Die rote Herzstromlinie pulsiert über das quadratische Display am Handgelenk. Der Countdown läuft: zwei, eins, null. Für 30 Sekunden misst die Apple Watch den Herzschlag ihres Trägers und protokolliert das EKG. Dann ein Ergebnis. Wenn es schlecht läuft: Vorhofflimmern. Das ist die häufigste Herzrhythmusstörung. Selten wird sie frühzeitig diagnostiziert. Allein in der Schweiz sind mehr als 80 000 Menschen davon betroffen. Vorhofflimmern selbst ist selten gefährlich, kann aber schwere Folgen nach sich ziehen, etwa einen Hirnschlag. Die Apple Watch will Nutzern mit der EKG-Funktion die Chance geben, einen unregelmässigen Herzrhythmus zu bemerken und zum Arzt zu gehen, bevor Schlimmeres passiert.
Eine Smartwatch warnt vor möglichen Krankheitssymptomen – damit hat Apple im Herbst Neuland betreten. Die Apple Watch wurde vom Fitnesstracker zum Medtech-Gerät. Konzernchef Tim Cook sagte kürzlich in einem Interview mit CNBC, er erwarte, dass Apples grösster Beitrag zur Menschheitsgeschichte im medizinischen Bereich liegen werde. Derzeit jedenfalls dringt der iPhone-Hersteller in einen Bereich vor, auf den sich viele Begehrlichkeiten richten: schlaue Uhren, Smartphones und Fitnesstracker verheissen, per Datentracking Volksleiden besser zu protokollieren oder sie sogar zu diagnostizieren. Für die Nutzer heisst das, sie können Risiken unkompliziert über die Geräte erkennen, die ihnen vertraut sind. Für die Hersteller steckt dahinter Blockbuster-Potenzial. Datendienstleister Statista erwartet bis 2020 eine Steigerung auf gut 200 Milliarden Dollar Jahresumsatz im Healthtech-Bereich. Das entspräche einer Verdoppelung innert vier Jahren.
Disruption durch Tech-Konzerne
Wenig erstaunlich also, dass Gesundheitsanwendungen für Hersteller von Smartphones und Smartwatches interessant sind. Und sie bringen die notwendigen finanziellen Ressourcen mit. «Ich rechne damit, dass ein grosses Tech-Unternehmen in zwei bis fünf Jahren disruptiv in den Healthtech-Sektor vordringt», sagt Bernd Maisenhölder, Marketingleiter bei Iftest. Das Unternehmen mit Standort in Wettingen liefert Smartwatch-Elektronik für renommierte Schweizer Brands und grosse ausländische Hersteller. Er ist überzeugt: «Pharmafirmen müssen ein Stück weit den Druck der Tech-Firmen fürchten.»
Im Fokus der Anbieter stehen weitverbreitete Gebrechen wie Herzkreislauferkrankungen und Stoffwechselleiden wie Diabetes. Auch das Zyklustracking ist ein Bereich, der boomt, wie der Erfolg des smarten Armbandes von Ava Women zeigt; ebenso die Entwicklung smarter Hörhilfen. Lifestyle-Anwendungen und Medizinprodukte liegen hier oft nah beieinander. Das Schweizer Startup Biovotion zum Beispiel bietet sein «Spital am Oberarm», einen Herzrhythmus-Tracker, in zwei Varianten an: als Fitnessversion und als zertifiziertes Medizinprodukt. Das Unternehmen, so heisst es in der Selbstbeschreibung, will den «Gesundheitssektor auf den Endverbraucher ausrichten».
Auch Pharmariesen wie Roche und Novartis haben die Entwicklung von Healthtech-Gadgets auf der Agenda. Novartis baut ein Startup-Zentrum namens Biome in San Francisco auf. «Man spürt, dass grosse Veränderungen auf uns zukommen», sagte Novartis-Digitalchef Betrand Dodson kürzlich in einem Interview mit der «Handelszeitung». «Daten, Forschung und Technologie finden zueinander.»
Roche investiert kräftig in die Digitalisierung, etwa mit dem Milliardenzukauf von Datenspezialist Flatiron, der digitale Patientenakten für Krebskranke entwickelt hat. Im Fokusgeschäft Onkologie spielt auch die Software-Entwicklung eine wichtige Rolle. Im Herbst präsentierte das Unternehmen das cloudbasierte Tumor-Board Navify. Mit dessen Hilfe können Ärzte umfangreiche Daten von Krebserkrankungen sondieren und auswerten, um für Patientinnen und Patienten die wirksamste Behandlung herauszufiltern.
Apps im Portfolio von Roche
Roche geht auch den Schritt auf das Handy und die Smartwatch. Das Unternehmen arbeitet mit Floodlight für Multiple-Sklerose-Patienten und einer ähnlichen Lösung für Parkinson an zwei Apps, die bei neurologischen Krankheiten helfen sollen. Beide Anwendungen befinden sich im Teststadium, sind damit erst für ausgewählte Patienten auf wenigen Android-Smartphones verfügbar. Die Apps richten sich nicht direkt an den Patienten, sondern werden über das medizinische Fachpersonal vermittelt. Dennoch wäre für Roche interessant, durch Zusammenarbeit etwa mit Samsung und Apple die Verbreitung und die Möglichkeiten der Datenanalyse deutlich auszuweiten (siehe Interview unten).
