«Die härteste Berufszeit meines
Lebens»: Kuno Sommer
über sein Comeback bei Berna.


Warum den Aufzug nehmen, wenn es zu Fuss schneller geht? Kuno Sommer nimmt zwei Stufen auf einmal, sprintet durch die Gänge, die das muffige Verwaltungsgebäude mit der modernen Produktionsanlage verbinden, zieht im Eilschritt an der Kantine vorbei – hier dürfen seit seinem Amtsantritt Akademiker und Nichtakademiker wieder gemeinsam spei- sen –, verweist da auf einen frischen Wandanstrich und dort auf neues USM-Haller-Mobiliar, und die Toiletten, diese alten Toiletten, die kämen jetzt noch alle dran, denn um Leistung zu erbringen, müssten sich die Leute rundum wohl fühlen. Vieles habe er in den drei Jahren bewegt, in denen er Berna Biotech vorstehe, aber es sei immer noch zu wenig.

Drei Jahre, Herr Sommer? Der Mann ist noch nicht einmal zweieinhalb Jahre Chef der Berna Biotech. Aber diejenigen, die ihn kennen, wissen bereits: Kuno Sommer hat seine ganz eigene Zeitrechnung.

Die meisten Manager auferlegen sich eine Schonfrist von hundert Tagen, ehe sie ins Rampenlicht treten. Kuno Sommer empfing die Medien erstmals einen Monat nach seinem ersten Arbeitstag im März 2000. Verwaltungsratspräsident Peter Giger hatte ihn auserwählt, das in den Fünfzigerjahren stehen gebliebene Schweizerische Serum- und Impfinstitut, damals über Bern hinaus als «Sumpfinstitut» verhöhnt, in ein neues Zeitalter zu befördern. Das Wundermittel hiess Biotech, der Chefapotheker Kuno Sommer.

Seither steht der 46-Jährige unter Hochdruck. Er ist kribbelig, kann kaum still sitzen, wippt mit den Füssen, rudert mit den Armen, rotiert mit zwei Fingern einen Kugelschreiber, spricht ohne Punkt und Komma, denn: Je schneller er den Beweis erbringen kann, dass er sich als Pharmamanager bewährt hat, desto schneller wird er wieder seine innere Ruhe finden.

Vielleicht etwas von der Ruhe, die er erfahren hat, als er eingesperrt war, richtig hinter Gittern, in West Virginia, im Sommer 1999. Vier Monate lebte er praktisch ohne Kontakt nach aussen, schlief in einem Saal mit hundert anderen Häftlingen – immerhin auf der oberen Pritsche des Kajütenbetts –, und wenn er nicht schlief, las er Bücher oder dachte über sich nach. Derart gefangen, erlebte er seine persönliche Katharsis, da «kehrte sich die Optik mit einem Mal von aussen nach innen, da wurde ich ganz ich selbst».

Lärmig und kindisch ist die Stimmung gewesen, sehr gewöhnungsbedürftig für einen Whitecollar unter all den Bluecollars, der bis dahin sämtliche Annehmlichkeiten eines erfolgreichen Managers genossen hatte: Als Mitglied der Konzernleitung von Roche flog Sommer erste Klasse, logierte in Luxushotels und genoss die Dienste eines Chauffeurs. Gefördert vom damaligen Roche-Chef Fritz Gerber, der früh auf den eifrigen Betriebsökonomen aufmerksam geworden war, fand er 1995 mit 40 Jahren als jüngstes Mitglied Aufnahme in der Konzernleitung. Dabei, so stellte sich im Frühling 1999 heraus, hatte Sommer beim Basler Multi eine kriminelle Energie entwickelt, die den Konzern in seinen Grundfesten erschütterte: Als Marketingleiter des Geschäftsbereichs Vitamine und Feinchemikalien war Sommer einer der Drahtzieher einer weltweiten illegalen Verschwörung im Vitaminmarkt. Die Kartellabsprachen hatten zwar schon unter Sommers Vorgänger begonnen, doch er trieb sie auf die Spitze. Wegen der Mischeleien, die Roche am Ende Milliarden an Strafzahlungen kosteten, wurde Sommer von der US-Justiz zusammen mit seinen früheren Chefs zu Gefängnis und Busse verurteilt und bei Roche fristlos entlassen.

Die Haftstrafe bezeichnet er im Nachhinein als «Lebensentwicklungschance». Zwar blitzte der Gedanke, ganz aus dem Geschäftsleben auszusteigen, zuweilen auf. Doch schliesslich manifestierten sich Existenzängste und der Drang, sich selbst zu beweisen, dass er als Manager bestehen kann. Kaum hatte er den Fuss auf Schweizer Boden gesetzt, war es wieder da, «das grosse Reissen», wie Sommer seine Geschäftigkeit nennt, die er im leistungsorientierten Elternhaus in Solothurn mitbekommen hatte: Für gute Noten gab es Freiräume.

