Wie Abraham-Louis Breguet auf die aktuelle Tourbillon-Hausse reagieren würde, kann man sich allenfalls in der Fantasie ausmalen. Vermutlich würde er sein geniales Haupt nachdenklich schütteln und die Welt nicht mehr so richtig verstehen. Man kann sie schon fast nicht mehr zählen, die Wirbelwinde fürs Handgelenk. Allein 2005 waren in Basel und Genf mehr als 50 zu sehen. Fasst man alles Bisherige zusammen, dürfte sich das Ganze wohl auf mehr als 150 Kreationen summieren. Angeboten von wahrhaft Berufenen und auch von solchen, die ganz einfach «me too!» auf ihre Fahnen geschrieben haben und vor einigen Jahren noch nicht einmal wussten, dass es so etwas wie Tourbillons überhaupt gibt. Bei der Vorstellung einer neuen Komplikation anlässlich der letztjährigen Uhrenmesse bemerkte der Repräsentant einer alteingesessenen Uhrenmanufaktur zum Schluss mit ein wenig Selbstironie: «Ein Tourbillon hat sie selbstverständlich auch noch.»
Nicht jede Marke ist legitimiert
FH-Präsident Jean-Daniel Pasche findet zu dieser Thematik ebenfalls recht klare Worte: «Wettbewerb gehört zu einer freien Wirtschaft. Man kann und darf nicht versuchen, gewissen Marken die Verwendung von Tourbillons zu verbieten. Andererseits ist nicht jede Marke marktmässig legitimiert, auf Dauer Tourbillons zu verkaufen. Aber der Markt wird schon entscheiden, wer legitimiert ist oder nicht. Es ist nicht nur eine Preisfrage. Es hängt von der Tradition, der Geschichte, der Suche nach Qualität, der Stellung auf dem Markt, der Kompetenz, selber Produkte herzustellen, und dem Image der betreffenden Marken ab. Wir glauben, dass man den Markt auf die Dauer nicht täuschen kann. Die Politik einer Marke muss auch bei der Verwendung von Spezialitäten kohärent bleiben.»
Wegwerfprodukte
Inzwischen schicken sich nämlich auch die Chinesen an, im Tourbillon-Geschehen auf ihre Weise mitzumischen. Die eidgenössische Branche sieht den diesbezüglichen Aufbruch im Reich der Mitte derzeit noch gelassen. Dazu Karl-Friedrich Scheufele von Chopard: «Seit Jahrzehnten werden günstige mechanische Werke in Japan, Russland und natürlich in China gefertigt. Dies hat der Schweizer Luxusuhrenindustrie bis jetzt nicht geschadet. Wir glauben, dass es sich mit den Tourbillons aus China ähnlich verhalten wird. Jedoch müssen die Schweizer Manufakturen weiterhin darauf bedacht sein, ihren Vorsprung in Sachen Innovation, Verarbeitungsqualität und Präzision auszubauen, bzw. wenigstens zu halten. Wenn Sie es mit der Autoindustrie vergleichen, so würde heute niemand mehr europäische Autos kaufen die japanischen können alles genauso gut und sind günstiger.»
Ähnlich denkt auch Gerd-Rüdiger Lang von Chronoswiss: «Diese Tourbillons kommen als Wegwerfprodukte auf den Markt und können so keinen Genuss darstellen oder auch keine Emotionen erzeugen. Ich persönlich würde solch ein Blechspielzeug nicht an meine Arme lassen. Es war zu erwarten, dass in dem Land, das den Transrapid nachbaut, auch ein Tourbillon entsteht nichts Ungewöhnliches! Es ist ein weiteres Indiz dafür, was man mit computergesteuerten Geräten produzieren kann, wenn die Stückzahlen stimmen. Und leider auch ein Zeichen unserer Zeit.» Stimmt, kann man da nur beipflichten. Seit zwei Jahren beschränkt sich die chinesische Uhrenindustrie nicht mehr auf einfache Automatikwerke mit allerlei simplen, teilweise völlig untauglichen Zusatzfunktionen, entwickelt und gefertigt in Shenzhen, der Stadt mit dem schnellsten Wachstum und Chinas höchstem Pro-Kopf-Einkommen, oder in einer der fünf anderen Sonderwirtschaftszonen. Drei davon befinden sich in der Provinz Kanton und zwei im Perlflussdelta.
