zwischen «keiner Inflation» und «keinem Wirtschaftswachstum»? Für Ökonomen, die auch auf Psychologie abstellen, ist die Antwort ein Ja.
Bahnbrechend war die Babysitter-Kontroverse, dargestellt vom Ehepaar Joan und Richard Sweeney. Die beiden gründeten eine Babysitter-Kooperative am Campus von Capitol Hill, die nach einem Couponsystem funktionierte. Alle Mitglieder erhielten Coupons. Brauchte ein Paar einen Babysitter, bezahlte es mit einem Coupon. Die Empfänger wiederum konnten sich mit dem erhaltenen Coupon ihrerseits einen Babysitter leisten. Ein scheinbar narrensicheres System, das alle gleich behandelt: Jedes Paar musste, um etwas zu erhalten, selber etwas leisten.
Nach einiger Zeit wurden die Coupons knapp. Immer mehr Paare versuchten, ihre Reserven an Coupons aufzustocken, blieben deswegen daheim sitzen, wollten zunächst neue Coupons verdienen, bevor sie wieder ausgingen. Wirtschaftlich gesprochen: Die Babysitter-Kooperative war in eine Rezession geraten.
Wie wurde das Problem gelöst? Indem einige zusätzliche Coupons in Umlauf gebracht wurden. Das Resultat war frappierend: Die Bereitschaft zum Ausgehen nahm zu, die Gelegenheiten zum Babysitten häuften sich, das BBP – das Brutto-Babysitting-Produkt der Kooperative – stieg an. Natürlich stiess auch diese Lösung an eine obere Grenze. Bald wurden so viele Coupons in Umlauf gesetzt, dass niemand mehr Kinder hüten wollte. Es kam, wieder wirtschaftlich gesprochen, zur Inflation.
Dieser zweite Teil der Geschichte ist unter Ökonomen heute Allgemeingut. 1958 veröffentlichte A.W. Phillips eine Theorie, die seither unter dem Titel «Phillips-Kurve» segelt und vor allem von Politikern gierig aufgenommen wurde. «Lieber ein bisschen mehr Inflation zulassen und dafür etwas weniger Arbeitslosigkeit», lautete deren Devise. Mit fatalen Folgen. Am Ende haben sich diese Politiker beides eingehandelt: Inflation und Arbeitslosigkeit.
Die Psychologen unter den Ökonomen interessieren sich heute aber eher für den ersten Teil der Babysitter-Geschichte. Offenbar braucht es ein gewisses Minimum an Coupons (also Geld), damit die Leute Vertrauen finden und sich vernünftig verhalten.
Genau gleich ist es in einer Volkswirtschaft. Damit ihr Räderwerk laufen kann, muss es laufend frisch geölt werden. Null Prozent Inflation wirkt, wie wenn unter Babysittern zu wenig Coupons im Umlauf sind: hemmend. Angst geht um, die Angst, einen Verlust zu erleiden. «Ein Verlust schmerzt deutlich mehr als ein gleich grosser Gewinn», sagt Daniel Kahneman, Nobelpreisträger 2002. Sagt George A. Akerlof, Nobelpreisträger 2001. Sagen die beiden Zürcher Ernst Fehr und Lorenz Götte.
Konkret fürchten die Leute, sobald die Inflation gegen null sinkt, dass ihr eigener Lohn sinken könnte. Das wäre nichts als normal. Null Inflation heisst ja nicht, dass alle Preise konstant sind. Zum Beispiel steigen die A-Post-Briefe von 90 Rappen auf einen Franken, während die Fleischpreise leicht fallen, was sich im Durchschnitt ausgleicht. Genau gleich ist es bei den Löhnen. In Branchen, die boomen, steigen die Löhne trotzdem – auch bei null Prozent Inflation. Folglich müssten die Löhne in den andern Branchen, in denen die Geschäfte harzig laufen, fallen. Doch genau dies tun Löhne nicht.
«Die Löhne sind gegen unten starr», so Ernst Fehr und Lorenz Götte. Sie haben interne Daten von Firmen ausgewertet, mit Personalchefs diskutiert, alle volkswirtschaftlichen Daten analysiert. Resultat: Trotz der anhaltenden Inflation von nahezu null Prozent kam es selbst in Firmen, die in Schwierigkeiten gerieten, praktisch nie zu Lohnsenkungen. Die Personalchefs hätten immer dasselbe geantwortet: «Wenn wir die Löhne kürzen, sinkt auch die Motivation.» So ein Schritt würde als unfair angesehen. Manche Chefs fürchteten sich gar vor «Sabotage» und andern Racheaktionen.
Dieses Resultat hat George A. Akerlof vermutet. Er formuliert jeweils eine Alternative und fragt gern: Was akzeptieren die Leute eher,
a) zwei Prozent mehr Lohn bei fünf Prozent Inflation oder
b) drei Prozent weniger Lohn bei null Inflation?
Antwort: Für Ökonomen, die an das Rationale im Menschen glauben, sind diese zwei Varianten identisch. Beide Male sinkt der Reallohn um drei Prozent. Darum sei beides dasselbe.
Dies ist allerdings eine weltfremde Sicht. Variante a) ist kein Problem. In Zeiten und Ländern mit einer moderaten Inflation können Firmen, die es nötig haben, die Reallöhne tatsächlich kürzen.
Anders die Variante b). Sie kommt in der Realität nämlich gar nicht vor, wie Akerlof theoretisch erwartet hat und wie Fehr und Götte mit Schweizer Daten nun praktisch zeigen können. Herrscht null Prozent Inflation, will kein Chef seinen Mitarbeitern den Lohn senken, weil der Lohn dann ja auch in Franken reduziert werden müsste; im Notfall entlässt ein Chef seine Mitarbeiter lieber. Der volkswirtschaftliche Effekt dieser Firmenpolitik ist verheerend: Da die Nominallöhne gegen unten starr sind, funktioniert der Arbeitsmarkt nicht mehr richtig, sobald die Inflation gegen null sinkt. Es entsteht Arbeitslosigkeit.
