Manchmal hilft es schon, etwas weniger aufzufallen. Tiefzustapeln. In den Tarnkappen-Modus zu wechseln, um aus dem Blickfeld zu verschwinden. Satya Nadella ist ein Meister dieser Strategie. Der 50-jährige Microsoft-Chef ist in Indiengeboren und aufgewachsen, bescheiden, ruhig. Seit vier Jahren führt er nun den Konzern aus Redmond im US-Bundesstaat Washington.
Würde man ihn neben seinen Vorgänger Steve Ballmer stellen, wäre Nadella schlichtweg nicht anwesend. So sehr unterscheidet er sich von ihm. Ballmer stampfte mit verschwitztem Hemd vor Entwicklern über die Bühne und brüllte dabei laut. Einmal sind ihm beim «Windows»-Brüllen sogar die Stimmbänder gerissen. Er musste operiert werden. Nadella tritt auch vor Programmierern auf, aber im Vergleich zum stämmigen Ballmer schleicht er über die Bühne.
All dies verleitet dazu, Nadella zu unterschätzen. Doch das wäre ein Fehler. Der Manager hat Microsoft in Windeseile auf den Kopf gestellt – und dabei kaum Geräusche gemacht. Beobachter hatten vor wenigen Jahren dem Konzern nicht mehr viel zugetraut. Das Geschäft mit dem Windows-Betriebssystem, mit dem der Gründer Bill Gates den Konzern zu einem Software-Giganten aufbaute, schrumpfte gemeinsam mit dem PC-Markt, weil immer mehr Menschen ihre Arbeiten auf Smartphones und Tablets erledigen.
Zukäufe wie die Handy-Sparte von Nokia waren erfolglos. Microsoft, so der Eindruck, hatte die wichtigsten Trends der Technologiewelt verschlafen. Sogar auf das Internet war der Konzern erst spät aufmerksam geworden. Danach schaffte Microsoft auch den Sprung auf das Smartphone nicht. Der Pionier des Computerzeitalters wurde zuletzt schlichtweg nicht mehr ernst genommen.
Zurück in der Top-Liga
Doch das war ein Fehler. Denn Microsoft spielt heute wieder in der Top-Liga. Binnen Jahresfrist ist die Aktie um fast 40 Prozent nach oben geschnellt. In der vergangenen Woche hat Microsoft kurzzeitig sogar die Google-Mutter Alphabet im Börsenwert überholt. Nadellahat Microsoft zum derzeit viertwertvollsten börsennotierten Unternehmen nach Apple, Amazon und Alphabet gemacht, vor kurzem hatte Microsoft sogar zeitweise die Google-Mutter überholt.
Und nicht nur das: Während Apple und Amazon gegen das Image des Steuerhinterziehers kämpfen, Facebook mit einem Datenschutz-Skandal und Google mit dem Vorwurf, sein Suchmaschinen-Monopol auszunutzen, gehört Microsoft plötzlich zu den Guten.
Wie konnte das geschehen? Ausgerechnet Microsoft, ein Software-Gigant, der einst mit seiner Windows-Walze jede Konkurrenz zu erdrücken drohte. Der den ganzen Markt der Personalcomputer dominierte und zugleich seine Macht ohne Erbarmen ausspielte, bis ihn die Europäische Kommission zur Rechenschaft zog.
Jener Konzern, dessen früherer Chef Ballmerdas Open-Source-Betriebssystem Linux, mit dem Computernutzer ihre Geräte auch ohne Windows betreiben konnten, ein «Krebsgeschwür» nannte. Das Unternehmen, für das kostenlos zur Verfügung gestellter Programmcode, der von jedem genutzt und verändert werden konnte, grundsätzlich «unamerikanisch» war.
«Wir lieben Open-Source»
Von all dem verkörpert Nadella nichts mehr. Im Gegenteil. Am vergangenen Montag wählte der Microsoft-Chef Worte, die sich nicht deutlicher von der Microsoft-Vergangenheit distanzieren konnten. «Wir lieben Open-Source-Entwickler», sagte Nadella, um zu begründen, warum er gerade für mehr als sieben Milliarden Dollar das wichtigste Open-Source-Portal Github übernimmt.
Damit ist Microsoft zum mächtigsten Unterstützer der Bewegung geworden, die es einst verteufelte. Auf dem Portal kann jeder Software einstellen, nutzen, verändern. Wer noch bezweifelte, dass sich Microsoft gewandelt hat, dürfte nun endgültig verstummen.
Nadella hat den gesamten Konzern auf den Kopf gestellt und umgebaut. Seitdem er Chef ist, hat Microsoft mehr als 50 Übernahmen abgewickelt. Aus dem Unternehmen, das einst seine Software in Kartonverpackungen verkaufte, ist SOMIT ein digitaler Dienstleister geworden.
Offen für Allianzen
Windows, die Seele des Konzerns, ist nur noch ein Vehikel. Die neueste Version 10 wurde millionenfach an Computernutzer verschenkt. Wie grundlegend die Einschnitte sind, geht auch aus einem Buch hervor, das Nadella über sich selbst verfasste. Der Titel: «Hit Refresh: Wie Microsoft sich neu erfunden hat und die Zukunft verändert».