Klar, dass kein etablierter Pharmakonzern darauf gewartet hat, einen Vorbestraften einzustellen, und mit einer unteren Charge gibt sich einer wie Sommer nicht zufrieden. Seine Chance sah er, als ihn die Headhunter von Amrop Ende 1999 mit Berna-Verwaltungsratspräsident Peter Giger bekannt machten. Der Berner Unternehmer alter Schule fand, es brauche den Vorwärtsdrang eines Kuno Sommer, um Berna zu reanimieren. Er war einer von wenigen, die Sommer nicht stigmatisierten, und bezeichnete diesen von Anfang an als «Glücksfall» für Berna. Sommer wiederum braucht einen Menschen wie Giger, der ihm auf die Finger schaut. «Ich neige hie und da zur Voreiligkeit», bekennt er, «und brauche einen Sparringpartner, der mich überwacht und manchmal sogar bremst.»

Starke Bremsmanöver sind freilich nicht zu vernehmen an der Rehhagstrasse in Bern, im Gegenteil. Getreu seinem Naturell schmiedet Sommer Forschungsallianzen, verkauft Nebengeschäfte, bringt Berna-Aktien an die Börse, lässt zwei neue Hightech-Produktionsstätten bauen, kappt Hierarchien, baut das Management um. Sein Ehrgeiz sei noch immer stärker als seine Vernunft, kommentiert ein ehemaliger Arbeitskollege Sommers Wirken in Bern lakonisch. Tatsächlich entsteht der Eindruck, Sommer wolle sich als Grosspharmamanager profilieren, wo es doch denkbar wäre, Berna Biotech als eigenständigen, kleinen, aber soliden Nischenanbieter zu positionieren.

Doch Sommer argumentiert, wie er das bei Big Pharma gelernt hat, mit der «kritischen Grösse», also einem bestimmten Umsatzvolumen, das ein Pharmaunternehmen brauche, um die teure Forschung und Entwicklung zu finanzieren. Für Berna veranschlagt er es auf eine halbe Milliarde Franken – und gibt dabei auch zu, er brauche persönlich ein Betätigungsfeld von einer gewissen Grösse, um sich ausleben zu können: «In einem kleinen Unternehmen muss ein Chef fast zwangsläufig Wissenschaftler sein, um die Firma zu verstehen. Ich aber bin Ökonom, verstehe die Materie nur oberflächlich, habe aber ein Vertrauensverhältnis zu unseren Wissenschaftlern und traue mir zu, sie zu unterstützen, weil ich Erfahrung habe, wie man ein Unternehmen führt.»

Um sich seinen Grössenvorstellungen anzunähern, holte Sommer unlängst zu einem Coup aus. Für umgerechnet 400 Millionen Franken will er die deutsche Rhein Biotech übernehmen, einen grossen Brocken. Berna erzielte 2001 einen Umsatz von 304 Millionen Franken, Rhein Biotech machte 140 Millionen Franken.

Sommer und sein PR-Stratege Victor Schmid, Partner bei Hirzel, Neef, Schmid, fanden klingende Termini für das vereinte Unternehmen, dem Sommer vorstehen wird: Aus dem «Merger mit Respekt», hiess es da, entstehe ein «Kraftpaket für Innovation in Impfstoffen», eine Paarung wie «Rolex und Swatch». Die beiden Unternehmen, attestieren Branchenkenner, ergänzten sich in der Tat gut: Während die Berna in Europa – Schweiz, Spanien und Italien – eine starke Stellung hat, ist die Rhein Biotech vor allem in den Entwicklungsländern vertreten. Berna verkauft hauptsächlich an private Kunden wie Ärzte oder Unternehmen, Rhein Biotech an öffentliche Abnehmer wie die Weltgesundheitsorganisation oder die Unesco. Berna produziert tiefere Volumen, etwa Grippe- oder Reiseimpfstoffe, mit höheren Margen, Rhein Biotech fertigt Massenimpfstoffe wie gegen Hepatitis B zu tieferen Preisen. Die Produktepaletten sind komplementär, erhöhen aber bei den einzelnen Indikationen das Volumen und damit den Marktanteil nicht.

Die Übernahme löst auch Bernas Hauptdefizit, die Untervertretung in wichtigen Märkten, in keiner Art und Weise. Korea, wo Rhein Biotech Marktführer ist, wird zwar als Schlüsselmarkt Asiens bezeichnet, matchentscheidend ist Korea aber sicher nicht. Das grosse Geschäft spielt sich in Deutschland oder den USA ab, aber da fehlt Berna auch mit Rhein Biotech der starke Marktauftritt.