Roboter-Produktion
In eher schmucklosen Gebäuden werkeln computergesteuerte Maschinenparks vor sich hin, die manchen Schweizer Herstellern durchaus zur Ehre gereichen würden. Betreut von emsigen Mitarbeitern, denen hiesige Arbeitszeitregelungen und Einkommensstrukturen so fremd sind wie einem Zulu der Tangotanz. In regelmässigen Abständen verlassen die ölspeienden Fertigungszentren winzige Teile, mit denen Uneingeweihte herzlich wenig anfangen können. Bei genauerer Betrachtung und mit ein wenig Sachkenntnis entpuppen sie sich als Platinen eines mechanischen Uhrwerks oder Komponenten eines Tourbillon-Drehgestells. Grundsätzlich steht die Präzision hinter der jurassischen kaum zurück, denn richtig programmiert, eingestellt und gewartet, ist es den Robotern ziemlich egal, wo sie ihren Job erledigen.
Im Fokus einer Uhrmacherlupe wird dem Kundigen aber auch schnell klar, dass die Bauweise des mechanischen Wirbelwinds «Made in China» beileibe keine eigenständige ist. Die «Fliegende Lagerung» des Drehgestells sowie die dezentrale Anordnung von Unruh und Unruhspirale wurden von Blancpain abgekupfert. Mit Bedacht, denn diese Konstruktion gestattet die Verwendung eines klassischen Ankers. Der Rest ist schnell erzählt: Aus dem Teile-Ensemble fügen angelernte Kräfte behände jenen mit drei Hertz tickenden Mikrokosmos zusammen, welchen sie in einem speziellen Handaufzugswerk mit rund 40 Stunden Gangautonomie rotieren lassen. Die fertigen Objekte sind in China schon für deutlich unter 500 Fr. wohlfeil und bedürfen zum vollendeten Glück nur noch der äusseren Zugaben wie Zifferblatt, Zeiger, Gehäuse und Armband. Selbige lassen sich beispielsweise am Nachtmarkt in Schanghai nach dem Baukastenprinzip und dem individuellen Gusto erwerben. Eine gute Stunde später ist das Armband-Tourbillon mit Fantasienamen auf dem Zifferblatt fertig. Wer eine Schweizer Edel-Signatur bevorzugt, wird ebenfalls wunschgemäss bedient. Aber nur in China, wo es um den Schutz der Markenrechte und des geistigen Eigentums weiterhin nicht sonderlich gut bestellt ist.
Tiefstpreise
Die lange Reise in den Fernen Osten können sich Tourbillon-Freaks mit schmalem Budget mittlerweile aber sparen. Beim Internet-Auktionator eBay müssen sie gar nicht lange suchen. Ars et Tempus möchte Uhrenliebhaber für seine Philosophie «der feinen Lebensart» begeistern. Ausdruck dessen soll «Galileo 1583, ein absolutes Sammlerstück, echtes 1-Minuten-Tourbillon in zweischichtiger Vergoldung, Saphirglas und mit einer weltweiten Auflage von nur zehn Exemplaren» sein. «Dieses Modell vertreiben wir exklusiv nur hier, den normalen Verkaufspreis würden wir auf 11990 Euro festlegen, hier starten wir als Dankeschön an unsere treuen Kunden ab 1 Euro.» Doch es geht auch deutlich günstiger: «Das neueste Prunkstück aus dem Hause Trias echtes Tourbillon mit retrogradem Datum», Edelstahlgehäuse, Saphirglas, zwei Jahre Garantie und Rechnung mit ausgewiesener Mehrwertsteuer inklusive. Der Preis: 1950 Euro.
Über den potenziellen Kundenkreis lassen sich nur Mutmassungen anstellen. Die Chinesen selbst dürften mit Sicherheit nicht dazu gehören, denn sie verfügen über ein ausgeprägtes Markenbewusstsein. Bleiben Zeitgenossen, welche sich die hochwertigen Tourbillons schweizerischer Provenienz nicht leisten können, aber auf diese «Komplikation» gleichwohl nicht verzichten möchten. Diese Käufergruppe kann traditionellen Herstellern und dem etablierten Fachhandel in der Tat egal sein. Aber womöglich dräut Gefahr aus einer ganz anderen Ecke: Imageheischende europäische Marken mit unstillbarem Tourbillon-Drang, welche ihren klangvollen Namen mit chinesischer Technik paaren könnten. Das wären dann jene Wichtigtuer, die niemals etwas Wichtiges tun und ohne eigenes Licht glänzen möchten. Davor bewahre uns der Himmel.