Das Schweizer Gesundheitssystem wird mehrheitlich über Pauschalprämien von den Versicherten direkt finanziert. Dieses Modell ist im internationalen Vergleich ein Unikat, denn in sämtlichen 15 alten EU-Ländern werden die medizinischen Leistungen über die Steuern (Beveridge-Modell) oder über Lohnabzüge bzw. Arbeitgeberbeiträge (Bismarck-Modell) bezahlt. In einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation WHO erntete das Schweizer Modell vor einigen Jahren schlechte Noten. Kritisiert wurden die ohne Rücksicht auf Einkommensunterschiede für alle Versicherten einer Kasse gleich hohen Prämien. Die WHO hat damals aber noch nicht berücksichtigen können, dass dieser Mangel inzwischen durch die steuerfinanzierten Prämienverbilligungen kompensiert wird. Davon profitieren heute rund 30% der Haushalte mit schwächeren Einkommen.
Die Unzufriedenheit ist gross
Die besten Noten erntete pikanterweise Frankreich; ein Land, das sich in den letzten Jahren mit dramatisch sinkender Qualität, ungebremsten Kosten und enormen Defiziten konfrontiert sieht. Unser westlicher Nachbar gehört – wie Deutschland und die Niederlande – zu den Staaten mit einem beitragsbasierten Finanzierungsmodell. Wegen der hohen Lohnnebenkosten ist das Beitragsmodell bei den Arbeitgebern besonders unter Druck geraten.
Die Unzufriedenheit mit dem Gesundheitssystem wächst aber auch in den Ländern mit einer Finanzierung über die Steuern. Paradebeispiel ist England, wo die Politiker, um die Kostenexplosion einzudämmen, in den letzten Jahren am Leistungsangebot laufend geschnipselt haben. Mangelhafte Infrastrukturen, lange Wartelisten und eine chronische Unterversorgung sind die Folgen.
«Generell führt der Globalisierungsdruck aber dazu, dass sich die Gesundheitssysteme einander immer mehr annähern», erklärt Jürgen Herdt, Mitverfasser einer Studie der Hessen Agentur (HA). Diese untersuchte die Gesundheitssysteme von 15 westeuropäischen Ländern. Die Stichworte der Reformpolitiker in den meisten Staaten heissen mehr Wettbewerb, aber auch mehr Planung und Steuerung – oder alles zusammen.
Und alle basteln an neuen Abrechnungs- und Finanzierungsmodellen herum. «Eine ähnliche Rhetorik dominiert die Diskussionen rund um die Reformen in den verschiedenen Ländern», so Herdt. Begriffe wie HMO, Managed Care, Hausarzt-Modell, Fallpauschale oder DRG gehören inzwischen überall zum festen Vokabular.
Das von der WHO schlecht benotete Schweizer Modell rückt dabei aus verschiedenen Gründen in den Mittelpunkt. Es gilt bezüglich Angebot und Qualität als Spitze. «Mit der Aufnahmepflicht durch das Versicherungsobligatorium und gleichen Zugangsbedingungen für alle Bevölkerungsgruppen in Verbindung mit einem sozialen Ausgleich durch die Prämienverbilligung bei unbestritten hohem medizinischen Standard sind im Schweizer Gesundheitssystem vorbildliche Wege beschritten worden, die umso interessanter geworden sind, weil heute letztlich alle ausgereiften Gesundheitssysteme mit hohen Ausgaben zu kämpfen haben», lobt Herdt. Zudem dürfte das Schweizer Modell zu den effizientesten Gesundheitssystemen überhaupt gehören. Zwar ist es – gemessen an den Gesundheitsausgaben im Verhältnis zum BIP – hinter den USA das zweitteuerste System. Aber die Abstände zu den anderen EU-Ländern sind gering: Die Schweiz gibt für die Gesundheit 11,6% des BIP aus, doch Frankreich (11,1%) und Deutschland (10,7%) liegen fast gleichauf. Selbst die als günstiger geltenden Staaten mit Beveridge-Modell wenden dafür 8 bis 9% des BIP auf; dies bei allerdings deutlich geringerer Qualität.
Schweiz als Vorbild für Deutsche
Der Gesundheitsökonom Reinhard Busse, Institutsleiter für Management im Gesundheitswesen an der Technischen Universität Berlin, stellt fest, dass heute immer öfter aufs Schweizer Gesundheitssystem geschielt wird, besonders in den beitragsfinanzierten Ländern. Deren Modell ist wegen der demografischen Entwicklung am stärksten unter Veränderungsdruck geraten. Es steht wegen der Bevölkerungsüberalterung vor ähnlichen Problemen wie die AHV in der Schweiz.
Deshalb überrascht es nicht, dass neulich der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft ein Modell einer Einheitsversicherung für Deutschland zur Diskussion stellte, das sich stark ans Schweizer System anlehnt. Busse ist allerdings skeptisch bezüglich der Verwirklichungschancen. «Eine Systemumstellung auf das Schweizer Pauschalprämienmodell wird im europäischen Kontext zumeist nur zur Finanzierung von Teilbereichen erfolgen. Ein gänzlicher Systemwechsel ist aus politischen Gründen in den meisten Ländern eher unwahrscheinlich», glaubt er.
Enormes Potenzial für Bewegung
Das Schweizer System bleibt aber in jedem Fall interessant, weil es letztlich ein Mischsystem und folglich keinem anderen Land gänzlich unvertraut ist. Es weist über die lohnfinanzierte UV/IV auch Elemente des Bismarck-Systems auf, und es kennt über die teils mit Steuern finanzierten Spitäler Elemente des Beveridge-Modells. In der Komplexität des Schweizer Systems mit seinen föderalistisch-regionalen Unterschieden schlummert letztlich ein enormes Potenzial für Beweglichkeit und Veränderungen, ohne dass deswegen alles auf den Kopf gestellt werden muss.
Deutschland hat sich bei den verschiedenen Reformen der letzten Jahre gewisse Stärken des Schweizer Systems zum Vorbild genommen. Mitte der 90er Jahre ist die Wahlfreiheit für die Versicherten eingeführt worden. Die Krankenkassen können seither über die Höhe des Beitragssatzes und in geringem Umfang auch über das Leistungsangebot in Wettbewerb treten. Aus dem gleichen Grund haben die Spitäler in den letzten Jahren mehr Autonomie erhalten.
Mit der 2004 erhobenen Praxisgebühr von 10 Euro tat Deutschland einen Schritt in Richtung Individualisierung der Ausgaben nach dem Grundprinzip: Wer öfter Leistungen bezieht, wird stärker zur Kasse gebeten. Zudem muss, wer über einen Grundkatalog hinaus bestimmte Zusatzleistungen wie Sehhilfen oder Zahnersatz beansprucht, dies immer öfter über Zusatzversicherungen oder vergleichbare Instrumente finanzieren. Die Schweiz kennt eine ähnliche Differenzierung schon länger, und zwar über Grund-, Halbprivat- und Privatzusatzversicherungen für stationäre und ambulante Leistungen.