Egal, wer der Anbieter eines Gadgets oder einer App ist, für alle Hersteller in Europa gilt: Sobald sie das Versprechen eines medizinischen Nutzens abgeben, zählt ihr Gerät als Medizinprodukt und muss entsprechend von einer sogenannten Benannten Stelle zertifiziert werden. Hinter dieser lapidaren Wahrheit verbergen sich die wahren Probleme für den Healthtech-Boom in Europa. Das belegt das Beispiel Apple Watch: Die EKG-Funktion ist in den USA durch die Aufsichtsbehörde Food and Drug Administration (FDA) als Medizinprodukt der Klasse II – mit moderatem Risiko – genehmigt. In der Schweiz und in Europa ist die Funktion aber noch nicht zertifiziert.
Hier zeigt sich ein grundlegender Unterschied: Die US-Aufsichtsbehörde FDA möchte Tech-Konzerne unterstützen, wenn sie Gesundheitsfunktionen lancieren. In Europa und der Schweiz dagegen verschärft sich gerade die Regulierung mit der Einführung der neuen Medizinprodukteverordnung (MDR), die ab Mai 2020 verbindlich für alle Anbieter gilt. Zur Lancierung der Apple Watch schrieb die FDA im September 2018: «Wir erleben, wie die Gesundheitsfürsorge neu erfunden wird.» Dank mobilen Technologien bekämen Nutzer mehr Kontrolle über ihre Gesundheitsdaten denn je zuvor – und könnten besser informiert Entscheidungen treffen. Diese Möglichkeiten würden von Firmen unterstützt, die neu im Pharmasektor seien «und noch nicht daran gewöhnt sein mögen, mit den regulatorischen Anforderungen umzugehen». Apple sei hier das beste Beispiel. Diese Neuerungen erforderten flexible Lösungen.
Regulatoren in der Schweiz und den USA gehen getrennte Wege
In der Schweiz und Europa dagegen gilt ab kommendem Jahr die Verordnung, die gerade Software und Apps strenger zertifiziert als bisher. «Mit der MDR fallen viele Medizinprodukte neu in eine höhere Risikoklasse, die eine CE-Zertifizierung mit Beteiligung einer Benannten Stelle notwendig macht», sagt Daniel Taddeo, Mitglied der erweiterten Geschäftsleitung von SQS. Die Schweizerische Vereinigung für Qualität- und Managementsysteme ist eine von zwei Benannten Stellen in der Schweiz, die Medizinprodukte zertifiziert. Die erhöhte Risikoklasse bedeutet: Bisher konnten sich viele Medizinprodukte als Produkt der Klasse I einsortieren. Es war damit nicht nötig, dass eine Benannte Stelle das Gerät oder die Software zertifizierte. Jetzt ändert sich das – was für Hersteller einen langwierigen Prozess bedeutet, der im günstigen Fall Monate, im schlechtesten Fall mehrere Jahre dauern kann.
Viele Branchenstimmen warnen davor, dass die erneuerte MDR Innovation ausbremse. Hier bestehe ein Spannungsfeld, sagt Karin Schulze. «Zum einen existiert ein Wettbewerb zwischen den Standorten. Europa und die Schweiz möchten für Pharma- und Healthtech-Firmen attraktiv bleiben, also auch nicht zu viele bürokratische Hürden errichten. Anderseits liegt es in der Verantwortung der Regulatoren und zuständigen Behörden der jeweiligen Standorte, die Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit der Produkte zu gewährleisten.» Karin Schulze leitet den Bereich Regulatory Affairs und Medical Devices bei SFL. Die Agentur unterstützt Pharma- und Medtech-Firmen im Genehmigungsprozess von Medizinprodukten.
Ein weiterer Faktor wirkt sich negativ aus: Ausgerechnet jetzt, wo absehbar wird, dass künftig deutlich mehr Produkte ein CE-Zertifikat benötigen, verschwinden viele Prüfstellen. «Die Zahl der Benannten Stellen schrumpft, weil die Anforderungen zunehmend steigen und das Geschäft weniger lukrativ wird», sagt Daniel Taddeo. Dazu komme, dass die Zeit für die Umsetzung der MDR äusserst knapp sei: «In ganz Europa ist noch keine Benannte Stelle eingesetzt, die nach MDR zertifizieren darf.»
Damoklesschwert über Schweizer Medtech-Herstellern
Auf der positiven Seite steht, dass Patienten und Verbraucher darauf vertrauen können, dass Medizinprodukte mit CE-Zertifikat in der Schweiz und Europa dem aktuellen technologischen Standard genügen und dass ihre medizinische Wirksamkeit nachgewiesen ist. Grosskonzerne wie Apple dürften die Kosten, die mit der langwierigen Prüfung verbunden sind, auch nicht schrecken. Der iPhone-Hersteller gab vergangenen Herbst bereits zu Protokoll, dass die EKG-Funktion auch auf Märkten ausserhalb der USA ausgerollt werden solle. Es heisst, ein Zeitrahmen sei noch nicht absehbar.