Angesichts der blinden Flecken auf der Landkarte ist nicht vollends klar, wie Sommer die angekündigten horrenden Zuwachsraten erreichen will. Bis in fünf Jahren strebt er ein massiv überdurchschnittliches jährliches Wachstum von 20 bis 25 Prozent an, womit 2005 ein Umsatz von 450 Millionen Franken erreicht würde (ohne Rhein Biotech). Dann, so Sommer, würde Berna zum grössten reinen Impfstoffhersteller der Welt avancieren. Treiber des Wachstums soll nicht nur die Akquisition sein, sondern sieben neue Impfstoffe, die in den nächsten drei Jahren auf den Markt kommen sollen: Vor allem von einer neuen Generation Masern-Mumps-Röteln- und der dritten Generation Hepatitis-B-Impfstoffen verspricht er sich viel. Langfristig sollen neuartige Impfstoffe gegen Hautkrebs, Malaria, Hepatitis C oder Alzheimer Schub bringen.

Was gut klingt, birgt erhebliche Risiken: Neue Impfstoffformeln, Darreichungsformen oder Dosierungen halten oft nicht das, was man sich von ihnen verspricht.

Dass Sommer zuweilen den Sechser im Lotto ausgibt, bevor er ihn gewonnen hat, zeigte Nasalflu. Für die erste Grippeimpfung, die inhaliert wird, veranschlagte er ein Umsatzpotenzial von über einer Milliarde Franken. Mit Getöse wurde der Spray im Herbst 2000 eingeführt, kleinlaut im vergangenen Juni zurückgezogen. Nasalflu, stellte sich bei eingehender klinischer Prüfung heraus, könnte bei Patienten zu vorübergehenden Gesichtslähmungen führen. Offenbar war die Zulassung mit höchster Dringlichkeit, aber auf Kosten der Sorgfalt vorangetrieben worden.

Der noch Anfang der Neunzigerjahre verbreitete Glaube, dass Biotechnologie ein rasch verfügbares Wundermittel gegen Krankheiten darstellt, ist verschwunden. Misserfolge in der Entwicklung neuer Produkte haben entscheidend zur miserablen Performance von Biotechunternehmen an der Börse beigetragen. Der Flop mit Nasalflu riss auch die Berna-Aktie in die Tiefe.

Statt von neuen profitiert Sommer nun von alten Präparaten. Anfang der Achtzigerjahre stellte das damalige Schweizerische Serum- und Impfinstitut die Produktion von Pocken-Impfstoff ein, nachdem die Weltgesundheitsorganisation die Seuche für ausgerottet erklärt hatte. Die letzten Chargen wurden freilich nicht vernichtet, sondern tiefgefroren. Als Regierungen nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in grossem Stil Pockenvakzine orderten, musste Berna – Glück im Unglück – bloss die Lagerbestände abrufen. Satte 150 Millionen Franken spülten die Aufträge vergangenes Jahr in die Kassen. Da keine Produktionskosten mehr anfielen, schlug das Geschäft voll auf den Gewinn. Auch dieses Jahr sollen 20 Millionen Franken mit Pockenimpfstoffen umgesetzt werden – ein Zusatzbatzen, dank dem Sommer die Forschung und Entwicklung «voll ausfahren» will.

Klar, dass sich einige altgediente Berna-Mitarbeiter von Sommers Tempo überfordert fühlen, doch die meisten lassen sich von seinem Hochleistungsoptimismus anstecken und tragen seine Wachstumsstrategie mit. Etwa die Hälfte der Belegschaft stammt noch aus der Zeit vor Sommer, das Management hat er völlig neu besetzt, unter anderem mit ehemaligen Roche-Gefährten wie Beat Ritschard, Marketingleiter, oder Marianne Bernet, Leiterin Berna Schweiz. Die fähigsten Leute seien nicht unbedingt in einem Grosskonzern anzutreffen, meint er mit einem Seitenblick nach Basel, dort ziehe es einen wie in einem Vakuum automatisch nach oben, wenn man einmal etabliert und vernetzt sei.

Um sich wieder zu etablieren, gibt der Ex-Häftling alles: «Ich wusste, es würde die härteste Berufszeit meines Lebens.» Wenn er vorauseilt, spricht er von «Überdynamik» und davon, dass er schon mal an seine Kapazitätsgrenzen stosse. Die Momente des Sinnierens, wie damals im Gefängnis, sind rar geworden. Denn sein Ehrgeiz bewirkt, dass sich «das grosse Reissen» bei Kuno Sommer garantiert immer wieder einstellt.
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