Darin beschreibt Nadella auch die Schockwirkung seines Auftritts auf der Konferenz des Konkurrenten Salesforce, wo er 2015 die Microsoft-Software ausgerechnet auf einem iPhonevorführte. Damit war klar, was Nadella plante. Microsoft sollte sich für Allianzen öffnen, seine Programme auch auf Konkurrenz-Geräten von Apple und Google anbieten. Nadella brach damit ein Tabu, hatte im Grunde aber nur die Realität anerkannt. Sein Vorgänger war zu dieser Leistung nicht in der Lage gewesen.
Dass Microsofts Rechnung nun aufgeht, verdankt der Konzern seiner kompromisslosen Ausrichtung auf Cloud Computing. Seit vielen Jahren spricht die Technologie-Branche davon, Speicherplatz, Rechenleistung und Software in der Cloud zur Verfügung zu stellen, damit Unternehmen sie über das Internet abrufen. Sie zahlen dabei nur die Leistung, die sie nutzen. Der Vorteil: Sie müssen sich nicht kostspielige Server anschaffen und sie in eigenen Rechenzentren betreiben. Wer frühzeitig in diesen Trend investiert hat, profitiert nun davon. Denn immer mehr Unternehmen geben ihre Zurückhaltung auf und verlagern ihr Geschäft in die Cloud.
Zweikampf mit Amazon
Microsoft hat hier Milliardensummen investiert. Schon die Auswahl Nadellas für die Position des Konzernchefs zeigte, wohin die Reise gehen sollte: Nadella hatte zuvor schon Microsofts Cloud-Geschäft geleitet. Noch hat es das Unternehmen trotzdem nicht an die Spitze geschafft. Konkurrent Amazon war deutlich früher in das Geschäft eingestiegen und hält derzeit einen Marktanteil von etwa einem Drittel – während Microsoft nicht einmal auf die Hälfte davon kommt. Immerhin aber ist man damit der zweitgrösste Cloud-Anbieter überhaupt, Rivalen wie Google, IBM, Oracle, Salesforce, Cisco und Adobe folgen erst mit grossem Abstand dahinter.
Weil der Markt rasant wächst, macht sich Goldgräberstimmung breit. Microsoft konnte zuletzt das Geschäft mit seiner Cloud-Plattform Azure binnen Jahresfrist fast verdoppeln. Zwar machen diese Geschäfte vorerst nur ein Fünftel des gesamten Umsatzes aus, aber sie stehen für derzeit mehr als 60 Prozent des Wachstums. Für den Gesamtkonzern erwarten Analysten für die nächsten Jahre ein Gewinn- und Umsatzwachstum von mehr als zehn Prozent.
Mit diesen Aussichten steigt Nadella nun in das Rennen um den ersten Konzern ein, der an der Börse den Wert von einer Billion Dollar übersteigt. Bislang führt Apple diesen Wettlauf an. Doch der Analyst Keith Weiss von der US-Investmentbank Morgan Stanley traut auch Microsoft diesen Sprung zu. Zuletzt hatte der Konzern seine Cloud-Computing-Ziele übererfüllt. Und Nadella hat noch weitergehende Pläne. «Vor uns liegt die Ära der intelligenten Cloud», sagt der Microsoft-Chef und treibt seine Mitarbeiter an, die künstliche Intelligenz dafür zu entwickeln, um sie anschliessend den Entwicklern in der Cloud zur Verfügung zu stellen.
Der Masterplan von Nadella
Bei der jüngsten Umstrukturierung hat Nadella das Geschäft mit der Cloud und die künstliche Intelligenz in einem gemeinsamen Unternehmensteil gebündelt, von dem er sich besonders viel Wachstum verspricht. Der zweite Unternehmensteil umfasst Geräte und Nutzererlebnis. «Wir können nicht zulassen, dass organisatorische Grenzen Innovationen für unsere Kunden behindern. Deshalb ist eine Kultur des Wachstumsdenkens wichtig», sagte Nadella zur Begründung für den Umbau.
Damit dürfte die Gerätesparte von Microsoft weniger Gewicht bekommen. Zwar loben Kritiker beispielsweise die Surface-Computer des Konzerns. Doch Microsofts Stärke ist das nicht. Und am Sprung über die Eine-Billion-Dollar-Hürde werden sie nur wenig Anteil haben.
Nadella verfolgt einen Masterplan. «Die digitale Technologie ist überall eingebettet: Jede Sache, jeder Mensch, jeder Lebensbereich wird grundlegend von der digitalen Technologie geprägt. Sie geschieht in unseren Häusern, in unserer Arbeit, an unseren Orten der Unterhaltung», sagt er. Man müsse sich die Welt als einen einzigen Computer vorstellen. Auf diesem will Microsoft wieder einen wesentlichen Anteil haben. So wie früher.
Dieser Text erschien zuerst bei unserer Schwesterpublikation «Die Welt» unter dem Titel «Der neue Masterplan bringt Microsoft wieder in Apples Nähe».