Schwerer wird es für Startups und kleinere Medtech-Firmen mit begrenzten finanziellen Ressourcen. Zahlreiche Branchenverbände in der Schweiz und in Europa fordern, die Umsetzung der MDR für diese machbar zu halten. Ein weiteres Damoklesschwert zittert über den Medtech-Herstellern in der Schweiz: Nach Staatsverträgen gilt der freie Handel über die Ländergrenzen für Medizinprodukte, die in der EU, den Efta-Staaten oder der Schweiz zertifiziert wurden. Scheitern die bilateralen Verträge, wäre es damit vorbei. Für Daniel Taddeo ein Schreckensbild. Er sagt: «Das wäre fatal.»
Smartphones eröffnen Pharmafirmen neue Therapieformen. Roche-Digitalexperte Mike Baker sagt, wo er mit Herstellern kooperieren will.
Welche Rolle spielen Tech-Firmen im Healthtech?
Mike Baker*: Apple und Samsung haben wunderbare Arbeit geleistet, indem sie Smartphones mit vielen Sensoren entwickelt haben. Die grösste Herausforderung besteht darin, zu verstehen, wie sich die von diesen Geräten gesammelten Daten auf Krankheiten beziehen. Wir stehen erst am Anfang davon, zu lernen, wie man diese Technologie sinnvoll im Gesundheitsbereich einsetzen kann. Doch das Feld entwickelt sich schnell.
Was ist die wichtigste Entwicklung?
Das Verständnis dafür, wie man die erzeugten Daten verwendet. Wenn Menschen an Gesundheits-Apps denken, meinen sie Dinge wie Schrittzähler. Aber die Zahl der Schritte ist eigentlich nicht sehr informativ. Darin liegen aber Informationen verborgen, die uns über die Gesundheit des Einzelnen informieren – das kann die Schrittlänge, die Drehgeschwindigkeit beim Gehen oder eine Asymmetrie in der Bewegung sein. Wir werden immer besser darin, diese Hinweise zu verstehen und ihren Zusammenhang mit verschiedenen Krankheiten zu erkennen.
Für welche Krankheiten bietet Healthtech neue Möglichkeiten?
Besonders wichtig ist sie bei neurologischen Erkrankungen. Traditionelle Biomarker – zum Beispiel Gewebeproben – gibt es für viele Leiden nicht. Es ist vielleicht der einzige Weg, mehr über sie zu lernen, indem Geräte die Symptome verfolgen können. Ich denke, das ist sehr aufregend. Diese Ansätze werden für Roche bei der Entwicklung neuer Medikamente und bei der Behandlung ihrer Patienten von Bedeutung sein.
Wie nutzt Roche diese neuen Ansätze?
Wir haben eine Reihe von Programmen in der Entwicklung, ein Beispiel ist Floodlight für Multiple Sklerose. MS wirkt auf das zentrale Nervensystem, ist chronisch, unheilbar und eine der häufigsten Ursachen für Behinderungen bei jungen Erwachsenen. Wir haben eine Reihe von smartphonebasierten Tests entwickelt, die Kognition, Handmotorik und Mobilität erfassen. Ärztinnen und Ärzte haben nicht immer die Mittel oder die Zeit, den Patienten konstant zu untersuchen, dadurch kann ein Grossteil der Krankheit unbemerkt bleiben. Derzeit sind wir hier im Versuchsstadium, aber eines Tages wird ein Arzt dadurch über kontinuierliche und damit genauere Daten verfügen und kann entsprechend handeln. So wird sich das Leben der Menschen hoffentlich verbessern.
Apple und andere Technologieunternehmen bewegen sich in Richtung Gesundheitstechnologie. Sind sie der Verantwortung gewachsen?
In den USA scheint die Zulassungsbehörde FDA zu versuchen, mehr Experimente mit der Apple Watch zu ermöglichen, eben indem kürzlich die Überwachung des Herzschlags mit EKG zugelassen wurde. Bei Roche ist es wichtig, dass unsere Wissenschaft den höchsten Standards entspricht, das gilt genauso für unsere digitalen Anwendungen. Ich denke, Experimente in Technologieunternehmen sind gut, sie bringen Fortschritte. Sie bringen Ideen mit, das ist positiv. Aber ich denke, es braucht noch mehr, um die Technologie in der Medizin sinnvoll anzuwenden. An diesem Punkt können wir mit ihnen zusammenarbeiten. Die Idee, Apples oder Samsungs Geräte und Anwendungen für unsere Anwendungen zu nutzen: Das ist es, was wir wollen.
Arbeiten Sie mit Apple oder Samsung zusammen?
Wir glauben nicht, dass wir alles alleine schaffen können. Wir arbeiten mit Technologieanbietern zusammen, nutzen Smartphones und Wearables zur Datenerfassung und arbeiten mit akademischen Forschungszentren zusammen. Es ist auch wichtig, dass wir, wenn wir Patientinnen und Patienten erreichen wollen, dorthin gehen müssen, wo sie sind – also auf die entsprechenden Devices.