«Die Gefahren einer Geldpolitik, die ausschliesslich die Inflationsbekämpfung im Blick hat, sind keineswegs theoretischer Natur», schreibt Joseph E. Stiglitz, der 2001 zusammen mit George A. Akerlof den Nobelpreis erhielt. In seinem neuesten Buch, «Roaring Nineties», lobt sich Stiglitz dafür, dass er sich als oberster Berater von US-Präsident Bill Clinton gegen die «Inflationsfalken» durchgesetzt habe. Die genügend lockere Geldpolitik sei nicht nur für die Arbeitslosen, sondern auch für die sozial schwachen Gruppen «ein unerhörter Segen» gewesen. «Sie reduzierte die Zahl der Sozialhilfeempfänger stärker, als es auf irgendeine andere Weise möglich gewesen wäre.»
In dasselbe Horn bläst Paul Krugman, als Kolumnist der «New York Times» zurzeit der populärste Ökonom. Sein Rezept: «Man setze sich als Ziel eine relativ niedrige, realistische Inflationsrate von beispielsweise drei oder vier, doch keinesfalls von null Prozent.»
Frage an den Zürcher Professor Ernst Fehr: «Wie viel Inflation wäre gut für die Schweiz?»
Antwort: «Zwei bis drei Prozent wären nicht schlecht.»
Nachfrage: «Was heisst das für die Schweizer Geldpolitik, die sich an einem Ziel unter zwei Prozent orientiert?»
Antwort: «Die Politik sollte der Nationalbank ein Inflationsziel von zwei bis drei Prozent vorgeben. Das wäre sinnvoll. Weniger als zwei Prozent sind schädlich, und mehr als drei Prozent sind auch nicht gut.»
Niemand will Inflation. Inflation verzerrt die Preise, gibt falsche Signale, begünstig die Schuldner, ist letztlich unsozial. Aber muss die Nationalbank deshalb dem Land eine Art Entzug verordnen wie bei einem schweren Alkoholiker? «Ein Schluck vom Nektar der Inflation genügt, und man wird süchtig», erzählen sich die Herren im Innern der Nationalbank, ohne jedes Gespür für die Psychologie der Märkte.
Das Resultat dieser Politik tritt offen zu Tage. Null Prozent Inflation – zumal in Zeiten, in denen die Krankenkassen aufschlagen und auch die Pensionskassen immer höhere Prämien verlangen – bedeutet ein sinkendes verfügbares Einkommen. Einen Verlust. Mit fatalen Folgen. Lorenz Götte formuliert analog zu George A. Akerlof eine Alternative und fragt rhetorisch: Was akzeptieren die Leute eher,
a) eine Krankenkassenerhöhung um 50 Franken im Monat bei gleichem Lohn und null Prozent Teuerung oder
b) eine Krankenkassenerhöhung um 51 Franken im Monat bei zwei Prozent mehr Lohn und zwei Prozent Teuerung?
Die Nationalbank jedoch hält an ihrer fixen Politik fest. Offiziell lautet ihr Inflationsziel «weniger als zwei Prozent». In der Praxis wurde daraus weniger als ein Prozent, was vermutlich sogar aus Sicht der Nationalbank etwas gar tief war. Gemäss eigener Einschätzung ist sie darum «in den letzten zwei Jahren zu einer stark expansiven Politik übergegangen», behauptet ihr Präsident Jean-Pierre Roth. Und bekommt es bereits mit der Angst zu tun: «Die Inflationsprognose zeigt, dass die Inflation bei unveränderter Geldpolitik ab Mitte 2005 trendartig anzusteigen droht. Sie erreicht Mitte 2005 einen Wert von einem Prozent, Mitte 2006 von zwei Prozent und gegen Ende 2006 einen Wert von drei Prozent.» Das Wörtchen «droht» deutet an: Die Nationalbank wird dieses «trendartige Ansteigen» kaum zulassen – leider.
Eine gänzlich andere Sicht der Dinge berichtet uns Akerlofs Nobelpreiskollege Joseph Stiglitz aus den USA: «Eine der grundlegenden Erkenntnisse der modernen Volkswirtschaftslehre lautet, dass Wachstum Wachstum erzeugt. Wenn die Wirtschaft heute wächst, dann wird sie vermutlich auch im nächsten und im übernächsten Jahr wachsen.»
Literatur zum Thema:
- George A. Akerlof: Behavioral Macroeconomics and Macroeconomic Behavior. Prize Lecture, December 8, 2001, als PDF-Datei unter
www.nobel.se/economics/laureates/2001/akerlof-lecture.html. - Ernst Fehr, Lorenz Götte: Robustness and Real Consequences of Nominal Wages Rigidity. Demnächst im «Journal of Monetary Economics», als PDF-Datei unter www.iew.unizh.ch.
- Ernst Fehr, Gerhard Schwarz: Psychologische Grundlagen der Ökonomie. NZZ Buchverlag, Zürich 2003.
- Paul Krugman: Schmalspurökonomie. Campus Verlag, Frankfurt 2000.
- Joseph E. Stiglitz: Die Roaring Nineties. Siedler Verlag, Berlin 2004.
BILANZ-Serie: Irrtümer der Wirtschaftspolitik Bisher erschienen sind:
- «Irrtum Nr. 1: Die Ausländer nehmen uns die Jobs weg» (BILANZ 3/2004)
- «Irrtum Nr. 2: Der Staat fördert das Wohneigentum» (BILANZ 4/2004).